Das dritte Gesicht Sidney Sheldon Ashley Patterson fühlt sich seit einiger Zeit beobachtet, verfolgt und bedroht. Die junge Angestellte einer Computerfirma gilt zwar als kühl und unnahbar, doch Feinde hat sie sich niemals gemacht. Als sie schließlich die handgeschriebene Drohung »Du wirst sterben!« auf ihrem Badezimmerspiegel entdeckt, weiß sie, daß ihr Instinkt sie nicht trügt: Sie schwebt in Lebensgefahr. Kurz darauf wird eine Reihe brutaler Morde an männlichen Opfern begangen, und Ashley gerät unter dringenden Tatverdacht. Denn die polizeilichen Ermittlungen ergeben, daß sie in allen Fällen zuletzt mit den Opfern gesehen wurde, und man nimmt an, daß sie die Morde in Panik begangen hat. Ashley, die fassungslos über diese Vorwürfe ist und sich das alles nicht erklären kann, wird verhaftet und aufgrund eindeutiger Indizien unter Anklage gestellt. Und erst der Starverteidiger David Singer, der von Ashleys Vater engagiert wird, bringt Licht in einen der aufsehenerregendsten Mordprozesse, die das Land je erlebt hat ... Sidney Sheldon, dessen Romane als Klassiker der Spannungsliteratur gelten, ist ein absolutes Phänomen in der internationalen Buchwelt. Er begann seine Karriere in Hollywood und am Broadway mit Drehbüchern und Theaterstücken. Erst mit fünfzig schrieb er seinen ersten Roman: »Das nackte Gesicht«. Seither sind von ihm sechzehn weitere Bücher erschienen, jedes ein Weltbestseller, jedes in zahlreiche Sprachen übersetzt und alle verfilmt. Sheldon lebt mit seiner Frau abwechselnd in Los Angeles, Palm Springs und London. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Tell Me Your Dreams« Deutsch von Hans-Peter Krafft ERSTES BUCH 1 Jemand stellte ihr nach. Sie hatte gelesen, daß es Triebtäter gab, Spanner, Schleicher, Fetischisten, wie immer man sie auch nennen mochte, die Frauen verfolgten und belästigten, aber so etwas kam doch nur in einer anderen, einer brutaleren Welt vor. Sie hatte keine Ahnung, wer es sein könnte, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihr etwas antun wollte. Sie kämpfte mit aller Macht gegen ihre Ängste an, wollte auf keinen Fall die Nerven verlieren, aber in letzter Zeit war sie von fürchterlichen Alpträumen heimgesucht worden, und jeden Morgen hatte sie beim Aufwachen das Gefühl, als drohte ihr ein schreckliches Unheil. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein, dachte Ashley Patterson. Ich arbeite zuviel. Ich brauche Urlaub. Sie wandte sich um und betrachtete sich im Schlafzimmerspiegel. Sie war Ende Zwanzig, hübsch gekleidet, schlank, hatte ein ebenmäßiges, geradezu aristokratisches Gesicht und intelligente, besorgt dreinblickende braune Augen. Das dunkle Haar fiel in sanftem Schwung auf die Schulter. Sie war elegant und attraktiv, aber auf eine eher dezente Art. Ich kann mich nicht ausstehen, dachte Ashley. Ich bin zu dünn. Ich muß mehr essen. Sie ging in die Küche und bereitete das Frühstück zu, zwang sich, nicht mehr an ihre Ängste und Beklemmungen zu denken, und konzentrierte sich darauf, daß das Omelett leicht und luftig geriet. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und schob eine Scheibe Brot in den Toaster. Zehn Minuten später war alles fertig. Ashley deckte den Tisch und setzte sich hin. Sie griff zur Gabel, starrte einen Moment lang auf das Frühstück und schüttelte dann verzweifelt den Kopf. Vor lauter Angst war ihr der Appetit vergangen. Das kann nicht so weitergehen, dachte sie ungehalten. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt, aber so was lasse ich nicht mit mir machen. Niemals. Ashley warf einen Blick auf ihre Uhr. Höchste Zeit, daß sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Sie sah sich noch einmal in der vertrauten Umgebung um, so als suchte sie Zuspruch. Ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung, die aus Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer, Bad, Küche und Gästetoilette bestand, lag im zweiten Stock eines Mietshauses am Via Camino Court. Sie wohnte seit drei Jahren in Cupertino, Kalifornien. Bis vor zwei Wochen war ihr diese Wohnung immer wie ein gemütliches Nest vorgekommen, ein Refugium. Jetzt war sie zu einer Festung geworden, einer Zuflucht, in die niemand eindringen und ihr etwas antun konnte. Ashley ging zur Wohnungstür und musterte das Schloß. Ich lasse mir ein Riegelschloß einbauen, dachte sie. Gleich morgen. Sie schaltete sämtliche Lichter aus, überzeugte sich davon, daß die Tür fest verschlossen war, und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage. Die Garage war menschenleer. Ihr Wagen stand etwa fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Sie sah sich vorsichtig um, rannte dann zu ihrem Wagen, stieg ein, verriegelte die Türen und blieb einen Moment lang sitzen, bis ihr Herz wieder ruhiger schlug. Dunkel dräuende Wolken zogen über den Himmel, als sie in Richtung Innenstadt fuhr. Laut Wetterbericht sollte es Regen geben. Aber es wird nicht regnen, dachte Ashley. Die Sonne wird wieder herauskommen. Ich schlage dir was vor, lieber Gott. Wenn es nicht regnet, bedeutet das, daß alles in Ordnung ist, daß ich mir alles nur eingebildet habe. Zehn Minuten später fuhr Ashley Patterson durch das Stadtzentrum von Cupertino. Sie war stets aufs neue beeindruckt, wenn sie sah, was aus diesem einstmals verschlafenen Winkel des Santa Clara Valley geworden war. Hier, in diesem rund achtzig Kilometer südlich von San Francisco gelegenen Tal, hatte die sogenannte Computerrevolution ihren Anfang genommen, was dem Tal den durchaus treffenden Beinamen Silicon Valley eingetragen hatte. Ashley war bei der Global Computer Graphics Corporation beschäftigt, einem erfolgreichen, rasch expandierenden, jungen Unternehmen mit zweihundert Angestellten. Als Ashley in die Silverade Street einbog, überkam sie wieder dieses beklemmende Gefühl, als wäre er hinter ihr, verfolgte sie. Aber wer? Und warum? Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Anscheinend war alles so wie immer. Doch eine innere Stimme sagte ihr etwas ganz anderes. Vor Ashley erstreckte sich das weitläufige, moderne Firmengebäude von Global Computer Graphics. Sie fuhr auf den Parkplatz, zeigte dem Wachmann ihren Ausweis und stieß auf den für sie reservierten Stellplatz. Hier fühlte sie sich sicher. Als sie aus dem Wagen stieg, fing es an zu regnen. Um neun Uhr morgens herrschte bei Global Computer Gra-phics bereits reges Treiben. In den acht nach dem Baukastenprinzip gestalteten Kabuffs saßen die Computergenies in Diensten der Firma, allesamt junge Leute, die hier Websites entwickelten, Logos für neue Unternehmen gestalteten, Graphiken für CD-Hüllen und Buchumschläge entwarfen und Bildmaterial für Illustrierte bearbeiteten. Der Betrieb war in mehrere Abteilungen untergliedert: Verwaltung, Verkauf, Marketing und Kundendienst. Der Umgangston war eher zwanglos. Die Angestellten liefen in Jeans, T-Shirts und Pullis herum. Als Ashley sich zu ihrem Arbeitsplatz begeben wollte, wurde sie von ihrem Abteilungsleiter Shane Miller angesprochen. »Morgen, Ashley.« Shane Miller war Anfang Dreißig, ein stämmiger, ernster Mann, der eine angenehme Art an sich hatte. Am Anfang hatte er versucht, Ashley ins Bett zu locken, hatte es aber schließlich aufgegeben, und im Lauf der Zeit waren sie gute Freunde geworden. Er reichte Ashley die neueste Ausgabe des Time Magazine. »Schon gesehen?« Ashley schaute auf das Cover. Dort prangte das Bild eines vornehm wirkenden, auf die Sechzig zugehenden Mannes mit silbergrauem Haar. Die Schlagzeile lautete: Dr. Steven Patterson, Vater der Herz-Mikrochirurgie. »Ich hab’s schon gesehen.« »Wie fühlt man sich denn als Tochter eines berühmten Vaters?« Ashley lächelte. »Wunderbar.« »Er ist ein großartiger Mann.« »Ich werd’s ihm ausrichten. Wir sind zum Mittagessen verabredet.« »Gut. Übrigens ...« Shane Miller zeigte Ashley ein Foto von einem Filmstar, das für die Anzeige eines Kunden verwendet werden sollte. »Wir haben hier ein kleines Problem. Desiree hat etwa fünf Kilo zugelegt, und das sieht man. Schau dir die dunklen Ringe unter den Augen an. Und selbst mit Make-up wirkt die Haut unrein. Meinst du, du bekommst das hin?« Ashley betrachtete das Bild. »An die Augen kann ich mit Weichzeichner rangehen. Ich könnte versuchen, ihr Gesicht etwas schmäler zu ziehen, aber - nein. Vermutlich würde sie dadurch etwas merkwürdig aussehen.« Wieder musterte sie das Bild. »Möglicherweise muß ich’s mit Airbrush versuchen und an der einen oder anderen Stelle den Kloner einsetzen.« »Danke. Ist mit Samstag abend alles klar?« »Ja.« Shane Miller deutete mit dem Kopf auf das Foto. »Das eilt nicht. Sie wollten es schon letzten Monat haben.« Ashley lächelte. »Na, das ist ja mal ganz was Neues.« Sie machte sich an die Arbeit. Ashley war Werbegraphikerin und Expertin für Text- und Bildgestaltung per Computer. Als Ashley eine halbe Stunde später an dem Foto arbeitete, spürte sie, daß jemand sie beobachtete. Sie blickte auf. Es war Dennis Tibble. »Morgen, meine Süße.« Seine Stimme ging ihr auf die Nerven. Tibble war das Computergenie der Firma. Er wurde im ganzen Betrieb nur »Der Tüftler« genannt. Jedesmal wenn ein Computer abstürzte, wurde Tibble darauf angesetzt. Er war Anfang Dreißig, dürr und glatzköpfig, und unangenehm arrogant. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht mehr locker, und in der Firma ging das Gerücht, daß er auf Ashley fixiert sei. »Kann ich dir behilflich sein?« »Nein, danke.« »Hey, wollen wir Samstag abend irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen?« »Besten Dank. Ich habe schon was vor.« »Gehst du wieder mit dem Boß aus?« Ashley wandte sich um und schaute ihn wütend an. »Hör mal, das geht dich gar nichts .« »Ich versteh’ sowieso nicht, was du an dem findest. Das ist doch ein Streber hoch drei. Mit mir wird’s bestimmt amüsanter.« Er zwinkerte. »Weißt du, was ich meine?« Ashley versuchte sich zu beherrschen. »Ich muß wieder an die Arbeit, Dennis.« Tibble beugte sich zu ihr. »Ich will dir mal was verraten, meine Süße«, flüsterte er. »Ich gebe nicht auf. Niemals.« Sie schaute ihm nach, als er wegging. Könnte er derjenige sein? fragte sie sich. Um halb eins fuhr Ashley ihren Computer herunter und begab sich zum Margherita Di Roma, wo sie mit ihrem Vater zum Essen verabredet war. Sie saß an einem Ecktisch in dem bis auf den letzten Platz besetzten Restaurant und blickte auf, als ihr Vater auf sie zukam. Er sah gut aus, das mußte sie ihm lassen. Die Leute drehten sich um und starrten ihn an, als er zu Ashleys Tisch ging. Wie fühlt man sich denn als Tochter eines berühmten Vaters? Vor etlichen Jahren war Dr. Steven Patterson ein entscheidender Durchbruch in der Anwendung mikrochirurgischer Methoden bei Herzoperationen gelungen. Seither wurde er ständig von sämtlichen bedeutenden Universitätskliniken auf der ganzen Welt zu Vorträgen eingeladen. Ashleys Mutter war gestorben, als Ashley zwölf war, und außer ihrem Vater hatte sie keinerlei Anverwandte. »Entschuldige die Verspätung, Ashley.« Er beugte sich vor und küßte sie auf die Wange. »Ist schon gut. Ich bin gerade erst gekommen.« Er setzte sich. »Hast du das Time Magazine gesehen?« »Ja. Shane hat es mir gezeigt.« Er runzelte die Stirn. »Shane? Dein Chef?« »Er ist nicht mein Chef. Er ist - er ist einer der Abteilungsleiter.« »Beruf und Privatleben sollte man stets voneinander trennen, Ashley. Du triffst dich doch auch privat mit ihm, nicht wahr? Das ist ein Fehler.« »Vater, wir sind doch bloß gute -« Ein Kellner kam an ihrem Tisch. »Darf ich Ihnen die Speisekarte bringen?« Dr. Steven Patterson drehte sich um. »Sehen Sie nicht, daß wir uns gerade unterhalten?« herrschte er ihn an. »Verschwinden Sie gefälligst, bis wir Sie rufen.« »Entschuldigung, Sir.« Der Kellner eilte davon. Ashley wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte vergessen, wie aufbrausend ihr Vater sein konnte. Einmal hatte er während einer Operation auf einen Assistenten eingeprügelt, weil der sich ein Fehlurteil erlaubt hatte. Ashley konnte sich nur zu gut an die Streitereien zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater erinnern, die sie als kleines Mädchen miterlebt hatte. Sie hatten sie zu Tode erschreckt. Es war immer um das gleiche Thema gegangen, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war. Sie hatte es verdrängt. Ihr Vater fuhr fort, als ob nichts gewesen wäre. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Daß du dich nicht mit diesem Shane Miller abgeben solltest. Auf gar keinen Fall.« Und seine Worte beschworen eine weitere schlimme Erinnerung herauf. »Du solltest dich nicht mit diesem Jim Cleary abgeben«, hörte sie ihren Vater sagen. »Auf gar keinen Fall ...« Ashley war gerade achtzehn geworden. Sie lebten in Bedford in Pennsylvania, wo sie auch geboren war. Jim Cleary war der beliebteste Junge auf der ganzen High-School. Er spielte in der Footballmannschaft, sah blendend aus, war immer lustig und konnte einen hinreißend anlächeln. Ashley hatte den Eindruck, daß sämtliche Mädchen auf der Schule mit ihm schlafen wollten. Und die meisten haben es vermutlich auch getan, hatte sie seinerzeit spöttisch gedacht. Als Jim Cleary sich auch mit ihr verabreden wollte, war Ashley fest entschlossen, nicht mit ihm ins Bett zu gehen. Sie war davon überzeugt, daß er sie nur herumkriegen wollte, doch im Laufe der Zeit änderte sie ihre Meinung. Sie war gern mit ihm zusammen, und sie hatte das Gefühl, daß er sie wirklich mochte. In diesem Winter fuhr die Oberstufe übers Wochenende zu einem Skilager in die Berge. Jim Cleary war leidenschaftlicher Skifahrer. »Das wird bestimmt klasse«, versicherte er Ashley. »Ich fahre nicht mit.« Er schaute sie verdutzt an. »Wieso nicht?« »Ich kann die Kälte nicht ausstehen. Ich hab’ dann immer steif gefrorene Finger, selbst mit Handschuhen.« »Aber es macht doch Spaß, wenn -« »Ich fahre nicht mit.« Schließlich blieb auch er in Bedford. Sie hatten die gleichen Interessen, die gleichen Ideale, und sie kamen wunderbar miteinander aus. »Heute morgen hat mich jemand gefragt, ob du meine Freundin bist«, sagte Jim Cleary eines Tages zu Ashley. »Was soll ich ihm sagen?« Ashley lächelte. »Sag einfach ja«, erwiderte sie. Dr. Patterson war besorgt. »Du triffst dich ziemlich häufig mit dem jungen Cleary.« »Vater, er ist ein anständiger Junge, und außerdem liebe ich ihn.« »Wie kannst du den denn lieben? Einen Footballspieler, verdammt noch mal. Ich lasse nicht zu, daß du einen Footballspieler heiratest. Er ist nicht gut genug für dich, Ashley.« Das hatte er bislang bei jedem Jungen gesagt, mit dem sie gegangen war. Ihr Vater äußerte sich weiterhin abfällig über Jim Cleary, doch an dem Tag, an dem sie ihr Abschlußzeugnis erhielt, kam es zur offenen Auseinandersetzung. Jim Cleary wollte Ashley am Abend zu einer Abschlußfeier mitnehmen. Als er sie zu Hause abholte, weinte sie. »Was ist los? Was ist passiert?« »Mein - mein Vater hat gesagt, daß er mich nach London bringt. Er hat mich - er hat mich dort auf einem College angemeldet.« Jim Cleary schaute sie fassungslos an. »Er will nicht, daß wir miteinander gehen, stimmt’s?« Ashley nickte kläglich. »Wann reist du ab?« »Morgen.« »Nein! Um Gottes willen, Ashley, das darf er uns nicht antun. Hör zu. Ich möchte dich heiraten. Mein Onkel hat mir einen Bombenjob in seiner Werbeagentur in Chicago angeboten. Wir brennen durch. Morgen früh um sieben geht ein Zug nach Chicago. Wir treffen uns am Bahnhof. Kommst du mit?« Sie schaute ihn eine ganze Weile an. »Ja«, sagte sie dann leise. Hinterher konnte sich Ashley beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie die Abschlußfeier gewesen war. Sie und Jim hatten sich den ganzen Abend aufgeregt über ihre Pläne unterhalten. »Warum fliegen wir nicht nach Chicago?« fragte Ashley. »Weil wir bei der Fluggesellschaft unsere Namen angeben müßten. Wenn wir mit dein Zug fahren, weiß niemand, wohin wir uns gewandt haben.« »Hast du Lust, noch kurz mit zu mir nach Hause zu kommen?« fragte Jim Cleary leise, als sie die Party verließen. »Meine Eltern sind übers Wochenende weggefahren.« Ashley zögerte. Sie war hin- und hergerissen. »Jim - wir haben so lange gewartet. Auf die paar Tage kommt’s jetzt auch nicht mehr an.« »Du hast recht.« Er grinste. »Vermutlich bin ich der einzige Mann auf diesem Kontinent, der eine Jungfrau heiratet.« Als Jim Cleary Ashley nach Hause brachte, erwartete sie Dr. Patterson bereits wutentbrannt. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« »Tut mir leid, Sir. Die Party -« »Kommen Sie mir nicht mit dummen Ausreden, Cleary. Glauben Sie etwa, Sie könnten mir etwas vormachen?« »Ich will Ihnen nichts -« »Ab sofort lassen Sie die Finger von meiner Tochter. Haben Sie verstanden?« »Vater -« »Du hältst dich da raus.« Er schrie jetzt. »Cleary, ich möchte, daß Sie auf der Stelle verschwinden und sich nie wieder blik-ken lassen.« »Sir, Ihre Tochter und ich -« »Jim -« »Geh auf dein Zimmer.« »Sir -« »Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, breche ich Ihnen sämtliche Knochen.« Ashley hatte ihn noch nie so wütend erlebt. Am Ende hatten alle durcheinandergebrüllt. Dann war Ashley in Tränen ausgebrochen, und Jim hatte das Weite gesucht. Das lasse ich mir von meinem Vater nicht antun, dachte Ash-ley voller Entschlossenheit. Er will mein Leben zerstören. Sie saß eine ganze Weile auf ihrem Bett. Jim ist meine Zukunft. Ich möchte mit ihm Zusammensein. Ich habe hier nichts mehr verloren. Sie stand auf und packte eine Reisetasche. Eine halbe Stunde später stahl sich Ashley aus der Hintertür und begab sich auf den Weg zu Jim Cleary, der ein paar Straßen weiter weg wohnte. Ich bleibe heute nacht bei ihm, und morgen früh fahren wir mit dem Zug nach Chicago. Doch je näher sie dem Haus kam, desto unsicherer wurde sie. Nein, dachte sie. Das ist falsch. Ich möchte nichts verderben. Ich treffe mich mit ihm am Bahnhof. Und sie kehrte um und ging wieder nach Hause. Ashley blieb die ganze Nacht wach, dachte über ihr künftiges Zusammenleben mit Jim nach und stellte sich vor, wie wunderbar alles werden würde. Um halb sechs nahm sie ihre Reisetasche und ging leise an der verschlossenen Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters vorbei. Sie schlich sich aus dem Haus und fuhr mit dem Bus zum Bahnhof. Jim war nicht da, als sie dort eintraf. Sie war früh dran. Der Zug ging erst in einer Stunde. Sie setzte sich auf eine Bank und wartete ungeduldig. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater aufwachte und entdeckte, daß sie weg war. Er würde toben vor Wut. Aber ich kann nicht zulassen, daß er mir mein Leben vorschreibt. Eines Tages wird er Jim richtig kennenlernen, und er wird sehen, wie glücklich ich mit ihm bin. Halb sieben ... zwanzig vor sieben ... Viertel vor sieben ... zehn vor sieben ... Von Jim war immer noch nichts zu sehen. Ashley bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Was konnte nur dazwischengekommen sein? Sie beschloß ihn anzurufen. Niemand meldete sich, fünf vor sieben . Er kommt bestimmt jeden Moment. Sie hörte von fern den Zug pfeifen und schaute auf ihre Uhr. Eine Minute vor sieben. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie stand auf und blickte sich hektisch um. Irgendwas Schreckliches muß ihm zugestoßen sein. Vielleicht hatte er einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Ein paar Minuten später stand Ashley da und sah zu, wie all ihre Träume zerstoben, als der Zug nach Chicago abfuhr. Sie wartete noch eine halbe Stunde und rief dann erneut bei Jim an. Als sich wieder niemand meldete, ging sie langsam und unglücklich nach Hause. Mittags saß Ashley mit ihrem Vater in einem Flugzeug nach London. Ashley ging zwei Jahre lang in London aufs College, und da sie festgestellt hatte, daß sie gern mit Computern arbeiten wollte, bewarb sie sich für das begehrte MEI-Wang-Stipendium für Frauen in technischen Berufen an der Universi-ty of California in Santa Cruz. Sie wurde angenommen, und drei Jahre später wurde sie bei der Global Computer Graphics Corporation eingestellt. Anfangs hatte Ashley eine Handvoll Briefe an Jim Cleary geschrieben, doch sie hatte sie alle wieder zerrissen. Sein Verhalten, vor allem aber sein Stillschweigen, verrieten ihr nur allzu deutlich, was er für sie empfand. Die Stimme ihres Vaters riß Ashley in die Gegenwart zurück. »Du bist ja völlig abwesend. Worüber denkst du nach?« Ashley musterte ihren Vater über den Tisch hinweg. »Über gar nichts.« Dr. Patterson winkte dem Kellner und lächelte ihn liebenswürdig an. »Jetzt dürfen Sie uns die Karte bringen«, sagte er. Erst auf dem Rückweg ins Büro fiel Ashley ein, daß sie vergessen hatte, ihrem Vater zu dem Titelbild auf dem Time Magazine zu gratulieren. Als Ashley zu ihrem Schreibtisch kam, erwartete sie Dennis Tibble. »Ich habe gehört, daß du mit deinem Vater zu Mittag gegessen hast.« Der kleine Schleimer hat seine Ohren überall. Er will über alles Bescheid wissen, was hier vorgeht. »Ja.« »Kann ja nicht besonders amüsant gewesen sein.« Er senkte die Stimme. »Wieso gehst du eigentlich nie mit mir zum Mittagessen?« »Dennis - ich hab’s dir doch schon mal gesagt. Ich habe kein Interesse.« Er grinste. »Das kommt schon noch. Wart’s mal ab.« Ashley blickte ihm hinterher, als er wegging. Er hatte etwas Unheimliches an sich, etwas Gruseliges. Wieder fragte sie sich, ob er derjenige sein könnte, der ... Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie durfte nicht daran denken, mußte sich anderen Dingen zuwenden. Auf der Heimfahrt machte Ashley kurz beim Apple Tree Book House halt. Bevor sie hineinging, warf sie einen Blick in die spiegelnden Schaufensterscheiben. Hinter ihr war niemand, jedenfalls niemand, den sie kannte. Sie betrat die Buchhandlung. Ein junger Verkäufer kam auf sie zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ja. Ich - haben Sie ein Buch über Sittenstrolche?« Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Über Sittenstrolche?« Ashley kam sich ziemlich blöd vor. »Ja«, sagte sie rasch. »Außerdem hätte ich gern ein paar Bücher über - äh - Gartenbau und die Tierwelt Afrikas.« »Sittenstrolche, Gartenbau und afrikanische Tierwelt?« »Ganz recht«, erwiderte sie bestimmt. Wer weiß? Vielleicht habe ich eines Tages einen Garten und unternehme eine Reise nach Afrika. Als Ashley zu ihrem Wagen zurückging, fing es wieder an zu regnen. Sie war kaum losgefahren, als schwere Tropfen auf die Windschutzscheibe prasselten und sämtliche Konturen verwischten, so daß die Straßen vor ihr aussahen wie hingetupfte Landschaften auf einem pointillistischen Gemälde. Sie schaltete die Scheibenwischer an. Surrend setzten sie sich in Bewegung, so als tuschelten sie miteinander. »Er kriegt dich . kriegt dich . kriegt dich . « Ashley stellte sie schleunigst wieder ab. Nein, dachte sie. Sie sagen: Niemand da, niemand da, niemand da. Ashley stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab und drückte den Fahrstuhlknopf. Zwei Minuten später fuhr sie hoch zu ihrer Wohnung. Sie ging zu ihrer Tür, steckte den Schlüssel ins Schloß, sperrte auf und blieb wie erstarrt stehen. In ihrer Wohnung brannten sämtliche Lichter. 2 »Will ich in mein Gärtlein gehen, will mein Zwieblein gießen, steht ein bucklicht Männlein da, fängt gleich an zu niesen.« Toni Prescott wußte genau, warum sie dieses alberne Lied so gern sang. Ihre Mama hatte es gehaßt. Hör auf mit diesem dämlichen Lied. Hast du gehört? Du kannst sowieso nicht singen. Ja, Mutter. Und Toni sang es wieder und immer wieder leise vor sich hin. Es war lange her, aber die Erinnerung, wie sie ihrer Mutter getrotzt hatte, weckte in ihr auch heute noch ein Gefühl des Triumphs. Toni Prescott konnte ihre Arbeit bei Global Computer Graphics nicht ausstehen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, schelmisch, lebhaft und keck, teils Schalk, teils Irrwisch. Sie hatte ein herzförmiges Koboldgesicht, verschmitzte braune Augen und eine hinreißende Figur. Sie war in London geboren und sprach mit einem bezaubernden britischen Akzent. Sie war kräftig und muskulös und trieb für ihr Leben gern Sport, vor allem Wintersport: Ski- und Bobfahren und Eislaufen. Als sie in London aufs College gegangen war, hatte sich Toni tagsüber eher konservativ gekleidet, aber abends hatte sie sich in Miniröcke und Disco-Fummel geworfen und war durch die Kneipen gezogen. Sie hatte sich nächtelang im Electric Ball-room an der Camden High Street, im Subterania und in der Leopard Lounge herumgetrieben, wo die Szene aus dem West End verkehrte. Sie hatte eine wunderbare Stimme, rauchig und sinnlich, und in dem einen oder anderen Club setzte sie sich ans Klavier, spielte und sang, und die Gäste jubelten ihr zu. Dann fühlte sie sich in ihrem Element. In den Clubs lief immer wieder die gleiche Masche ab: »Weißt du, daß du eine phantastische Sängerin bist, Toni?« »Danke.« »Darf ich dir was zu trinken spendieren?« Sie lächelte. »Ein Pimm’s wäre klasse.« »Mit Vergnügen.« Und es endete auch immer auf die gleiche Weise. Ihr Nebenmann beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Wollen wir zu mir nach Hause gehen und uns ein bißchen balgen?« »Zisch ab.« Und darauf verzog Toni sich. Sie lag nachts im Bett, dachte darüber nach, wie blöde die Männer waren und wie verdammt leicht sie sich um den Finger wickeln ließen. Die armen Tröpfe wußten es wahrscheinlich nicht, aber sie wollten sich um den Finger wickeln lassen. Sie brauchten es regelrecht. Und dann war sie von London nach Cupertino gezogen. Am Anfang war es grauenhaft gewesen. Toni haßte Cupertino, und die Arbeit bei Global Computer Graphics verabscheute sie von ganzem Herzen. Das ewige Gerede über Standardschnittstellen und Bildauflösung, Halbtonvorlagen und Basislayouts langweilte sie zu Tode. London fehlte ihr sehr, vor allem das aufregende Nachtleben. In der Gegend von Cupertino gab es nur ein paar Nachtlokale, und dort verkehrte Toni dann auch: im San Jose Live, im P. J. Mulligan’s oder im Hollywood Junction. Sie trug knapp sitzende Miniröcke, hautenge Tops und dazu Riemchensandaletten mit fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen oder Plateauschuhe mit dicken Korksohlen. Und sie schminkte sich, was das Zeug hielt: üppiger, dunkler Eyeliner, falsche Wimpern, bunter Lidschatten und greller Lippenstift. Fast so, als wollte sie ihre wahre Schönheit verbergen. Am Wochenende fuhr Toni manchmal nach San Francisco, wo wirklich etwas geboten war. Sie trieb sich in den Restaurants und Clubs herum, in denen Live-Musik lief. Sie suchte Harry Denton’s auf, das One Market Restaurant und das California Cafe, und wenn die Musiker im Laufe des Abends eine Pause einlegten, setzte Toni sich ans Klavier und spielte und sang. Die Gäste waren begeistert. Und wenn Toni hinterher ihre Zeche zahlen wollte, winkten die Inhaber immer ab. »Nein, das geht auf Kosten des Hauses«, sagten sie. »Sie sind wunderbar. Kommen Sie bitte bald wieder.« Hast du das gehört, Mutter? »Sie sind wunderbar. Kommen Sie bitte bald wieder.« Eines Samstag abends aß Toni im French Room des Cliff Hotels zu Abend. Die Musiker legten eine Pause ein und gingen von der Bühne. Der Oberkellner schaute Toni an und nickte einladend. Toni stand auf und ging quer durch das Lokal zum Klavier. Sie setzte sich hin, stimmte ein Cole-Porter-Stück an und begann zu singen. Als sie aufhörte, gab es begeisterten Applaus. Sie sang zwei weitere Songs und kehrte dann an ihren Tisch zurück. Ein kahlköpfiger Mann mittleren Alters kam zu ihr. »Entschuldigen Sie bitte. Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?« Toni wollte bereits nein sagen, als er hinzufügte: »Ich bin Norman Zimmerman. Ich will eine Tourneeaufführung von Der König und ich produzieren. Ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen.« Toni hatte gerade einen überschwenglichen Zeitungsartikel über ihn gelesen. Er galt als Theatergenie. Er setzte sich. »Sie besitzen ein bemerkenswertes Talent, junge Frau. In Lokalen wie diesem vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Sie sollten am Broadway auftreten.« Am Broadway. Hast du das gehört, Mutter? »Ich würde Sie gern zu einer Besetzungsprobe für -« »Tut mir leid. Ich kann nicht.« Er schaute sie überrascht an. »Das könnte Ihnen etliche Türen öffnen. Ich meine es ernst. Ich glaube, Sie sind sich gar nicht im klaren darüber, wie begabt Sie sind.« »Ich habe einen Job.« »Und was machen Sie, wenn ich fragen darf?« »Ich arbeite bei einer Computerfirma.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Egal, was Sie derzeit verdienen, ich biete Ihnen von Anfang an das Doppelte und -« »Besten Dank«, erwiderte Toni, »aber ich . ich kann nicht.« Zimmerman lehnte sich zurück. »Haben Sie etwa keine Lust, ins Showgeschäft einzusteigen?« »Riesengroße sogar.« »Und was hindert Sie daran?« Toni zögerte. »Womöglich müßte ich mitten in der Tournee aussteigen«, wandte sie dann ein. »Wegen Ihrem Mann oder -?« »Ich bin nicht verheiratet.« »Das verstehe ich nicht. Sie sagen, daß Sie Lust aufs Showgeschäft haben. Das hier wäre der ideale Einstieg für Sie -« »Tut mir leid. Ich kann es nicht erklären.« Er würde es nicht verstehen, auch wenn ich ’s ihm erklären würde, dachte Toni unglücklich. Keiner kapiert das. Weil es wie ein Fluch ist, mit dem ich leben muß. Für immer und ewig. Ein paar Monate nachdem sie bei Global Computer Graphics angefangen hatte, lernte Toni das Internet kennen, den großen, weltumspannenden Treffpunkt, auf dem man jede Menge Männer kennenlernen konnte. Sie saß mit Kathy Healy, einer Freundin, die bei einer Konkurrenzfirma arbeitete, beim Abendessen im Duke of Edinburgh. Das Restaurant war ein original englisches Pub, das man in seine Einzelteile zerlegt, in Kisten und Container verstaut und per Schiff nach Kalifornien verfrachtet hatte. Toni kam hierher, wenn sie Lust auf echte Londoner Fish & Chips, Rinderkamm mit Yorkshire-Pudding, Bratwürstchen mit Kartoffelpüree und Biskuittörtchen mit Sherry hatte. Mit einem Bein am Boden bleiben, sagte sie sich. Nicht vergessen, woher ich stamme. Toni blickte zu Kathy auf. »Könntest du mir einen Gefallen tun?« »Raus damit.« »Ich möchte, daß du mir das Internet vorführst, Liebes. Zeig mir, wie man damit umgeht.« »Toni, der einzige Computer, an den ich rankomme, steht an meinem Arbeitsplatz. Und in der Firma sieht man es nicht gern, wenn -« »Pfeif doch auf die Firma. Du weißt, wie man im Internet klarkommt, stimmt’s?« »Ja.« Toni tätschelte Kathy Healys Hand und lächelte. »Klasse.« Am folgenden Abend ging Toni in Kathy Healys Büro, und Kathy führte sie ins Internet ein. Kathy klickte das InternetIcon an, gab ihr Kennwort ein, ging mit doppeltem Mausklick auf ein weiteres Icon und landete in einem Chat-Raum. Toni saß fassungslos da, als sie die getippten Gesprächsfetzen sah, die Menschen weltweit miteinander austauschten. »Das muß ich haben!« sagte Toni. »Ich besorge mir einen Computer für zu Hause. Würdest du so lieb sein und mir das Internet erklären?« »Klar. Ist ganz einfach. Du mußt lediglich mit der Maus deinen Online-Dienst anklicken und -« »Wie heißt es so schön? Sag nichts, zeig es mir.« Am Abend darauf begab sich Toni das erste Mal ins Internet, und von da an änderte sich ihr ganzes Leben. Sie langweilte sich nicht mehr. Das Internet war wie ein fliegender Teppich, mit dem man um die ganze Welt reisen konnte. Wenn Toni von der Arbeit nach Hause kam, schaltete sie sofort ihren Computer ein, ging ins Internet und klinkte sich in allerlei Chat-Räume ein. Es war so einfach. Sie klickte das Internet-Zeichen an, drückte eine Taste und schon tauchten auf ihrem Bildschirm zwei Fenster auf. »Hallo«, gab Toni im oberen Teil ein. »Ist da jemand?« Im unteren Abschnitt tauchten Buchstaben auf. »Bob hier. Ich warte auf dich.« Sie war bereit, die Welt kennenzulernen. Ein gewisser Hans aus Holland meldete sich. »Erzähl mir was von dir, Hans.« »Ich bin D. J. in Amsterdam. Ich steh’ auf Hip Hop, Rave und Weltmusik. Was es halt so gibt.« »Klingt gut«, tippte Toni ein. »Ich tanze für mein Leben gern. Am liebsten die ganze Nacht. Ich lebe in einer gräßlichen Kleinstadt, in der außer ein paar Discos nichts geboten ist.« »Klingt ziemlich öde.« »Genau das ist es auch.« »Vielleicht kann ich dich ein bißchen aufheitern. Können wir uns nicht irgendwo treffen?« »Tschüs.« Sie klinkte sich aus. Dann war da Paul, aus Südafrika. »Ich habe schon gewartet, daß du dich wieder meldest, Toni.« »Bin schon da. Ich würde wahnsinnig gern was über dich erfahren, Paul.« »Ich bin zweiunddreißig. Ich bin Arzt in einem Krankenhaus in Johannesburg. Ich -« Aufgebracht klinkte sie aus. Ein Arzt! Schreckliche Erinnerungen überfluteten sie. Sie schloß einen Moment lang die Augen, atmete ein paarmal tief durch, bis ihr Herz wieder ruhiger schlug. Das reicht für heute abend, dachte sie, als sie mit zitternder Hand den Computer abstellte. Sie ging ins Bett. Am folgenden Abend schaltete sich Toni wieder ins Internet ein. Scan aus Dublin meldete sich. »Toni ... Das ist ein hübscher Name.« »Besten Dank, Sean.« »Warst du schon mal in Irland?« »Nein.« »Du würdest bestimmt drauf abfahren. Es ist das Land der Feen und Kobolde. Verrat mir, wie du aussiehst, Toni. Du bist bestimmt wunderschön.« »Ganz recht. Ich bin wunderschön, ich bin atemberaubend, und ich bin ledig. Was bist du von Beruf, Sean?« »Ich bin Barkeeper. Ich -« Toni beendete das Gespräch. Jede Nacht gab es etwas Neues. Einen Polospieler aus Argentinien zum Beispiel, einen Autohändler aus Japan, einen Herrenkonfektionsverkäufer aus Chicago, einen Fernsehtechniker aus New York. Das Internet war ein faszinierendes neues Spiel, und Toni kostete es in vollen Zügen aus. Sie konnte so weit gehen, wie sie es wollte, und sich trotzdem sicher fühlen, weil sie völlig anonym war. Und dann, als sie sich eines Nachts in den Chat-Raum einklinkte, lernte sie Jean Claude Parent kennen. »Bon soir. Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Toni.« »Ganz meinerseits, Jean Claude. Wo steckst du?« »In Quebec.« »Ich war noch nie in Quebec. Meinst du, es würde mir dort gefallen?« Toni rechnete damit, daß auf dem Bildschirm ein Ja auftauchen würde. »Ich weiß nicht recht«, meldete sich Jean Claude statt dessen. »Kommt drauf an, was für ein Mensch du bist.« Toni fand die Antwort faszinierend. »Wirklich? Was für ein Mensch müßte ich denn sein, damit mir Quebec gefällt?« »Quebec ist so, wie man sich den alten amerikanischen Westen vorstellt. Bloß auf französisch. Die Menschen hier wollen ihre eigenen Wege gehen. Wir lassen uns nicht gern von anderen etwas vorschreiben.« »Ich auch nicht«, gab Toni ein. »Dann würde es dir hier gefallen. Es ist eine herrliche Stadt. Inmitten von Bergen und Seen gelegen. Ein Paradies für jeden Angler und Jäger.« Toni schaute wie gebannt auf den Bildschirm. Sie spürte geradezu die Begeisterung, die in Jean Claudes Worten mitschwang. »Klingt ja super. Erzähl mir was von dir.« »Moi? Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich bin achtunddreißig, ledig. Ich habe gerade eine Beziehung hinter mir und möchte endlich die richtige Frau kennenlernen. Et toi? Bist du verheiratet?« »Nein«, tippte Toni ein. »Ich bin ebenfalls auf der Suche nach jemandem. Was machst du beruflich?« »Ich besitze ein kleines Juweliergeschäft. Ich hoffe, daß du eines Tages vorbeikommst und mich besuchst.« »Ist das eine Einladung?« »Mais oui. Ja.« »Klingt interessant«, gab Toni ein. Und sie meinte es ernst. Vielleicht komme ich ja irgendwie dorthin, dachte Toni. Vielleicht kann er mich ja retten. Toni plauschte fast jeden Abend mit Jean Claude. Er überspielte ihr per Scanner ein Foto von sich, und Toni fand, daß er sehr attraktiv und intelligent wirkte. Als Jean Claude das Foto sah, das Toni ihm per Scanner übermittelt hatte, schrieb er: »Du bist wunderschön, ma cherie. Aber das wußte ich ja. Komm mich bitte besuchen.« »Wird gemacht.« »Bald.« »Tschüs.« Toni klinkte sich aus. Am nächsten Morgen hörte Toni in der Firma, wie sich Shane Miller mit Ashley Patterson unterhielt. Was, zum Teufel, findet er an ihr? dachte sie. Das ist doch ‘ne richtige Zicke. Für Toni war Ashley eine verklemmte alte Jungfer, die typische Unschuld vom Lande. Die hat doch keinen blassen Schimmer davon, was Spaß macht, dachte Toni. Toni konnte sie einfach nicht ausstehen. Ashley war eine Transuse, die abends am liebsten zu Hause blieb, ein Buch las oder sich irgendwelchen historischen Kram oder Nachrichten anguckte. Sie hatte keinerlei Interesse an Sport. Wie langweilig! Sie hatte sich noch nie in einen Chat-Raum eingeklinkt. Nie und nimmer würde Ashley wildfremde Menschen über Computer kennenlernen wollen. Kalt wie ein Fisch, dachte Toni. Die weiß ja gar nicht, was sie sich entgehen läßt. Ohne Internet und Chat-Raum hätte ich Jean Claude niemals kennengelernt. Toni mußte an ihre Mutter denken, die das Internet vermutlich von ganzem Herzen gehaßt hätte. Aber ihre Mutter hatte so gut wie alles gehaßt. Sie konnte sich nur auf zweierlei Art ausdrücken - entweder schrie sie, oder sie jammerte. Toni konnte ihr nie etwas recht machen. Du dummes Gör, kannst du denn gar nichts? Ja, ihre Mutter hatte sie einmal zu oft angebrüllt. Toni mußte an den schrecklichen Unfall denken, bei dem ihre Mutter ums Leben gekommen war. Sie konnte immer noch ihre Hilfeschreie hören. Beim Gedanken daran mußte sie lächeln. »Will ich in mein Küchel gehen, will mein Süpplein kochen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mein Töpflein brochen.« 3 An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit wäre Alette Peters vermutlich eine erfolgreiche Künstlerin gewesen. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie sämtliche Sinneseindrücke als Farbtöne wahrgenommen. Sie sah Farben nicht nur, sie konnte sie auch riechen und hören. Die Stimme ihres Vaters war blau, manchmal auch rot. Die Stimme ihrer Mutter war dunkelbraun. Die Stimme ihres Lehrers war gelb. Die Stimme des Lebensmittelhändlers war violett. Das Rauschen des Windes in den Bäumen war grün. Fließendes Wasser klang grau. Alette Peters war zwanzig Jahre alt. Sie konnte unscheinbar wirken, aber auch attraktiv oder hinreißend schön, je nachdem, wie sie gelaunt war oder sich selbst empfand. Aber einfach hübsch sein, das konnte sie nicht. Ihre Anziehungskraft war auch darauf zurückzuführen, daß sie sich ihres Aussehens überhaupt nicht bewußt war. Sie war schüchtern, hatte eine leise Stimme und wirkte so sanftmütig, als stammte sie aus einer anderen Zeit. Alette Peters war in Rom geboren, und sie sprach mit einem melodiösen italienischen Akzent. Sie liebte Rom von ganzem Herzen. Sie hatte hoch oben auf der Spanischen Treppe gestanden, über die ganze Stadt hinweggeblickt und gespürt, daß all das ihr gehörte. Wenn sie die alten Tempel und das riesige Kolosseum betrachtete, wußte sie, daß sie eigentlich zu jenen Zeiten hätte leben sollen. Sie war über die Piazza Navona spaziert, hatte dem Singsang des Wassers in dem großen Brunnen mit den allegorischen Darstellungen der vier Flüsse gelauscht und war dann die Piazza Venezia hinuntergegangen, wo das wie eine riesige Hochzeitstorte wirkende Monument zu Ehren von König Viktor Emmanuel II. stand. Sie hatte sich stundenlang in der Peterskirche herumgetrieben, in den vatikanischen Museen und der Villa Borghese, hatte die zeitlos schönen Kunstwerke eines Raffael und Fra Bartolommeo, Andrea del Sarto und Pontormo bestaunt. Deren Können faszinierte sie, zugleich frustrierte es sie aber auch. Sie wünschte, sie wäre im 16. Jahrhundert zur Welt gekommen und hätte sie persönlich kennengelernt. Alette kamen sie vertrauter vor als die Passanten draußen auf der Straße. Sie wollte unbedingt Künstlerin sein. Sie hörte förmlich die dunkelbraune Stimme ihrer Mutter: Du verschwendest bloß das teure Papier und die Farben. Du hast kein Talent. Sie war zutiefst verunsichert gewesen, als sie nach Kalifornien gekommen war. Anfangs hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie sich wohl jemals eingewöhnen würde, doch Cupertino hatte sie angenehm überrascht. Sie genoß die Ruhe und das vertraute Miteinander der Menschen, das es nur in einer Kleinstadt gab, und die Arbeit bei der Global Computer Graphics Corporation machte ihr Spaß. Zwar gab es in Cuper-tino keine bedeutenden Galerien oder Museen, aber am Wochenende fuhr Alette nach San Francisco und besuchte die dortigen Kunsthallen. »Wieso interessierst du dich so für dieses Zeug?« fragte Toni Prescott sie manchmal. »Komm mit ins P. J. Mulligans und amüsier dich ein bißchen.« »Machst du dir denn gar nichts aus Kunst?« Toni lachte. »Klar doch. Wie heißt er mit Vornamen?« Nur etwas trübte Alette Peters Glück: Sie war manischdepressiv und litt an Kontaktschwierigkeiten. Ihre Stimmung konnte völlig unverhofft umschlagen - eben war sie noch euphorisch, und im nächsten Moment am Boden zerstört. Sie hatte keinerlei Einfluß darauf. Toni war die einzige, mit der sich Alette über ihre Probleme unterhalten konnte. Toni wußte immer eine Lösung, und für gewöhnlich lautete die: »Komm, wir ziehen los und amüsieren uns!« Mit Vorliebe ließ sich Toni über Ashley Patterson aus. Sie beobachtete, wie Shane Miller mit Ashley redete. »Schau dir diese verklemmte Zicke an«, sagte Toni abfällig. »Der reinste Eisberg.« Alette nickte. »Sie ist immer so ernst. Jemand sollte ihr mal beibringen, was Lachen heißt.« Toni schnaubte. »Der sollte mal jemand beibringen, was vögeln heißt.« Einen Abend pro Woche ging Alette zur Obdachlosenmission in San Francisco und half bei der Essensausgabe. Dort traf sie eine kleine alte Frau, die sich immer ganz besonders auf ihre Besuche freute. Sie saß im Rollstuhl, und Alette schob sie an einen Tisch und brachte ihr eine warme Mahlzeit. »Meine Liebe, wenn ich eine Tochter hätte, müßte sie genauso sein wie Sie«, sagte die Frau voller Dankbarkeit. Alette drückte ihr die Hand. »Was für ein wunderbares Kompliment. Vielen Dank.« Doch dann meldete sich eine innere Stimme. Wenn du eine Tochter hättest, wäre sie bestimmt genauso häßlich wie du. Und Alette war entsetzt von ihren eigenen Gedanken. Es war, als ob da ein anderes Wesen in ihr steckte und diese entsetzlichen Worte sagte. Es passierte ständig. Einmal ging sie mit Betty Hardy, einer Frau aus ihrer Kirchengemeinde, einkaufen. Sie blieben vor einem Warenhaus stehen. Betty bewunderte ein Kleid, das im Schaufenster hing. »Ist das nicht wunderschön?« »Zauberhaft«, pflichtete Alette ihr bei. Das ist das scheußlichste Kleid, daß ich je gesehen habe. Genau das richtige für dich. Eines Abends ging Alette mit Roland, dem Küster der Kirche, zum Essen aus. »Ich genieße unser Zusammensein sehr, Alette. Wir sollten das öfter machen.« Sie lächelte schüchtern. »Von mir aus gern.« Doch sie dachte dabei: Non faccia, lo stupido. Nie im Leben, du Blödmann. Und wieder war sie entsetzt. Was fehlt mir nur? Aber darauf wußte sie keine Antwort. Der geringste Affront, ob beabsichtigt oder nicht, konnte sie zur Raserei treiben. Eines Morgens zum Beispiel wurde sie auf dem Weg zur Arbeit von einem anderen Wagen geschnitten. Sie biß die Zähne zusammen und dachte: Ich bring dich um, du Mistkerl. Der Mann hob entschuldigend die Hand, und Alette lächelte ihn freundlich an. Aber innerlich kochte sie immer noch vor Wut. Wenn sich die schwarze Wolke auf sie herabsenkte, stellte sich Alette vor, wie die Leute auf der Straße einem Herzinfarkt erlagen, von einem Auto erfaßt oder überfallen und umgebracht würden. Sie spielte diese Szenen in ihrer Phantasie durch, und sie standen ihr lebhaft vor Augen. Im nächsten Moment schämte sie sich zu Tode. An guten Tagen wirkte Alette wie ausgewechselt. Sie war von Grund auf freundlich, voller Mitgefühl und freute sich, wenn sie andern helfen konnte. Doch ihr Glücksgefühl war trügerisch, wußte sie doch, daß sich die Düsternis jederzeit wieder auf sie legen und sie in ihren Bann schlagen konnte. Jeden Sonntagmorgen ging Alette zur Kirche. Die Gemeinde brauchte ständig ehrenamtliche Helfer, die bei der Speisung der Obdachlosen mitwirkten, mit den Kindern nach der Schule zeichneten und malten und ihnen Nachhilfeunterricht gaben. Alette leitete die Sonntagsschule und half bei der Kinderbetreuung. Sie nahm an allerlei wohltätigen Veranstaltungen teil und opferte dafür soviel Zeit, wie sie nur konnte. Vor allem aber freute sie sich, wenn sie den Jüngsten Malunterricht geben konnte. Eines Sonntags veranstaltete die Gemeinde einen Wohltätigkeitsbasar, bei dem Alette ein paar ihrer Bilder zum Verkauf feilbot. Der Pfarrer, Frank Selvaggio, betrachtete sie voller Bewunderung. »Die sind - die sind ja großartig. Sie sollten sie in einer Galerie verkaufen.« Alette errötete. »Nein, wirklich nicht. Ich mache das nur aus Spaß.« Der Basar war gut besucht. Die Gemeindemitglieder hatten ihre Freunde und Angehörigen mitgebracht, und man hatte allerlei Stände und Buden aufgebaut, an denen die Besucher sich beim Spiel vergnügen oder Bastelarbeiten und Kunsthandwerk kaufen konnten. Es gab wunderbar verzierte Torten, hinreißende handgearbeitete Steppdecken, selbstgemachte Marmelade in hübschen Gläsern und allerhand Holzspielzeug. Die Leute gingen von Stand zu Stand, kauften hier eine Kleinigkeit, dort eine andere und erstanden allerlei Sachen, für die sie am nächsten Tag vermutlich keine Verwendung hatten. »Aber es geht doch um eine gute Sache«, hörte Alette eine Frau sagen, die es ihrem Mann erklärte. Alette betrachtete ihre Bilder, die sie rund um den Stand aufgebaut hatte. Es waren hauptsächlich Landschaften, in hellen, leuchtenden Farben gemalt, die einem förmlich entgegensprangen. Doch sie hatte schwere Bedenken. Du vergeudest das schöne Geld für Farben, Kind. Ein Mann kam zu ihrem Stand. »Hallo. Haben Sie die etwa gemalt?« Seine Stimme war tiefblau. Nein. Michelangelo hat kurz vorbeigeschaut und sie gemalt. »Sie sind sehr begabt.« »Vielen Dank.« Was verstehst du schon davon? Ein junges Paar blieb vor Alettes Stand stehen. »Schau dir diese Farben an! Davon muß ich unbedingt eins haben. Die sind ja richtig gut.« Und so ging das den ganzen Nachmittag. Ständig kamen Leute an ihren Stand und erklärten ihr, wie begabt sie sei. Und Alette hätte ihnen nur zu gern geglaubt, doch jedesmal fiel wieder der schwarze Vorhang, und sie dachte: Die lassen sich alle etwas vormachen. Ein Kunsthändler kam vorbei. »Die sind ja wirklich zauberhaft. Sie sollten Ihr Talent kommerziell nutzen.« »Ich bin reine Freizeitmalerin«, versetzte Alette. Und sie weigerte sich, weiter über das Thema zu sprechen. Als der Tag zur Neige ging, hatte Alette sämtliche Bilder verkauft. Sie nahm das Geld, das sie eingenommen hatte, steckte es in einen Umschlag und gab ihn Pater Frank Selvag-gio. »Vielen Dank, Alette«, sagte er und nahm ihn entgegen. »Es ist eine große Gabe, wenn man den Menschen so viel Schönes bescheren kann.« Hast du das gehört, Mutter? Wenn Alette in San Francisco war, hielt sie sich stundenlang im Museum of Modern Art auf, oder sie besuchte das De Young Museum und betrachtete die dort ausgestellten Werke amerikanischer Maler. Etliche Nachwuchskünstler kopierten die an der Wand hängenden Bilder. Ein junger Mann fiel Alette besonders auf. Er war Ende Zwanzig, schlank und blond und hatte ein markantes, intelligentes Gesicht. Er kopierte gerade Georgia O’Keeffes Petunien, und er leistete erstaunlich gute Arbeit. Der Künstler bemerkte, daß Alette ihm zusah. »Hallo.« Seine Stimme klang nach einem warmen Gelbton. »Hallo«, erwiderte Alette schüchtern. Der Künstler deutete mit dem Kopf auf das Bild, an dem er arbeitete. »Was halten Sie davon?« »Bellissimo. Ganz wunderbar.« Und sie wartete darauf, daß sich ihre innere Stimme mit einem abfälligen »Jedenfalls für einen dummen Dilettanten« meldete. Doch nichts tat sich. Sie war überrascht. »Es ist wirklich wunderbar.« Er lächelte. »Vielen Dank. Ich heiße Richard, Richard Melton.« »Alette Peters.« »Kommen Sie oft hierher?« fragte Richard. »Si. Sooft ich kann. Ich wohne nicht in San Francisco.« »Und wo wohnen Sie?« »In Cupertino.« Nicht etwa »Das geht dich überhaupt nichts an« oder »Das möchtest du wohl gern wissen«, sondern »In Cupertino«. Was ist mit mir los? »Das ist eine hübsche kleine Stadt.« »Mir gefällt’s dort.« Nicht etwa »Wie, zum Teufel, kommst du darauf, daß es eine hübsche kleine Stadt ist?« oder »Was verstehst du schon von Kleinstädten?«, sondern »Mir gefällt’s dort.«. Er war mit seinem Bild fertig. »Ich habe Hunger. Darf ich Sie zum Essen einladen? Im Cafe De Young gibt es ziemlich leckere Sachen.« Alette zögerte nur einen kurzen Moment. »Va bene. Gern.« Nicht etwa »Du siehst blöd aus« oder »Ich geh ’ doch nicht mit wildfremden Menschen essen«, sondern »Gern«. Für Alette war das eine völlig neue, wohltuende Erfahrung. Das Essen verlief überaus angenehm, und Alette verfiel nicht ein einziges Mal in düstere Gedanken. Sie unterhielten sich über große Künstler, und Alette erzählte Richard, daß sie in Rom aufgewachsen war. »Ich bin noch nie in Rom gewesen«, sagte er. »Vielleicht komme ich eines Tages mal hin.« Mit dir nach Rom zu fahren würde bestimmt Spaß machen, dachte Alette. Sie waren gerade mit dem Essen fertig, als Richard seinen Wohnungsgenossen am anderen Ende des Lokals sah und ihn an ihren Tisch rief. »Gary, ich habe gar nicht gewußt, daß ich dich hier treffen würde. Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Alette Peters. Gary King.« Gary war Ende Zwanzig, hatte leuchtendblaue Augen und schulterlange Haare. »Schön, Sie kennenzulernen, Gary.« »Gary ist seit unserer Schulzeit mein bester Freund, Alette.« »Jawohl. Und ich kenne jede Schlechtigkeit, die Richard in den letzten zehn Jahren getrieben hat. Wenn Sie also eine gute Geschichte hören wollen ...« »Gary - mußt du nicht noch irgendwohin?« »Stimmt.« Er wandte sich an Alette. »Aber vergessen Sie mein Angebot nicht. Bis bald mal.« Sie blickten Gary nach. »Alette ...«, sagte Richard. »Ja?« »Sehen wir uns wieder?« »Gern.« Sehr gern sogar. Am Montag morgen berichtete Alette Toni von ihrem Erlebnis. »Laß dich bloß nicht mit einem Künstler ein«, warnte sie Toni. »Es sei denn, du willst von dem Obst leben, das er malt. Hast du vor, ihn wiederzusehen?« Alette lächelte. »Ja. Ich glaube, er mag mich. Und ich mag ihn auch. Ich mag ihn wirklich.« Es begann mit einer kleinen Meinungsverschiedenheit und endete in Zank und Streit. Pater Frank Selvaggio wollte nach über vierzigjähriger Amtszeit in den Ruhestand treten. Er war ein sehr guter und fürsorglicher Pfarrer, und die Gemeinde ließ ihn nur ungern ziehen. Man traf sich heimlich und beriet darüber, was man ihm zum Abschied schenken sollte. Eine Uhr . Geld . eine Reise . ein Bild: Für Kunst hatte er viel übrig. »Warum lassen wir nicht einfach jemanden ein Porträt von ihm malen? Mit der Kirche im Hintergrund.« Sie wandten sich an Alette. »Hättest du Lust dazu?« »Natürlich«, sagte sie freudestrahlend. »Meine Tochter ist eine sehr gute Malerin. Vielleicht sollte sie das übernehmen?« warf Walter Manning ein. Manning war einer der angesehensten Männer in der Gemeinde und außerdem der wichtigste Spender. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, aber allen anderen schien er jeglichen Erfolg zu neiden. »Warum lassen wir sie nicht beide ran und stimmen hinterher darüber ab, welches Bild wir Pater Frank schenken ...?« Alette begab sich an die Arbeit. Sie brauchte fünf Tage, bis das Bild fertig war, doch es wurde ein Meisterwerk, das all die Barmherzigkeit und Güte ausstrahlte, die sie hatte einfangen wollen. Am darauffolgenden Sonntag trafen sich die Gemeindemitglieder zur Begutachtung der Bilder. Laute Beifallsrufe ertönten, als Alette ihr Werk vorstellte. »Es wirkt so lebendig. Man meint, er würde jeden Moment von der Leinwand steigen .« »Oh, das wird ihm sehr gefallen .« »Ihre Werke gehören ins Museum, Alette ...« Walter Manning enthüllte das Bild, das seine Tochter gemalt hatte. Es war durchaus ansprechend, aber ihm fehlten die Glut und die Klasse, die Alettes Porträt auszeichneten. »Sehr hübsch«, sagte einer der Kirchenvorsteher, »aber meiner Meinung nach ist Alettes ...« »Ganz recht .« »Alettes Porträt ist genau das ...« Walter Manning ergriff das Wort. »Wir müssen einen einstimmigen Beschluß fassen. Meine Tochter ist Künstlerin von Beruf und« - er warf einen Blick auf Alette - »keine Hobbymalerin. Meine Tochter wollte uns damit einen Gefallen tun. Wir können ihr Bild nicht ablehnen.« »Aber Walter -« »Nein. Hier gibt es nur eine Entscheidung. Entweder schenken wir ihm das Bild meiner Tochter, oder er bekommt gar nichts.« »Mir gefällt ihr Bild sehr gut«, sagte Alette. »Los, schenken wir’s dem Pater.« Walter Manning lächelte selbstgerecht. »Er wird sich sehr darüber freuen«, sagte er. An diesem Abend wurde Walter Manning auf dem Heimweg von einem Auto erfaßt und getötet. Der Fahrer entfernte sich anschließend vom Unfallort. Alette war fassungslos, als sie es erfuhr. 4 Ashley Patterson wollte gerade in aller Eile duschen, weil sie ohnehin zu spät dran war, als sie das Geräusch hörte. Eine Tür? Ein klickendes Schloß? Sie stellte die Dusche ab und lauschte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Stille. Tropf naß und glitzernd stand sie einen Moment lang da, trocknete sich dann rasch ab und schlich vorsichtig in ihr Schlafzimmer. Alles sah so aus wie immer. Ich bilde mir das bloß wieder ein. Ich muß mich schleunigst anziehen. Sie ging zu ihrer Wäschekommode, zog die Schublade auf und starrte mit ungläubigem Blick hinein. Jemand hatte in ihrer Unterwäsche herumgewühlt. Ihre BHs und Höschen lagen kreuz und quer übereinander, aber sie bewahrte sie immer in fein säuberlich voneinander getrennten Stapeln auf. Ashley wurde mit einemmal übel. Hatte er etwa seine Hose aufgemacht, einen ihrer Slips genommen und sich daran gerieben? Hatte er sich vorgestellt, daß er sie vergewaltigte? Sie erst vergewaltigte und dann ermordete? Sie bekam kaum noch Luft. Ich sollte zur Polizei gehen, aber dort würde man mich nur auslachen. Sie sind also der Meinung, jemand hat in Ihrer Wäsche herumgewühlt, und wir sollten dem nachgehen? Jemand stellt mir nach. Haben Sie denjenigen gesehen? Nein. Hat Sie irgend jemand bedroht? Nein. Haben Sie eine Ahnung, weshalb Ihnen jemand etwas zuleide tun sollte? Nein. Es ist sinnlos, dachte Ashley verzweifelt. Ich kann nicht zur Polizei gehen. Man würde mir genau diese Fragen stellen, und ich stünde da, als wäre ich nicht recht bei Trost. Sie zog sich an, so rasch sie konnte, wollte mit einemmal so schnell wie möglich aus ihrer Wohnung weg. Ich muß umziehen. Irgendwohin, wo er mich nicht findet. Doch im gleichen Moment war sie sich bewußt, daß dies ein Ding der Unmöglichkeit war. Er weiß, wo ich wohne, wo ich arbeite. Und was weiß ich über ihn? Gar nichts. Sie wollte keine Schußwaffe in ihrer Wohnung aufbewahren, weil sie jede Art von Gewalt verabscheute. Aber irgendwie muß ich mich jetzt schützen, dachte Ashley. Sie ging in die Küche, nahm ein Schlachtermesser und legte es in das Nachtkästchen neben ihrem Bett. Vermutlich habe ich die Wäsche selber durcheinandergebracht. Vermutlich läuft es darauf hinaus. Oder ist das bloß Wunschdenken? Im Briefkasten unten in der Eingangshalle war Post für sie. Der Absender lautete Bedford Area High-School, Bedford, Pennsylvania. Ashley las die Einladung zweimal durch. ZEHNJÄHRIGES KLASSENTREFFEN! OB REICH, OB ARM, BETTLER ODER DIEB. HAST DU DICH NICHT SCHON OFT GEFRAGT, WIE ES DEINEN KLASSENKAMERADEN IN DEN LETZTEN ZEHN JAHREN ERGANGEN IST? JETZT KANNST DU ES ERFAHREN. AM ZWEITEN JUNIWOCHENENDE WOLLEN WIR EIN GROSSES WIEDERSEHEN FEIERN. ES GIBT JEDE MENGE SPEIS UND TRANK, DAZU EIN TOLLES ORCHESTER, DAMIT ALLE DAS TANZBEIN SCHWINGEN KÖNNEN. LASS DIR DEN SPASS NICHT ENTGEHEN. SCHICK EINFACH DIE BEILIEGENDE ANMELDUNG ZURÜCK, DAMIT WIR WISSEN, OB DU KOMMST. WIR FREUEN UNS ALLE AUF DICH. Auf der Fahrt zur Arbeit dachte Ashley über die Einladung nach. Wir freuen uns alle auf dich. Alle bis auf Jim Cleary, dachte sie bitter. Ich möchte dich heiraten. Mein Onkel hat mir einen Bombenjob in seiner Werbeagentur in Chicago angeboten. Morgen früh um sieben geht ein Zug nach Chicago. Kommst du mit? Und sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie gelitten hatte, als sie am Bahnhof auf Jim wartete. Weil sie ihm geglaubt, ihm vertraut hatte. Er hatte es sich anders überlegt, und er war nicht Manns genug gewesen, um zu ihr zu kommen und es ihr zu sagen. Statt dessen hatte er sie allein am Bahnhof sitzenlassen. Vergiß die Einladung. Ich fahre nicht hin. In der Mittagspause ging Ashley mit Shane Miller ins TGI Friday’s. Sie saßen an ihrem Tisch und aßen schweigend. »Du wirkst, als ob dich irgendwas beschäftigt«, sagte Shane. »Entschuldige.« Ashley zögerte einen Moment. Am liebsten hätte sie ihm von dem Vorfall mit ihrer Wäsche erzählt, aber es hätte gar zu dumm geklungen. Jemand hat in deinen Sachen herumgewühlt? »Ich habe eine Einladung zum zehnjährigen Klassentreffen bekommen«, sagte sie statt dessen. »Fährst du hin?« »Bestimmt nicht.« Es klang heftiger, als sie beabsichtigt hatte. Shane Miller schaute sie verwundert an. »Warum nicht? So was kann ziemlich lustig werden.« Ob Jim Cleary wohl hinkommt? Ob er wohl verheiratet ist und Kinder hat? Was würde er wohl zu ihr sagen? Tut mir leid, daß ich nicht zum Bahnhof kommen konnte? Entschuldige, daß ich dich angelogen habe, als ich sagte, ich möchte dich heiraten? »Ich fahre nicht hin.« Aber Ashley mußte immer wieder an die Einladung denken. Es wäre bestimmt schön, ein paar alte Klassenkameraden wiederzusehen, dachte sie. Mit dem einen oder der anderen war sie gut befreundet gewesen. Vor allem mit Florence Schiffer. Was mag wohl aus der geworden sein? Und sie fragte sich, ob sich in einer Stadt wie Bedford jemals etwas ändern würde. Ashley Patterson war in Bedford aufgewachsen, einer Kleinstadt in Pennsylvania, etwa zwei Autostunden östlich von Pittsburgh mitten in den Allegheny Mountains gelegen. Ihr Vater war Chef des Memorial Hospital of Bedford County gewesen, eines der hundert besten Krankenhäuser im ganzen Land. Es war wunderbar gewesen, in einer Stadt wie Bedford aufzuwachsen. Es gab zahlreiche Parks, in denen man picknicken konnte, in den Flüssen wimmelte es von Fischen, und das ganze Jahr über war allerlei geboten. Ashley freute sich auf die Ausflüge ins Big Valley, wo es eine Amischen-Kolonie gab. Von Pferden gezogene Einspänner mit unterschiedlich gefärbtem Verdeck, je nachdem, wie streng es der Besitzer mit seinem Glauben nahm, waren dort ein alltäglicher Anblick. Außerdem fanden Abenteuerabende statt, Theaterveranstaltungen und das große Kürbisfestival. Beim Gedanken an die schöne Zeit, die sie dort verbracht hatte, mußte Ashley lächeln. Vielleicht fahre ich doch hin, dachte sie. Jim Cleary traut sich bestimmt nicht zu kommen. Ashley berichtete Shane Miller von ihrem Entschluß. »Ich fahre am Freitag nächster Woche hin«, sagte sie. »Am Sonntag abend bin ich wieder zurück.« »Fein. Sag mir Bescheid, wann du ankommst. Ich hole dich am Flughafen ab.« »Vielen Dank, Shane.« Nach dem Mittagessen begab sich Ashley wieder in ihr Kabuff und schaltete den Computer ein. Sie traute ihren Augen kaum, als zahllose Pünktchen über den Monitor flimmerten und sich allmählich zu einem Bild formierten. Verdutzt starrte sie auf den Schirm. Dort entstand langsam ein Ebenbild von ihr. Dann sah Ashley voller Entsetzen, wie am oberen Rand des Monitors eine Hand auftauchte, die ein Schlachtermesser hielt. Sie stieß nach ihrem Ebenbild, als wollte sie ihr das Messer in die Brust rammen. »Nein!« schrie Ashley. Sie sprang auf und stellte den Computer ab. Shane Miller kam zu ihr gestürzt. »Ashley! Was ist los?« Sie zitterte am ganzen Leib. »Da - auf dem Bildschirm -« Shane schaltete den Computer ein. Am Monitor tauchte ein Kätzchen auf, das ein Garnknäuel über eine grüne Wiese kullerte. Shane drehte sich um und schaute Ashley verständnislos an. »Was -?« »Es ist - es ist wieder weg«, flüsterte sie. »Was ist wieder weg?« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich - ich hatte in letzter Zeit allerhand um die Ohren, Shane. Entschuldige bitte.« »Warum redest du nicht mal mit Dr. Speakman?« Ashley war schon einmal bei Dr. Speakman gewesen. Er war der Firmenpsychologe, eigens dafür engagiert, daß er den Computergenies mit gutem Rat beistand, wenn sie vor Streß nicht mehr ein noch aus wußten. Zwar war er kein Mediziner, aber er war intelligent und verständnisvoll, und außerdem konnte es nichts schaden, wenn sie mit jemandem redete. »Genau, das mache ich«, sagte Ashley. Dr. Ben Speakman war Mitte Fünfzig, an diesem Born der Jugend also geradezu ein Methusalem. Sein gemütliches Büro lag am anderen Ende des Gebäudes und war eine Oase der Ruhe. »Ich hatte letzte Nacht einen schrecklichen Traum«, sagte Ashley. Sie schloß die Augen und ließ ihn noch einmal Revue passieren. »Ich bin gerannt. Ich war in einem riesigen Garten voller wilder Blumen. Sie hatten unheimliche, häßliche Gesichter ... Sie haben auf mich eingeschrien ... Ich konnte kein Wort verstehen. Ich bin nur gerannt, auf irgend etwas zu . Ich weiß nicht, was es war .« Sie hielt inne und schlug die Augen auf. »Wäre es möglich, daß Sie vor etwas davongerannt sind? Hat Sie irgend etwas verfolgt?« »Ich weiß es nicht. Ich - ich glaube, daß man mir nachstellt, Dr. Speakman. Es klingt verrückt, aber - ich glaube, jemand will mich umbringen.« Er musterte sie einen Moment lang. »Wer sollte Sie denn umbringen wollen?« »Ich - ich habe keine Ahnung.« »Haben Sie gesehen, daß Ihnen jemand nachstellt?« »Nein.« »Sie leben allein, nicht wahr?« »Ja.« »Treffen Sie sich ab und zu mit jemandem? Privat, meine ich?« »Nein. Im Augenblick nicht.« »Dann ist es also eine Weile her, daß Sie - ich meine, wenn eine Frau keinen festen Partner hat, kann es vorkommen, daß es - nun ja, zu einer Art körperlichen Anspannung kommt .« Er will mir damit sagen, daß ich mal wieder tüchtig - sie brachte es nicht über sich, das Wort auszusprechen. Sie hörte förmlich, wie ihr Vater sie anbrüllte. Sprich dieses Wort nie wieder aus. Die Leute denken ja, du wärst eine kleine Schlampe. Anständige Menschen sagen nicht »vögeln«. Wo hast du denn diese Ausdrucksweise her? »Meiner Meinung nach haben Sie einfach zuviel gearbeitet, Ashley. Ich glaube nicht, daß Sie sich deswegen Sorgen zu machen brauchen. Vermutlich ist es nur die Anspannung. Treten Sie eine Zeitlang ein bißchen kürzer. Gönnen Sie sich etwas mehr Ruhe.« »Ich werd’s versuchen.« Shane Miller wartete bereits auf sie. »Was hat Dr. Speakman gesagt?« Ashley rang sich ein Lächeln ab. »Er sagt, es ist alles in Ordnung. Ich arbeite nur zuviel.« »Tja, dann müssen wir etwas dagegen tun«, sagte Shane. »Fangen wir doch gleich damit an. Wie wär’s, wenn du dir den restlichen Tag freinimmst?« Er klang sehr besorgt. »Danke.« Sie schaute ihn an und lächelte. Er war ein lieber Kerl. Ein guter Freund. Er kann es nicht sein, dachte Ashley. Niemals. In der darauffolgenden Woche mußte Ashley immer wieder an das bevorstehende Klassentreffen denken. Ob es wohl ein Fehler ist, wenn ich dort hinfahre? Was ist, wenn Jim Cleary doch aufkreuzt? Weiß er überhaupt, wie sehr er mich verletzt hat? Macht es ihm etwas aus? Kann er sich überhaupt noch an mich erinnern? In der Nacht vor ihrer Abreise nach Bedford konnte Ashley nicht schlafen. Am liebsten hätte sie den Flug storniert. Ich bin albern, dachte sie. Was vorbei ist, ist vorbei. Als Ashley am nächsten Morgen ihr Flugticket abholte, warf sie einen kurzen Blick darauf und stutzte dann. »Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor«, sagte sie. »Ich fliege in der Touristenklasse. Aber das ist ein Ticket für die erste Klasse.« »Ja. Sie haben doch umgebucht.« Sie starrte den Mann am Schalter an. »Was habe ich?« »Sie haben angerufen und gesagt, Sie möchten auf die erste Klasse umbuchen.« Er zeigte Ashley einen Beleg. »Ist das Ihre Kreditkartennummer?« Sie warf einen Blick darauf. »Ja ...«, sagte sie tonlos. Sie wußte genau, daß sie nicht angerufen hatte. Ashley traf zeitig ein und mietete sich ein Zimmer im Bedford Springs Resort. Die offizielle Wiedersehensfeier begann erst um sechs Uhr abends. Bis dahin wollte sie ein bißchen die Stadt erkunden. Sie besorgte sich vor dem Hotel ein Taxi. »Wohin soll’s gehen, Miss?« »Fahren Sie einfach ein bißchen durch die Gegend.« Wenn man nach vielen Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt, kommt sie einem normalerweise kleiner vor, als man sie in Erinnerung hat, aber Ashley hatte den Eindruck, daß Bedford eher größer wirkte. Das Taxi fuhr die altbekannten Straßen auf und ab, an der Bedford Gazette vorbei, am Gebäude des lokalen Fernsehsenders WKYE, an etlichen vertrauten Restaurants und Galerien. Das Baker’s Loaf of Bedford, ihre alte Lieblingsbäckerei, gab es immer noch, desgleichen Clara’s Place, das Fort Bedford Museum und das Old Bedford Village. Sie passierten das Memorial Hospital, einen anmutigen zweistöckigen Ziegelbau, dessen Vorderseite von Säulen gesäumt war. Hier hatte es ihr Vater zu Ruhm und Ehren gebracht. Wieder fielen ihr die lauten Streitgespräche ihrer Eltern ein. Es war immer um das gleiche gegangen. Aber worum? Sie wußte es nicht mehr. Um fünf Uhr kehrte Ashley ins Hotel zurück. Sie zog sich dreimal um und konnte sich immer noch nicht entscheiden, was sie tragen sollte. Schließlich wählte sie ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihrer Figur schmeichelte. Als Ashley die festlich geschmückte Turnhalle der HighSchool betrat, sah sie rundum etwa hundertzwanzig Personen, die ihr vage vertraut vorkamen. Ein paar ihrer alten Klassenkameraden hätte sie beim besten Willen nicht mehr erkannt; andere hingegen hatten sich kaum verändert. Ashley aber hielt zunächst nur nach Jim Cleary Ausschau. Ob er sich wohl sehr verändert hat? Hat er vielleicht seine Frau dabei? Etliche Leute kamen auf sie zu. »Hallo, Ashley, ich bin Trent Waterson. Toll siehst du aus!« »Danke. Du auch, Trent.« »Ich möchte dir meine Frau vorstellen .« »Du bist doch Ashley, nicht wahr?« »Ja, äh -« »Art. Art Davies. Kannst du dich noch an mich erinnern?« »Natürlich.« Er war schlecht gekleidet und fühlte sich sichtlich unwohl. »Wie geht’s dir denn, Art?« »Tja, weißt du, ich wollte ja eigentlich Ingenieur werden, aber irgendwie hat das nicht hingehaun.« »Tut mir leid.« »Na, und dann bin ich halt Maschinenbauer geworden.« »Ashley! Lenny Holland, erinnerst du dich? Meine Güte, du siehst wunderbar aus!« »Besten Dank, Lenny.« Er hatte zugenommen und trug einen schweren Diamantring am kleinen Finger. »Ich mach’ jetzt in Immobilien. Läuft bestens. Bist du inzwischen in festen Händen?« Ashley zögerte. »Nein.« »Kannst du dich noch an Nicki Brandt erinnern? Wir sind miteinander verheiratet. Wir haben Zwillinge.« »Herzlichen Glückwunsch.« Kaum zu glauben, wie sehr sich Menschen innerhalb von zehn Jahren verändern konnten. Den einen ging es offensichtlich gut, andere wirkten eher heruntergekommen. Etliche waren verheiratet, ein paar schon wieder geschieden . einige hatten Familie, andere waren kinderlos. Sie aßen gemeinsam zu Abend, und anschließend gab es Musik und Tanz. Ashley unterhielt sich mit ihren ehemaligen Klassenkameraden und erfuhr nach und nach, wie es ihnen ergangen war, doch sie mußte fortwährend an Jim Cleary denken. Bislang hatte er sich noch nicht blicken lassen. Er kommt bestimmt nicht mehr, sagte sie sich schließlich. Er weiß, daß ich möglicherweise hier bin, und hat Angst davor, mir unter die Augen zu treten. Eine attraktive Frau sprach sie an. »Ashley! Ich hatte ja so darauf gehofft, daß ich dich hier sehe.« Es war Florence Schiffer. Ashley freute sich von ganzem Herzen über das Wiedersehen. Florence war eine ihrer besten Freundinnen gewesen. Sie suchten sich einen Tisch in einer abgelegenen Ecke, wo sie ungestört miteinander plaudern konnten. »Du siehst großartig aus, Florence«, sagte Ashley. »Du aber auch, ‘tschuldige, daß ich so spät komme. Aber dem Kleinen ging’s nicht besonders gut. Ich hab’ nämlich geheiratet, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, bin aber schon wieder geschieden. Ich habe jetzt den absoluten Traummann an der Hand. Und was ist mit dir? Du bist nach der Abschlußfeier einfach abgehauen. Ich hab’ mich noch nach dir erkundigt, aber irgend jemand hat gesagt, daß du weggezogen wärst.« »Ich bin nach London gegangen«, sagte Ashley. »Mein Vater hat mich dort auf einem College angemeldet. Wir sind am nächsten Morgen abgereist.« »Ich hab’ Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, weil ich unbedingt erfahren wollte, wo du abgeblieben bist. Die Polizei hat nämlich gedacht, ich wüßte, wo du steckst. Die haben dich gesucht, weil du seinerzeit mit Jim Cleary gegangen bist.« »Die Polizei?« sagte Ashley tonlos. »Ja. Die Kripo, die Polizisten, die wegen dem Mord ermittelt haben.« Ashley spürte, daß sie kreidebleich wurde. »Was - was für ein Mord?« Florence starrte sie an. »Mein Gott. Weißt du das etwa nicht?« »Was denn?« herrschte Ashley sie an. »Wovon redest du überhaupt?« »Am Tag nach der Abschlußfeier sind Jims Eltern nach Hause gekommen und haben seine Leiche gefunden. Jemand hat ihn erstochen und entmannt.« Vor Ashley s Augen drehte sich alles. Sie hielt sich an der Tischkante fest. Florence ergriff sie am Arm. »Tut mir - tut mir leid, Ashley. Ich dachte, du hättest es aus der Zeitung erfahren. Aber natürlich, du warst ja unterwegs nach London.« Ashley kniff die Augen zusammen. Sie hatte das Bild noch genau vor Augen, wie sie sich aus dem Haus geschlichen hatte, um zu Jim Cleary zu gehen. Aber sie war umgekehrt und wieder nach Hause gegangen, weil sie bis zum nächsten Morgen hatte warten wollen. Wenn ich doch nur zu ihm gegangen wäre, dachte Ashley, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Und ich habe ihn all die Jahre gehaßt. Aber wer könnte ihn nur umgebracht haben? Wer -? Und sie hörte die Stimme ihres Vaters: Ab sofort lassen Sie die Finger von meiner Tochter. Haben Sie verstanden? Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, breche ich Ihnen sämtliche Knochen. Sie stand auf. »Entschuldige mich bitte, Florence. Ich - mir ist nicht ganz wohl.« Ashley flüchtete förmlich von der Fete. Die Polizisten. Sie mußten sich doch mit ihrem Vater in Verbindung gesetzt haben. Warum hat er es mir nicht erzählt? Sie buchte einen Platz in der ersten Maschine, die nach Kalifornien ging. Der Morgen brach bereits an, als sie endlich einschlief. Und dann hatte sie einen Alptraum. Sie sah eine Gestalt im Dunkeln stehen, die Jim anschrie und auf ihn einstach. Dann trat der Mörder ins Licht. Es war ihr Vater. 5 Ashley fühlte sich monatelang elend. Immer wieder hatte sie Jim Clearys blutigen, verstümmelten Körper vor Augen. Sie überlegte, ob sie Dr. Speakman noch einmal aufsuchen sollte, wußte aber auch, daß sie mit niemandem darüber sprechen konnte. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie ihrem Vater eine derart schreckliche Tat auch nur in Gedanken zugetraut hatte. Schließlich verdrängte sie all diese Überlegungen und versuchte sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Aber es ging nicht. Bestürzt musterte sie die Graphik, die sie gerade verpfuscht hatte. Shane Miller betrachtete sie mit sorgenvoller Miene. »Ist alles in Ordnung, Ashley?« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Mir geht’s gut.« »Die Sache mit deinem Freund tut mir wirklich leid.« Sie hatte ihm von Jim erzählt. »Ich - ich komme schon drüber weg.« »Wollen wir heute abend zusammen essen gehen?« »Danke, Shane. Aber ich - mir ist nicht danach zumute. Nächste Woche vielleicht.« »Schön. Wenn ich irgendwas für dich tun kann -« »Vielen Dank. Momentan kann mir niemand helfen.« »Der kleinen Zimtzicke macht irgendwas zu schaffen«, sagte Toni zu Alette. »Na, die kann mich mal.« »Sie tut mir leid. Sie ist sehr betrübt.« »Pfeif drauf. Wir haben alle unser Bündel zu tragen, nicht wahr, meine Liebe?« Als Ashley an diesem Nachmittag nach Hause gehen wollte, hielt Dennis Tibble sie auf. »Hallo, Schätzchen. Du könntest mir einen Gefallen tun.« »Entschuldige, Dennis, aber ich -« »Komm schon. Sei nicht so sauertöpfisch!« Er nahm Ashley am Arm. »Ich brauche ein bißchen Beratung aus weiblicher Sicht.« »Dennis, ich bin nicht in der -« »Ich habe mich in jemanden verliebt und möchte die Betreffende heiraten, aber es gibt da ein Problem. Willst du mir dabei helfen?« Ashley zögerte. Eigentlich mochte sie Dennis Tibble nicht, aber was konnte es schon schaden, wenn sie ihm zu helfen versuchte? »Hat das nicht bis morgen -« »Ich muß das auf der Stelle geregelt kriegen. Es ist echt dringend.« Ashley atmete tief durch. »Na schön.« »Können wir zu dir gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Dort würde sie ihn nie und nimmer loswerden. »Würdest du kurz mit zu mir kommen?« Ashley zögerte einen Moment. »Von mir aus.« Dann kann ich wenigstens gehen, wenn ich will. Vielleicht läßt er mich ja endlich in Ruhe, wenn ich ihm in seinen Liebesdingen weiterhelfen kann. »Jesses!« sagte Toni zu Alette. »Die tugendsame Unschuld vom Lande läßt sich zu diesem Lüstling in die Wohnung locken. Wie kann man nur so blöde sein? Ist die nicht mehr bei Trost?« »Sie will ihm doch bloß helfen. Was ist denn schon dabei -« »Ach, hör auf, Alette. Wo kommst du denn her? Der Macker will sie aufs Kreuz legen.« »Non va. Non si fa cosi.« »Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.« Dennis Tibbles Wohnung war der reinste Alptraum in Neon. Die Wände hingen voller Poster. Hauptsächlich Plakate von alten Horrorfilmen, daneben Nacktmodelle und wilde Tiere beim Fressen. Auf den Tischen rundum standen allerlei erotische Schnitzereien. So sieht die Wohnung eines Wahnsinnigen aus, dachte Ash-ley. Am liebsten wäre sie auf der Stelle wieder gegangen. »Hey, schön, daß du mitgekommen bist, Schätzchen. Ich weiß das echt zu schätzen. Wenn du -« »Ich kann nicht lang bleiben, Dennis«, wandte Ashley ein. »Erzähl mir von der Frau, in die du verliebt bist.« »Die ist echt ‘ne Wucht.« Er hielt ihr die Zigarettenschachtel hin. »Willst du eine?« »Ich rauche nicht.« Sie sah zu, wie er sich Feuer gab. »Was zu trinken?« »Ich trinke nicht.« Er grinste. »Du rauchst nicht, du trinkst nicht. Damit bleibt ja bloß noch eins übrig, oder?« »Dennis«, versetzte sie. »Wenn du nicht auf -« »Hab ja nur Spaß gemacht.« Er ging zur Bar und goß sich ein Glas Wein ein. »Nimm doch ein Gläschen Wein. Schadet bestimmt nichts.« Er reichte ihr ein Glas. Sie trank einen Schluck. »Also, was ist nun mit der Frau deines Lebens?« Dennis Tibble ließ sich neben Ashley auf der Couch nieder. »So eine ist mir noch nie untergekommen. Sie sieht genauso scharf aus wie du, und -« »Hör auf, oder ich gehe auf der Stelle.« »Hey, das sollte ein Kompliment sein. Jedenfalls ist sie ganz verrückt nach mir, aber ihre Eltern sind ziemlich etepetete, und sie können mich nicht ausstehen.« Ashley sagte nichts dazu. »Die Sache sieht also folgendermaßen aus: Wenn ich darauf dränge, heiratet sie mich, aber damit sagt sie sich von ihrer Familie los. Sie hängt sehr an ihren Leuten, und wenn sie sich mit mir einläßt, wollen die garantiert nichts mehr von ihr wissen. Und eines Tages wirft sie es mir vielleicht vor. Verstehst du, worum es mir geht?« Ashley trank einen Schluck Wein. »Ja. Ich ...« Anschließend konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Langsam kam sie zu sich, und sie wußte sofort, daß irgend etwas scheußlich schiefgegangen war. Sie kam sich völlig benebelt vor, so als wäre sie unter Drogen gesetzt worden. Nur mit Mühe brachte sie die Augen auf. Ashley blickte sich um und bekam es mit der Angst zu tun. Sie lag splitternackt in einem fremden Bett, in einem billigen Hotelzimmer. Sie richtete sich auf und bekam prompt hämmernde Kopfschmerzen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Auf dem Nachttisch stand eine Karte für den Zimmerservice. Sie streckte den Arm aus und zog sie zu sich. Chicago Loop Hotel stand dort. Fassungslos starrte sie darauf. Wie komme ich nach Chicago? Wie lange bin ich hier schon? Am Freitag bin ich mit Dennis Tibble nach Hause gegangen. Was für ein Tag ist heute? Bangen Herzens griff sie zum Telefon. »Womit kann ich dienen?« Ashley brachte kaum ein Wort heraus. »Was - was für einen Tag haben wir?« »Heute ist der siebzehnte -« »Nein. Ich meine, was für ein Wochentag heute ist.« »Oh. Heute ist Montag. Kann ich -« Wie benommen legte Ashley den Hörer auf. Montag. Mir fehlen zwei volle Tage. Sie setzte sich auf die Bettkante, versuchte sich zu erinnern. Sie war mit Dennis Tibble nach Hause gegangen ... Sie hatte ein Glas Wein getrunken ... Danach war da nur noch ein schwarzes Loch. Er mußte ihr irgend etwas in den Wein getan haben. Sie hatte in der Zeitung gelesen, daß so etwas gelegentlich vorkam, wenn Männer sich jemanden gefügig machen wollten. K.O.-Tropfen nannte man so etwas. Genau das mußte er ihr gegeben haben. Das ganze Gerede von wegen, daß sie ihn beraten sollte, war nur eine Finte gewesen. Und ich bin darauf reingefallen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zum Flughafen gelangt und nach Chicago gekommen war, geschweige denn, wie sie mit Tibble in diesem schäbigen Hotelzimmer gelandet war. Und sie wußte auch nicht mehr - und das war das allerschlimmste -, was in diesem Hotelzimmer passiert war. Ich muß hier schleunigst weg, dachte Ashley verzweifelt. Sie kam sich schmutzig vor, mißbraucht. Was hatte er mit ihr angestellt? Sie wollte gar nicht daran denken. Sie stand auf, ging in das kleine Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Sie ließ das heiße Wasser über sich strömen und versuchte all den Schmutz wegzuspülen, der an ihr haftete. Und wenn er sie geschwängert hatte? Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr übel. Ashley stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und ging zum Kleiderschrank. Ihre Sachen waren nicht da. In dem Schrank hing nur ein Minirock aus schwarzem Leder, dazu ein hautenges, nuttig wirkendes Oberteil und ein Paar hohe Stöckelschuhe. Sie ekelte sich vor diesem Zeug, doch etwas anderes hatte sie nicht. Sie zog sich rasch an und betrachtete sich kurz im Spiegel. Sie sah aus wie eine Prostituierte. Ashley warf einen Blick in ihre Handtasche. Sie hatte nur vierzig Dollar dabei. Aber ihr Scheckheft und die Kreditkarte waren noch da. Gott sei Dank! Sie trat hinaus auf den Flur. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie fuhr mit dem Aufzug in das schäbige Foyer hinab und begab sich zur Rezeption. Sie reichte dem älteren Herrn, der offenbar für die Kasse zuständig war, ihre Kreditkarte. »Wollen Sie uns schon verlassen?« Er verzog lüstern den Mund. »Na, Sie haben jedenfalls Ihren Spaß gehabt, was?« Ashley starrte ihn an. Sie wollte gar nicht wissen, worauf er anspielte. Sie hätte ihn gern gefragt, wann Dennis Tibble abgereist war, entschied sich dann aber, daß es besser war, ihn nicht darauf anzusprechen. Der Kassierer schob ihre Kreditkarte in den Apparat. Er runzelte die Stirn und versuchte es erneut. »Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Die Karte geht nicht. Sie haben Ihr Konto überzogen.« Ashley sperrte den Mund auf. »Das ist doch unmöglich! Da muß ein Irrtum vorliegen!« Der Kassierer zuckte die Achseln. »Haben Sie eine andere Kreditkarte?« »Nein. Habe ich - habe ich nicht. Nehmen Sie auch einen Scheck?« Mißbilligend musterte er ihre Aufmachung. »Von mir aus. Wenn Sie einen Ausweis dabeihaben.« »Ich müßte mal kurz telefonieren .« »Das Münztelefon ist in der Ecke da hinten.« »San Francisco Memorial.« »Dr. Steven Patterson bitte.« »Einen Moment bitte.« »Büro Dr. Patterson.« »Sarah? Hier ist Ashley. Ich müßte mal kurz meinen Vater sprechen.« »Tut mir leid, Miss Patterson. Er ist gerade im OP und -« Ashley umklammerte den Hörer. »Wissen Sie, wann er zurückkommt?« »Schwer zu sagen. Ich weiß nur, daß danach noch eine andere Operation ansteht -« Ashley konnte sich nur mehr mühsam beherrschen. »Ich muß mit ihm sprechen. Es ist dringend. Könnten Sie ihm bitte Bescheid sagen? Er soll mich anrufen, sobald er dazu kommt.« Sie suchte die Nummer des Münztelefons und gab sie der Empfangsdame ihres Vaters durch. »Ich warte hier, bis er sich meldet.« »Ich sage ihm Bescheid.« Sie saß fast eine Stunde lang im Foyer und wünschte sich sehnlichst, daß das Telefon endlich läuten möge. Die Leute, die vorbeikamen, starrten sie an oder begafften sie lüstern, so daß sie sich in ihrem billigen Fummel wie nackt vorkam. Sie schrak auf, als das Telefon endlich klingelte. Sie eilte zum Münzapparat. »Hallo .« »Ashley?« Es war ihr Vater. »Vater, ich -« »Was ist los?« »Ich bin in Chicago und -« »Was machst du denn in Chicago?« »Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Ich brauche ein Flugticket nach San Jose. Ich habe kein Geld dabei. Kannst du mir helfen?« »Selbstverständlich. Warte einen Moment.« Drei Minuten später meldete sich ihr Vater zurück. »Um zehn Uhr vierzig geht eine Maschine der American Airlines ab O’Hare. Flugnummer 407. Am Abfertigungsschalter liegt ein Ticket für dich bereit. Ich hole dich am Flughafen von San Jose ab und -« »Nein!« In dieser Aufmachung konnte sie ihm nicht unter die Augen treten. »Ich - ich muß erst nach Hause und mich umziehen.« »Na schön. Ich komme vorbei und hole dich zum Essen ab. Dann kannst du mir alles erzählen.« »Danke, Vater. Vielen Dank.« Auf dem Heimflug dachte Ashley darüber nach, was Dennis Tibble ihr angetan hatte. Es war unverzeihlich. Ich muß zur Polizei gehen, dachte sie. Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen. Mit wie vielen Frauen hat er wohl schon das gleiche Ashley kam sich vor, als wäre sie in ihren Unterschlupf zurückgekehrt, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloß. Sie konnte es kaum erwarten, aus den nuttigen Sachen herauszukommen. Sie zog sie so schnell wie möglich aus. Sie hatte das Gefühl, daß sie noch einmal duschen sollte, bevor sie sich mit ihrem Vater traf. Sie wollte zum Kleiderschrank gehen, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Auf der Frisierkommode vor ihr lag eine Zigarettenkippe. Sie saßen an einem Ecktisch in einem Restaurant namens The Oaks. Ihr Vater musterte sie besorgt: »Was hast du in Chicago gemacht?« »Ich - ich weiß es nicht.« Verdutzt blickte er sie an. »Du weißt es nicht?« Ashley zögerte, überlegte sich, ob sie ihm erzählen sollte, was vorgefallen war. Vielleicht konnte er ihr einen Rat geben. »Dennis Tibble hat mich zu sich nach Hause eingeladen«, sagte sie langsam. »Ich sollte ihm bei etwas helfen ...« »Dennis Tibble? Diese Ratte?« Vor langer Zeit hatte Ashley ihrem Vater die Leute vorgestellt, mit denen sie zusammenarbeitete. »Wie konntest du dich nur mit dem einlassen?« Ashley wußte sofort, daß sie einen Fehler begangen hatte. Ihr Vater reagierte immer allzu heftig, wenn sie irgendwelche Unannehmlichkeiten hatte. Vor allem, wenn ein Mann dahintersteckte. Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, Cleary, breche ich Ihnen sämtliche Knochen. »Das spielt doch keine Rolle.« »Ich möchte es aber wissen.« Ashley saß einen Moment lang reglos da. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. »Na ja, ich habe bei Dennis ein Glas Wein getrunken und .« Sie sah, wie die Miene ihres Vaters immer finsterer wurde, während sie erzählte. Der Blick, den er ihr zuwarf, war geradezu zum Fürchten. Sie versuchte die Geschichte so kurz wie möglich zu halten. »Nein«, beharrte ihr Vater. »Ich will alles hören .« Ashley war viel zu erschöpft, um einschlafen zu können, als sie an diesem Abend zu Bett ging. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn bekannt wird, was Dennis mir angetan hat, bin ich blamiert. Jeder in der Firma weiß dann, was mir passiert ist. Aber ich kann nicht zulassen, daß er das auch mit anderen macht. Ich muß mich an die Polizei wenden. Man hatte sie gewarnt, daß Dennis wie besessen von ihr sei, aber sie hatte es nicht beachtet. Jetzt, im nachhinein, erkannte sie all die kleinen Hinweise: Dennis konnte es nicht ausstehen, wenn sie mit jemand anderem redete; er wollte ständig mit ihr ausgehen, hatte sie ständig belauscht . Wenigstens weiß ich jetzt, wer mir nachstellt, dachte Ashley. Am nächsten Morgen um halb neun, als Ashley gerade zur Arbeit gehen wollte, klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab. »Hallo.« »Ashley - Shane hier. Hast du die Nachricht schon gehört?« »Was für eine Nachricht?« »Es kam gerade im Fernsehen. Man hat Dennis Tibble tot aufgefunden.« Einen Moment lang meinte Ashley den Boden unter den Füßen zu verlieren. »O mein Gott! Was ist passiert?« »Nach Auskunft der Polizei hat ihn jemand erstochen und entmannt.« 6 Deputy-Sheriff Sam Blake hatte seinen Posten bei der Sheriffdienststelle von Cupertino auf die denkbar härteste Art erworben: Er hatte Serena Dowling geheiratet, die Schwester des Sheriffs, eine wahre Xanthippe, die wegen ihrer messerscharfen Zunge weithin berüchtigt war. Sam Blake war der einzige Mann in Serenas Leben, der mit ihr umgehen konnte. Er war ein kleiner, sanftmütiger Mensch, der eine Engelsgeduld hatte. Serena konnte sich noch so unmöglich aufführen - er wartete einfach, bis sie sich ausgetobt hatte, und redete dann in aller Ruhe mit ihr. Sam Blake war bei der Sheriffdienststelle gelandet, weil Sheriff Matt Dowling sein bester Freund war. Sie waren zusammen aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegangen. Blake gefiel die Arbeit bei der Polizei, und er war ein hervorragender Polizist. Er war intelligent und scharfsinnig und konnte so hartnäckig sein, daß es fast schon an Starrsinn grenzte. Nicht umsonst galt er als der beste Ermittler der Dienststelle. An diesem Morgen hatten Sam Blake und Sheriff Dowling zusammen Kaffee getrunken. »Ich habe gehört, daß meine Schwester dir letzte Nacht wieder die Hölle heiß gemacht hat«, sagte Sheriff Dowling. »Wir haben etliche Anrufe von Nachbarn erhalten, die sich über den Lärm beschwert haben. Serena hat ein fürchterliches Organ.« Sam zuckte die Schultern. »Ich habe sie schon wieder beruhigt, Matt.« »Gott sei Dank, daß ich nicht mehr mit ihr zusammenleben muß. Ich weiß nicht, was manchmal in sie fährt. Ihre Tobsuchtsanfälle sind -« Ihr Gespräch wurde jäh unterbrochen. »Sheriff - wir haben gerade einen Notruf erhalten. Drüben an der Sunnyvale Avenue ist jemand ermordet worden.« Sheriff Dowling schaute Sam Blake an. Blake nickte. »Ich übernehm’ das.« Eine Viertelstunde später betrat Deputy Blake Dennis Tibbles Wohnung. Im Wohnzimmer redete ein Polizeibeamter mit dem Hauswart. »Wo ist der Tote?« fragte Blake. Der Polizeibeamte deutete mit dem Kopf zur Schlafzimmertür. »Da drin, Sir.« Er wirkte blaß. Blake ging ins Schlafzimmer und blieb erschrocken stehen. Ein nackter Mann lag quer auf dem Bett, und der ganze Raum triefte förmlich vor Blut. Als er näher trat, sah er, woher das ganze Blut kam. Offenbar hatte ihm jemand immer wieder den scharfen Zackenrand einer zerschlagenen Flasche in den Rücken gerammt, denn in der Haut steckten Glassplitter. Außerdem waren dem Opfer die Hoden abgeschnitten worden. Beim bloßen Anblick schmerzte Blake der Unterleib. »Wie bringt ein Mensch so was nur fertig?« sagte er laut. Die Waffe war nirgendwo zu sehen, aber sie würden noch gründlich danach suchen. Deputy Blake ging wieder ins Wohnzimmer und wandte sich an den Hauswart. »Haben Sie den Toten gekannt?« »Ja, Sir. Er hat hier gewohnt.« »Wie heißt er?« »Tibble. Dennis Tibble.« Deputy Blake machte sich eine Notiz. »Seit wann wohnt er hier?« »Seit fast drei Jahren.« »Was können Sie mir sonst noch über ihn sagen?« »Nicht allzuviel. Tibble hat ziemlich zurückgezogen gelebt, hat immer pünktlich die Miete bezahlt. Ab und zu hat er ‘ne Frau mit nach Hause gebracht. Meiner Meinung nach waren das meistens Huren.« »Wissen Sie, wo er gearbeitet hat?« »O ja. Bei der Global Computer Graphics Corporation. Er war einer von diesen Computerfreaks.« Deputy Blake machte sich eine weitere Notiz. »Wer hat die Leiche gefunden?« »Maria. Eine der Putzfrauen. Wir haben insgesamt sechs, die jeden -« »Ich möchte mir ihr reden.« »Ja, Sir. Ich hol’ sie.« Es war eine dunkelhäutige Brasilianerin, etwa Mitte Vierzig, die nervös und verängstigt wirkte. »Sie haben die Leiche entdeckt, Maria?« »Ich hab’s nicht getan. Ich schwör’s Ihnen.« Sie sah aus, als ob sie jeden Moment einen hysterischen Anfall bekommen könnte. »Brauch’ ich einen Anwalt?« »Nein. Sie brauchen keinen Anwalt. Sagen Sie mir einfach, was passiert ist.« »Nichts ist passiert. Ich meine - ich bin heute morgen hier reingekommen, weil ich putzen wollte. So wie immer. Ich - ich hab’ gedacht, er wäre weg. Um sieben Uhr früh geht er normalerweise immer. Ich hab’ das Wohnzimmer aufgeräumt und -« Mist! »Maria, wissen Sie noch, wie das Zimmer ausgesehen hat, bevor Sie aufgeräumt haben?« »Was meinen Sie damit?« »Haben Sie irgend etwas verändert? Irgendwas weggeräumt?« »Tja, na ja. Eine zerbrochene Weinflasche hat am Boden gelegen. Sie war ganz klebrig. Und ich -« »Was haben Sie damit gemacht?« fragte er aufgeregt. »Ich hab’ sie in den Müllschlucker getan, der den Abfall zermahlt.« »Was haben Sie denn sonst noch gemacht?« »Na ja, ich hab’ den Aschenbecher ausgeleert und -« »Lagen irgendwelche Zigarettenkippen drin?« Sie dachte einen Moment nach. »Eine. Ich hab’ sie in den Abfalleimer in der Küche gekippt.« »Dann nehmen wir uns den doch mal vor.« Er folgte ihr in die Küche, und sie deutete auf die mit Lippenstift verschmierte Kippe, die im Mülleimer lag. Vorsichtig bugsierte Deputy Blake sie in die Plastiktüte. Er geleitete sie wieder ins Wohnzimmer. »Maria, wissen Sie, ob irgendwas aus dieser Wohnung fehlt? Haben Sie den Eindruck, daß irgend etwas Wertvolles verschwunden ist?« Sie blickte sich um. »Ich glaube nicht. Mr. Tibble hat so kleine Figürchen gesammelt. Hat einen Haufen Geld dafür ausgegeben. Anscheinend sind die alle noch da.« Ein Raubmord war es also nicht. Drogen eventuell? Ein Racheakt? Eine Liebesbeziehung, die in die Binsen gegangen war? »Was haben Sie gemacht, nachdem Sie aufgeräumt haben, Maria?« »Ich hab’ hier drin gesaugt, wie immer. Und dann -« Sie stockte einen Moment lang. »Dann bin ich ins Schlafzimmer gegangen und ... da hab’ ich ihn gesehen.« Sie blickte Deputy Blake an. »Ich schwör’ Ihnen, daß ich’s nicht getan hab’.« Kurz darauf trafen der Leichenbeschauer und seine Mitarbeiter ein. Sie hatten einen Plastiksack zum Abtransport des Opfers dabei. Drei Stunden später war Deputy Sam Blake wieder im Büro des Sheriffs. »Was hast du rausgekriegt, Sam?« »Nicht viel.« Deputy Blake nahm gegenüber vom Sheriff Platz. »Das Opfer hat drüben bei Global Computer Graphics gearbeitet. Dennis Tibble war offenbar so eine Art Genie.« »Aber anscheinend nicht genial genug, sonst hätte er sich nicht umbringen lassen.« »Er wurde nicht einfach umgebracht, Matt. Er wurde regelrecht abgeschlachtet. Du hättest mal sehen sollen, wie die Leiche zugerichtet war. Das muß irgendein Irrer gewesen sein.« »Keinerlei Anhaltspunkte?« »Wir wissen nicht genau, was die Mordwaffe war. Dazu müssen wir erst noch die Laboruntersuchung abwarten. Aber möglicherweise war es eine zerbrochene Weinflasche. Die Putzfrau hat sie in den Müllschlucker geworfen. Sieht so aus, als wäre auf einer der Scherben in seinem Rücken ein Fingerabdruck. Ich habe mit den Nachbarn geredet. Die konnten mir aber auch nicht weiterhelfen. Keiner hat jemanden aus der Wohnung kommen sehen oder irgendwelche verdächtigen Geräusche gehört. Tibble hat sich offenbar ziemlich abgeschottet. War nicht besonders gesellig. Eins konnten wir feststellen: Tibble muß unmittelbar vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt haben. Wir haben Vaginalsekret gefunden, Schamhaare und andere Hinweise. Dazu eine Zigarettenkippe mit Lippenstiftspuren. Das Labor macht gerade einen DNS-Test.« »Die Zeitungen werden das gewaltig ausschlachten, Sam. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir - WAHNWITZIGER MÖRDER sucht SILICON VALLEY heim.« Sheriff Dowling seufzte. »Wir sollten die Sache so schnell wie möglich aufklären.« »Ich fahre gleich rüber zu Global Computer Graphics.« Ashley hatte eine Stunde lang überlegt, ob sie ins Büro gehen sollte. Sie war hin- und hergerissen. Alle werden mir auf Anhieb ansehen, daß irgend etwas nicht stimmt. Aber wenn ich mich nicht blicken lasse, wollen sie bestimmt wissen, warum. Vermutlich ist die Polizei dort und erkundigt sich. Wenn sie mich vernehmen, muß ich ihnen die Wahrheit sagen. Die werden mir nicht glauben. Sie werden mich des Mordes an Dennis Tibble bezichtigen. Und wenn sie mir glauben und ich erzähle ihnen, daß mein Vater weiß, was er mir angetan hat, werden sie ihn verdächtigen. Sie mußte daran denken, wie Jim Cleary ums Leben gekommen war. Sie konnte Florences Stimme hören. Am Tag nach der Abschlußfeier sind Jims Eltern nach Hause gekommen und haben seine Leiche gefunden. Jemand hat ihn erstochen und ... entmannt. Ashley kniff die Augen zusammen. Mein Gott, was geht hier vor? Was geht hier bloß vor? Etliche Angestellte standen auf den Gängen herum und sprachen leise miteinander, als Deputy Blake in die Kreativabteilung von Global Computer Graphics kam. Blake konnte sich nur zu gut vorstellen, worüber sie sich unterhielten. Ashley beobachtete ihn ängstlich, als er sich zu Shane Millers Büro begab. Shane stand auf, als er eintrat. »Deputy Blake?« »Jawohl.« Die beiden gaben sich die Hand. »Nehmen Sie Platz, Deputy.« Sam Blake setzte sich. »Soweit ich weiß, hat Dennis Tibble hier gearbeitet.« »Ganz recht. Er war einer unserer besten Mitarbeiter. Ein schrecklicher Verlust.« »Und er war hier seit etwa drei Jahren beschäftigt?« »Ja. Er war unser Genie. Am Computer brachte er einfach alles zustande.« »Was wissen Sie über sein Privatleben?« Shane Miller schüttelte den Kopf. »Da bin ich leider überfragt. Tibble war eher ein Einzelgänger.« »Wissen Sie, ob er Drogen genommen hat?« »Dennis? Nie und nimmer. Er war ein Gesundheitsfanatiker.« »Hat er gespielt? Wäre es möglich, daß er jemandem Geld geschuldet hat?« »Nein. Er hat hier ein verdammt gutes Gehalt kassiert, aber meiner Meinung nach war er eher knauserig.« »Was ist mit Frauen? Hatte er eine feste Freundin?« »Die Frauen sind nicht gerade auf Tibble geflogen.« Er dachte einen Moment lang nach. »Aber in letzter Zeit hat er allen Leuten erzählt, daß er womöglich heiraten will.« »Hat er gesagt, wen er dabei im Sinn hatte?« Miller schüttelte den Kopf. »Nein. Mir jedenfalls nicht.« »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit ein paar Angestellten von Ihnen rede?« »Ganz und gar nicht. Nur zu. Aber sie sind alle ziemlich betroffen.« Die wären noch betroffener, wenn sie seine Leiche gesehen hätten, dachte Blake. Die beiden Männer begaben sich in den Arbeitsbereich. »Hört bitte mal alle zu«, rief Shane Miller. »Das ist Deputy Blake. Er möchte euch ein paar Fragen stellen.« Die Angestellten ließen ihre Arbeit liegen und horchten auf. »Ich gehe mal davon aus, daß Sie alle gehört haben, was mit Mr. Tibble passiert ist«, sagte Deputy Blake. »Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen, wenn wir den Mörder finden wollen. Weiß irgend jemand von Ihnen, ob er Feinde hatte? Ob ihn irgend jemand so gehaßt hat, daß er ihn womöglich umgebracht hat?« Niemand antwortete. Blake fuhr fort. »Angeblich hatte er eine Frau kennengelernt, die er heiraten wollte. Hat er mit jemandem darüber gesprochen?« Ashley bekam kaum noch Luft. Jetzt müßte sie sich eigentlich zu Wort melden. Jetzt müßte sie dem Polizisten berichten, was Tibble ihr angetan hatte. Aber Ashley mußte an die Miene ihres Vaters denken, als sie ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Man würde ihn des Mordes verdächtigen. Ihr Vater konnte niemanden umbringen. Er war Arzt. Er war Chirurg. Dennis Tibble war entmannt worden. ». und keiner von Ihnen hat ihn also noch einmal zu Gesicht bekommen, nachdem er am Freitag hier Feierabend gemacht hat?« sagte Deputy Blake. Na komm schon, du Landei, dachte Toni Prescott. Sag ihm, daß du mit zu ihm nach Hause gegangen bist. Warum rückst du nicht damit raus? Deputy Blake stand einen Moment lang da und versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Nun ja, falls jemandem noch was einfällt, was vielleicht von Nutzen sein könnte, wäre ich dankbar, wenn er oder sie mich anrufen würde. Mr. Miller hat meine Nummer. Besten Dank.« Sie schauten ihm nach, als er sich mit Shane in Richtung Ausgang entfernte. Ashley wurde fast schwindlig vor Erleichterung. Deputy Blake wandte sich an Shane. »Gibt es hier im Hause jemanden, dem er nahestand?« »Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Shane. »Ich glaube nicht, daß Dennis irgend jemandem nahestand. Eine unserer Computergraphikerinnen hatte es ihm offenbar angetan, aber daraus ist nichts geworden.« Deputy Blake blieb stehen. »Ist sie hier?« »Ja, aber -« »Ich möchte mit ihr reden.« »Na schön. Sie können in mein Büro gehen.« Ashley sah, wie sie umkehrten und auf ihr Kabuff zukamen. Sie spürte, daß sie rot anlief. »Ashley, Deputy Blake würde dich gern sprechen.« Er wußte also Bescheid. Er wollte sie wegen ihres Besuchs bei Dennis Tibble fragen. Ich muß vorsichtig sein, dachte Ashley. Der Polizist schaute sie an. »Macht es Ihnen etwas aus, Miss Patterson?« Sie nahm sich zusammen. »Nein, ganz und gar nicht«, versetzte sie. Sie folgte ihm in Shane Millers Büro. »Nehmen Sie Platz.« Sie setzten sich beide hin. »Meines Wissens hatte Dennis Tibble ein Auge auf Sie geworfen?« »Ich - ich nehme es ...« Aufpassen. »Ja.« »Sind Sie mit ihm ausgegangen?« Mit ihm nach Hause zu gehen ist nicht das gleiche, wie mit ihm auszugehen. »Nein.« »Hat er mit Ihnen über diese Frau gesprochen, die er angeblich heiraten wollte?« Sie geriet immer tiefer hinein. Nahm er ihr Gespräch womöglich auf Band auf? Vielleicht wußte er bereits, daß sie in Tibbles Wohnung gewesen war. Möglicherweise hatten sie ihre Fingerabdrücke gefunden. Jetzt sollte sie dem Kriminalpolizisten erzählen, was Tibble ihr angetan hatte. Aber wenn ich das mache, dachte Ashley verzweifelt, stoßen sie auf meinen Vater, und dann bringen sie es mit dem Mord an Jim Cleary in Verbindung. Wußten sie darüber ebenfalls Bescheid? Aber die Polizei in Bedford hatte keinerlei Anlaß, die Behörden in Cupertino von diesem Vorfall zu verständigen. Oder vielleicht doch? Deputy Blake betrachtete sie, während er auf eine Antwort wartete. »Miss Patterson?« »Was? Oh, tut mir leid. Diese Sache hat mich so aus der Fassung .« »Das kann ich verstehen. Hat Tibble jemals diese Frau erwähnt, die er heiraten wollte?« »Ja . aber er hat mir gegenüber keinen Namen genannt.« Wenigstens das stimmte. »Waren Sie jemals in Tibbles Wohnung?« Ashley holte tief Luft. Wenn sie nein sagte, war die Vernehmung vermutlich vorüber. Aber wenn man ihre Fingerabdrücke gefunden hatte . »Ja.« »Sie waren in seiner Wohnung?« »Ja.« Er schaute sie jetzt eindringlicher an. »Aber Sie haben doch gesagt, daß Sie nie mit ihm ausgegangen sind.« Ashleys Gedanken überschlugen sich. »Ganz recht. Nicht privat, nein. Ich habe ihm ein paar Unterlagen vorbeigebracht, die er vergessen hatte.« »Wann war das?« Sie fühlte sich in die Enge getrieben. »Vor ... vor etwa einer Woche.« »Und das war das einzige Mal, daß Sie in seiner Wohnung waren?« »Ganz recht.« Selbst wenn sie ihre Fingerabdrücke hatten, war sie jetzt fein heraus. Er saß da, musterte sie, und sie hatte Gewissensbisse. Am liebsten hätte sie ihm die Wahrheit gesagt. Vielleicht war irgendein Einbrecher bei ihm eingedrungen und hatte ihn umgebracht - der gleiche Einbrecher, der zehn Jahre zuvor und rund fünftausend Kilometer entfernt Jim Cleary umgebracht hatte. Wenn man an solche Zufälle glaubte. Wenn man an den Weihnachtsmann glaubte. Oder an die gute Fee. Zum Teufel mit dir, Vater. »Hier liegt ein schreckliches Verbrechen vor. Und anscheinend gibt es keinerlei Motiv. Aber wissen Sie, in all den Jahren, die ich nun schon bei der Polizei bin, ist mir noch nie ein Verbrechen untergekommen, für das es nicht irgendein Motiv gab.« Sie ging nicht darauf ein. »Wissen Sie, ob Dennis Tibble Drogen genommen hat?« »Ganz bestimmt nicht.« »Und womit haben wir es dann zu tun? Keine Drogen. Beraubt wurde er auch nicht. Und er hat niemandem Geld geschuldet. Bleiben also nur noch Gefühle übrig, nicht wahr? Eine verschmähte Geliebte, jemand, der eifersüchtig auf ihn war.« Oder ein Vater, der seine Tochter beschützen wollte. »Für mich ist das Ganze genauso rätselhaft wie für Sie, De-puty.« Er musterte sie einen Moment lang, und sie hatte den Eindruck, daß er ihr kein Wort glaubte. Deputy Blake stand auf. Er zückte eine Visitenkarte und reichte sie Ashley. »Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich anrufen würden.« »Aber gern.« »Guten Tag.« Sie schaute ihm nach, als er ging. Es ist vorbei, dachte sie. Vater ist noch mal davongekommen. Als Ashley an diesem Abend nach Hause kam, fand sie eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter vor. »Du hast mich letzte Nacht echt scharf gemacht, Schätzchen. Auch wenn sich nichts getan hat. Aber heute abend wirst du für mich dasein, so wie du’s versprochen hast. Zur selben Zeit am selben Ort.« Ashley stand da und meinte nicht recht zu hören. Allmählich schnappe ich über, dachte sie. Es hat nichts mit Vater zu tun. Jemand anders muß hinter dem Ganzen stecken. Aber wer? Und warum? Fünf Tage später erhielt Ashley eine Abrechung von ihrer Kreditkartengesellschaft. Es waren vor allem drei Posten, die ihr ins Auge stachen: Eine Rechnung über 450 Dollar vom Mod Dress Shop. Eine Rechnung über 300 Dollar vom Circus Club. Eine Rechnung über 250 Dollar von Louie’s Restaurant. Sie kannte weder das Modegeschäft noch den Club, noch das Restaurant. 7 Ashley Patterson verfolgte Tag für Tag in der Zeitung und im Fernsehen den Stand der Ermittlungen im Mordfall Dennis Tibble. Offenbar kam die Polizei keinen Schritt voran. Es ist vorbei, dachte Ashley. Ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen. An jenem Abend klingelte Deputy Sam Blake an ihrer Wohnungstür. Ashley schaute ihn sprachlos an, als er mit einemmal vor ihr stand. »Hoffentlich störe ich nicht«, sagte Blake. »Ich war gerade auf dem Heimweg und dachte, ich schau’ mal kurz vorbei.« Ashley schluckte. »Nein. Kommen Sie rein.« Deputy Blake ging in ihre Wohnung. »Hübsch haben Sie’s hier.« »Danke.« »Ich würde wetten, daß Dennis Tibble die Einrichtung nicht gefallen hat.« Ashley schlug das Herz im Halse. »Keine Ahnung. Er war nie hier.« »Ach. Wissen Sie, ich dachte nur, es hat sich vielleicht so ergeben.« »Nein, ich wüßte nicht, wieso. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich mich nicht mit ihm eingelassen habe.« »Richtig. Darf ich mich setzen?« »Bitte sehr.« »Wissen Sie, Miss Patterson, ich habe mit diesem Fall meine liebe Not. Er paßt einfach in keine Kategorie. Normalerweise gibt es, wie ich schon sagte, immer ein Motiv. Ich habe mit einigen Leuten bei Global Computer Graphics gesprochen, aber anscheinend hat keiner Tibble näher gekannt. Er hat sich ziemlich abgekapselt.« Ashley hörte zu und wartete auf den unvermeidlichen Schlag. »Nach allem, was ich erfahren habe, sind Sie eigentlich die einzige Person, für die er sich wirklich interessiert hat.« Hatte er irgend etwas herausgefunden, oder fischte er nur im trüben? »Mag schon sein, daß er sich für mich interessiert hat, Depu-ty«, sagte Ashley vorsichtig, »aber ich hatte keinerlei Interesse an ihm. Und das habe ich ihm auch deutlich zu verstehen gegeben.« Er nickte. »Nun ja, meiner Meinung nach war es trotzdem eine nette Geste, daß Sie ihm die Unterlagen nach Hause gebracht haben.« »Welche Unterlagen?« hätte Ashley beinahe gefragt. Doch dann erinnerte sie sich. »Da - da war nichts weiter dabei. Es lag auf meiner Strecke.« »Tja, irgend jemand muß jedenfalls einen gewaltigen Zorn auf Tibble gehabt haben. Sonst hätte er ihn nicht so zugerichtet.« Ashley saß angespannt da, ohne ein Wort zu sagen. »Wissen Sie, was ich auf den Tod nicht ausstehen kann?« sagte Deputy Blake. »Ungelöste Mordfälle. So was verbittert mich. Weil es meiner Meinung nach nämlich nichts damit zu tun hat, daß der Täter es so schlau angestellt hat. Für mich heißt das nichts anderes, als daß die Polizei nicht schlau genug war. Nun ja, bislang hatte ich immer Glück. Ich habe sämtliche Verbrechen aufgeklärt, mit denen ich zu tun hatte.« Er stand auf. »Und ich habe auch diesmal nicht vor, klein beizugeben. Sie rufen mich doch an, wenn Ihnen irgendwas einfällt, das mir weiterhelfen könnte, nicht wahr, Miss Patterson?« »Ja, natürlich.« Sollte das eine Warnung sein? dachte Ashley, als er ging. Weiß er etwa mehr, als er verrät? Toni surfte mehr denn je im Internet. Sie genoß die Plaudereien mit Jean Claude, doch das hielt sie nicht davon ab, sich auch mit anderen Ansprechpartnern im Chat-Raum auszutauschen. Bei jeder Gelegenheit saß sie daheim vor ihrem Computer, tippte ihre Mitteilungen ein und schaute wie gebannt auf den Bildschirm, wenn sich jemand bei ihr meldete. »Toni? Wo hast du gesteckt? Ich hab’ die ganze Zeit auf dich gewartet.« »Das lohnt sich auch, mein Lieber. Erzähl mir was von dir. Was machst du?« »Ich arbeite in einer Apotheke. Ich kann dir was zukommen lassen. Nimmst du Drogen?« »Verpiß dich.« »Bist du das, Toni?« »Dein Traum wird wahr. Ist da Mark dran?« »Ja?« »Du warst in letzter Zeit nicht im Netz.« »Ich hatte zu tun. Ich würde dich gern näher kennenlernen, Toni.« »Sag mal, Mark, was machst du so?« »Ich bin Bibliothekar.« »Wie aufregend! All die Bücher und so ...« »Wann können wir uns treffen?« »Schlag mal bei Nostradamus nach.« »Hallo, Toni. Wendy hier.« »Hallo, Wendy.« »Du scheinst ja toll draufzusein.« »Ich genieße das Leben.« »Vielleicht kann ich dir noch ein paar mehr Genüsse verschaffen.« »Was meinst du damit?« »Tja, ich hoffe, daß du keine von den Engstirnigen bist, die Angst davor haben, mal was Neues und Aufregendes auszuprobieren. Ich würde dir gern mal was richtig Tolles zeigen.« »Danke, Wendy. Aber du kannst mir nicht das bieten, was ich brauche.« Und dann meldete sich Jean Claude Parent wieder. »Bonne nuit. Comment ga va? Wie geht es dir?« »Bestens. Und dir?« »Du hast mir gefehlt. Ich möchte dich unbedingt persönlich kennenlernen.« »Ganz meinerseits. Danke, daß du mir ein Bild von dir geschickt hast. Du bist ein hübscher Kerl.« »Und du bist wunderschön. Ich glaube, wir sollten uns unbedingt näher kennenlernen. Nimmt deine Firma an dem großen Computerkongreß in Quebec teil?« »Was? Nicht daß ich wüßte. Wann findet der statt?« »In drei Wochen. Viele große Firmen kommen hierher. Ich hoffe doch, du bist auch da.« »Ich auch.« »Wollen wir uns morgen um die gleiche Zeit wieder im ChatRaum treffen?« »Na klar. Bis morgen.« »A demain.« Am nächsten Morgen kam Shane Miller an Ashleys Arbeitsplatz. »Ashley, hast du schon von dem großen Computerkongreß gehört, der demnächst in Quebec stattfinden soll?« Sie nickte. »Ja. Klingt ziemlich interessant.« »Ich habe gerade mit der Geschäftsleitung darüber gesprochen, ob wir nicht auch ein paar Leute hinschicken sollten.« »Alle großen Firmen fahren hin«, sagte Ashley. »Symantec, Microsoft, Apple. In Quebec wird offenbar richtig was geboten. So eine Reise wäre ein schönes Weihnachtsgeschenk.« Shane Miller lächelte, als er ihre Begeisterung sah. »Ich sehe zu, daß es klappt.« Am nächsten Tag bat Shane Miller Ashley in sein Büro. »Hättest du Lust, Weihnachten in Quebec zu verbringen?« »Wir fahren also hin? Große Klasse«, sagte Ashley begeistert. Bislang hatte sie das Weihnachtsfest immer mit ihrem Vater verbracht, doch dieses Jahr graute ihr davor. »Du solltest dich lieber warm anziehen.« »Keine Sorge, wird gemacht. Ich freue mich wirklich darauf, Shane.« Toni hatte sich wieder ins Internet eingeklinkt. »Jean Claude, die Firma schickt eine Delegation nach Quebec!« »Formidable! Ich freue mich. Wann triffst du ein?« »In zwei Wochen. Wir sind insgesamt fünfzehn Leute.« »Merveilleux! Ich habe das Gefühl, daß etwas Wichtiges passieren wird.« »Ich auch.« Etwas sehr Wichtiges sogar. Bangen Mutes verfolgte Ashley jeden Abend die Nachrichten, aber offenbar gab es im Mordfall Dennis Tibble keinerlei neue Erkenntnisse. Allmählich wurde sie wieder gelassener. Wenn die Polizei sie in Ruhe ließ, konnte es auch keinerlei Verdachtsmomente gegen ihren Vater geben. Sie wollte ihn mehrmals darauf ansprechen, doch letzten Endes machte sie immer wieder einen Rückzieher. Angenommen, er war unschuldig? Würde er ihr jemals verzeihen, daß sie ihn des Mordes bezichtigte? Und wenn er schuldig ist, will ich es nicht wissen, dachte Ashley. Ich könnte es nicht ertragen. Denn auch wenn er all diese schrecklichen Sachen getan haben sollte, hätte er sie seiner Meinung nach doch nur getan, um mich zu beschützen. Wenigstens brauche ich ihn Weihnachten nicht zu sehen. Ashley rief ihren Vater in San Francisco an. »Dieses Jahr kann ich an Weihnachten leider nicht bei dir sein, Vater«, sagte sie ohne große Umschweife. »Die Firma schickt mich zu einem Kongreß nach Kanada.« Einen Moment lang herrschte Stille. »Das paßt mir ganz und gar nicht, Ashley. Wir beide haben das Weihnachtsfest immer zusammen verbracht.« »Ich kann’s nicht ändern -« »Du bist mein ein und alles, weißt du.« »Ja Vater, und ... du auch.« »Das ist es doch, was zählt.« So sehr, daß man deswegen jemanden umbringt? »Wo findet dieser Kongreß statt?« »In Quebec. Es ist -« »Ah. Eine zauberhafte Stadt. Ich bin seit Jahren nicht mehr dortgewesen. Ich will dir mal was sagen. Um diese Zeit ist in der Klinik sowieso nicht viel los. Ich fliege rauf, dann können wir Weihnachten wenigstens zusammen essen gehen.« »Ich glaube nicht, daß ich -«, sagte Ashley rasch. »Reserviere mir einfach ein Zimmer in dem Hotel, in dem du absteigst. Wir wollen doch nicht mit der alten Familientradition brechen, nicht wahr?« Sie zögerte einen Moment. »Nein, Vater«, sagte sie zaghaft. Wie soll ich meinem Vater bloß unter die Augen treten? Alette war aufgeregt. »Ich bin noch nie in Quebec gewesen«, sagte sie zu Toni. »Gibt’s dort Museen?« »Selbstverständlich gibt’s dort Museen«, erwiderte Toni. »Dort gibt’s alles mögliche. Jede Menge Wintersportmöglichkeiten vor allem. Man kann Ski fahren, Schlittschuh laufen ...« Alette schüttelte sich. »Kälte kann ich nicht ausstehen. Sport kommt nicht in Frage. Ich hab’ dann immer steifgefrorene Finger, selbst mit Handschuhen. Ich halte mich lieber an die Museen .« Am 21. Dezember traf die Delegation der Global Computer Graphics am Jean-Lesage International Airport in Sainte-Foy ein und wurde per Bus zum berühmten Chateau Frontenac in Quebec gebracht. Draußen herrschten Minusgrade, und auf den Straßen lag eine geschlossene Schneedecke. Jean Claude hatte Toni seine Privatnummer gegeben. Sie meldete sich bei ihm, sobald sie in ihrem Hotelzimmer war. »Ich hoffe, ich rufe nicht zu spät an.« »Mais non! Ich kann kaum glauben, daß du hier bist. Wann können wir uns sehen?« »Na ja, morgen früh gehen wir alle gemeinsam zur Kongreßhalle, aber ich könnte mich abseilen und mit dir zu Mittag essen.« »Bon! Es gibt da ein Restaurant an der Grande-Allee Est. Le Paris-Brest heißt es. Wollen wir uns dort um ein Uhr treffen?« »In Ordnung.« Das Centre de Congres de Quebec am Rene Levesque Boulevard ist ein hochmodernes Gebäude aus Glas und Stahl, in dem Tausende Kongreßteilnehmer Platz finden. Um neun Uhr morgens tummelten sich Computerexperten aus aller Welt in den weitläufigen Fluren und Foyers, den Multimediaräumen, Ausstellungshallen und Videokonferenzzentren und tauschten Erkenntnisse über die neuesten Entwicklungen aus. Etwa ein halbes Dutzend Seminare fanden gleichzeitig statt. Toni langweilte sich. Lauter Gequassel und nichts geboten, dachte sie. Um Viertel vor eins stahl sie sich aus der Kongreßhalle und fuhr mit einem Taxi zu dem Restaurant. Jean Claude erwartete sie bereits. »Toni, ich freue mich ja so, daß du kommen konntest«, sagte er freundlich und ergriff ihre Hand. »Ich auch.« »Ich werde dafür sorgen, daß du hier eine angenehme Zeit verbringst. In dieser Stadt kann man wunderbare Sachen unternehmen.« Toni lächelte ihn an. »Ich weiß genau, daß ich es genießen werde.« »Ich möchte soviel wie möglich mit dir Zusammensein.« »Kannst du dir denn die ganze Zeit freinehmen? Was ist mit dem Juweliergeschäft?« Jean Claude lächelte. »Es wird ohne mich zurechtkommen müssen.« Der Oberkellner brachte ihnen die Speisekarte. »Hast du Lust, ein paar frankokanadische Speisen zu probieren?« »Aber gern.« »Dann laß mich für dich bestellen«, sagte er und wandte sich an den Ober. »Nous voudrions le Brome Lake Duckling.« Er erklärte es Toni. »Das ist ein einheimisches Gericht. Mit Äpfeln gefüllte Jungente in Calvados.« »Klingt ja köstlich.« Und das war es auch. Im Laufe der Mahlzeit erzählten sie einander aus ihrem Leben. »Du warst also nie verheiratet?« fragte Toni. »Nein. Und du?« »Auch nicht.« »Du hast eben nicht den Richtigen gefunden.« O Gott, wäre ja herrlich, wenn es so einfach wäre. »Nein.« Sie unterhielten sich über Quebec und was man hier alles unternehmen konnte. »Fährst du Ski?« Toni nickte. »Gern sogar.« »Ah, bon. Moi aussi. Außerdem kann man mit dem Schneemobil durch die Gegend fahren, Schlittschuh laufen, wunderbar einkaufen gehen .« Seine Begeisterung hatte beinahe etwas Jungenhaftes an sich. Noch nie hatte sich Toni bei jemandem so wohl gefühlt. Shane Miller hatte dafür gesorgt, daß seine Mitarbeiter morgens am Kongreß teilnahmen und nachmittags frei hatten. »Ich weiß nicht, was ich hier machen soll«, beklagte sich Alette bei Toni. »Es ist eiskalt. Was hast du denn vor?« »Alles mögliche.« Toni grinste. »A tantot.« Toni und Jean Claude speisten jeden Mittag zusammen, und nachmittags gingen sie beide auf Erkundungstour. Eine Stadt wie Quebec hatte sie noch nie gesehen. Sie kam sich vor, als entdeckte sie mitten in Nordamerika ein malerisches französisches Dorf, das sich seit der Jahrhundertwende kaum verändert hatte. Die alten Straßen trugen vielsagende Namen wie An der Zitadelle oder Matrosensprung. Die ganze verschneite Stadt wirkte wie aus dem Bilderbuch. Sie besuchten die Zitadelle, deren Mauern über der Altstadt aufragten, und sahen bei der berühmten Wachablösung zu. Sie erkundeten die Einkaufsstraßen, Saint Jean, Cartier, Cöte de la Fabrique, und spazierten durch das Quartier Petit Champlain. »Das ist das älteste Geschäftsviertel von Nordamerika«, erklärte ihr Jean Claude. »Einfach super.« Überall standen funkelnde Weihnachtsbäume und Krippen, und allerlei Musikanten spielten zur Freude der Passanten auf. Einmal fuhr Jean Claude mit Toni in einem Schneemobil ins Umland. Als sie einen schmalen Berg hinunterrasten, ergriff er ihre Hand. »Gefällt es dir hier?« fragte er. Toni spürte, daß er sie nicht nur aus Höflichkeit fragte. Sie nickte. »Es ist ganz wunderbar«, sagte sie. Alette trieb sich ständig in den Museen herum. Sie besuchte die Basilica Notre-Dame, die Good Shepherd Chapel und das Augustinermuseum, doch ansonsten interessierte sie sich kaum für Quebec. Es gab zahllose Feinschmeckerrestaurants, aber sie ging allenfalls im Le Commensal essen, einer vegetarischen Cafeteria, wenn sie nicht im Hotel speiste. Ab und zu dachte Alette an Richard Melton, den Künstler aus San Francisco, und fragte sich, was er wohl gerade machte und ob er sich noch an sie erinnerte. Ashley graute vor Weihnachten. Am liebsten hätte sie ihren Vater angerufen und ihn gebeten, er möge nicht herkommen. Aber was soll ich ihm sagen? Du bist ein Mörder. Ich will dich nicht sehen? Und mit jedem weiteren Tag rückte das Weihnachtsfest näher. »Ich möchte dir mein Juweliergeschäft zeigen«, sagte Jean Claude zu Toni. »Hast du Lust dazu?« Toni nickte. »Aber gern.« Parent Bijoux, so der Name des Geschäfts, lag an der Rue Notre-Dame im Herzen von Quebec. Toni war fassungslos, als sie darauf zugingen. Ich habe ein kleines Juwelier ge schäft, hatte er im Internet erklärt. Doch das hier war ein riesiger, geschmackvoll eingerichteter Laden. Ein halbes Dutzend Verkäufer kümmerten sich um die Kunden. Toni blickte sich um. »Das - das ist ja große Klasse«, sagte sie. Er lächelte. »Merci. Ich möchte dir ein cadeau geben - ein Geschenk, zu Weihnachten.« »Nein. Das ist doch nicht nötig. Ich -« »Bitte gönne mir diese Freude.« Jean Claude führte Toni zu einer Vitrine voller Ringe. »Sag mir, welchen du möchtest.« Toni schüttelte den Kopf. »Die sind viel zu kostbar. Ich kann doch nicht -« »Bitte.« Toni betrachtete ihn einen Moment lang, dann nickte sie. »Na schön.« Wieder musterte sie die Vitrine. In der Mitte befand sich ein großer, mit Diamanten besetzter Smaragdring. Jean Claude folgte ihrem Blick. »Gefällt dir der Smaragdring?« »Er ist herrlich, aber viel zu -« »Er gehört dir.« Jean Claude zückte einen kleinen Schlüssel, öffnete die Vitrine und holte den Ring heraus. »Nein, Jean Claude -« »Pour moi.« Er steckte ihn an Tonis Finger. Er paßte genau. »Voila! Wenn das kein Zeichen ist.« Toni drückte seine Hand. »Ich - ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Ich kann dir gar nicht erklären, wieviel Freude du mir damit machst. Hier in der Nähe gibt es ein wunderbares Restaurant namens Pavillon. Hast du Lust, mit mir heute abend dort essen zu gehen?« »Von mir aus gern.« »Ich hole dich um acht Uhr ab.« Um sechs Uhr abends rief Ashleys Vater an. »Ich muß dich leider enttäuschen, Ashley. Ich kann doch nicht zum Weihnachtsfest kommen. Ich muß nach Südamerika. Ein wichtiger Patient von mir hat einen Schlaganfall erlitten. Ich fliege noch heute abend nach Argentinien.« »Ich - das tut mir leid«, sagte Ashley. Sie versuchte so überzeugend wie möglich zu klingen. »Wir holen es nach, nicht wahr, mein Schatz?« »Ja, Vater. Ich wünsche dir einen angenehmen Flug.« Toni freute sich auf das Essen mit Jean Claude. Es würde bestimmt ein zauberhafter Abend werden. Sie sang leise vor sich hin, während sie sich anzog. »Will ich in mein Stüblein gehen, will mein Müslein essen, steht ein bucklicht Männlein da, hat’s schon selbst gegessen.« Ich glaube, Jean Claude ist in mich verliebt, Mutter. Das Pavillon befand sich in den riesigen Gewölben des Gare du Palais, dem alten Bahnhof von Quebec. Es war ein großes Restaurant mit einer Bar im Eingangsbereich und langen Tischreihen, die sich nach hinten erstreckten. Jede Nacht um elf Uhr wurden ein gutes Dutzend Tische beiseite geschoben, damit die Gäste Platz zum Tanzen hatten, und ein Diskjockey legte allerlei flotte Musik auf, von Reggae über Jazz bis zum Blues. Toni und Jean Claude trafen gegen neun Uhr abends dort ein und wurden vom Besitzer herzlich begrüßt. »Monsieur Parent. Schön, Sie zu sehen.« »Danke, Andre. Das ist Miss Toni Prescott. Mr. Nicholas.« »Freut mich sehr, Miss Prescott. Ihr Tisch steht bereit.« »Das Essen hier ist ausgezeichnet«, versicherte Jean Claude Toni, als sie Platz genommen hatten. »Laß uns mit einem Champagner anfangen.« Sie bestellten paillarde de veau und torpille mit Salat, dazu eine Flasche Valpolicella. Toni betrachtete ein ums andere Mal den Smaragdring, den Jean Claude ihr geschenkt hatte. »Er ist wunderschön«, rief sie. Jean Claude beugte sich über den Tisch. »Tu aussi. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß wir uns endlich persönlich kennengelernt haben.« »Ich auch«, sagte Toni leise. Die Musik setzte ein. Jean Claude blickte Toni an. »Hast du Lust zu tanzen?« »Aber gern.« Toni war eine leidenschaftliche Tänzerin, und sobald sie auf der Tanzfläche stand, vergaß sie alles andere. Als kleines Mädchen hatte sie mit ihrem Vater getanzt, und ihre Muter hatte gesagt: »Das Kind ist ein Trampel.« Jean Claude hielt sie eng an sich geschmiegt. »Du bist eine wunderbare Tänzerin.« »Danke.« Hast du das gehört, Mutter? Ich wünschte, es würde ewig so weitergehen, dachte Toni. Auf dem Rückweg zum Hotel sagte Jean Claude: »Cherie -hast du Lust, auf einen kurzen Schlummertrunk mit zu mir nach Hause zu kommen?« Toni zögerte. »Nicht heute abend, Jean Claude.« »Morgen, peut-etre?« Sie drückte seine Hand. »Morgen.« Als Rene Picard um drei Uhr morgens mit seinem Streifenwagen die Grande-Allee im Quartier Montcalm entlangfuhr, bemerkte er, daß die Tür eines einstöckigen roten Ziegelhauses weit offenstand. Er hielt an, stieg aus und ging zu der Haustür, um nachzusehen, was da los war. »Bonsoir. Y a-t-il, quel-qu’un?« rief er. Keine Antwort. Er trat in den Vorsaal und ging dann zu dem großen Salon. »C’est la police. Y a-t-il, quelqu’un?« Wieder meldete sich niemand. Es war verdächtig still in dem Haus. Streifenpolizist Picard knöpfte seine Pistolentasche auf und ging durch sämtliche Zimmer im Erdgeschoß, wobei er ein ums andere Mal laut nach den Bewohnern rief. Die Stille war geradezu unheimlich. Er kehrte in die Eingangshalle zurück. Von hier aus führte eine elegant geschwungene Treppe ins Obergeschoß. »Allo?« Wieder keine Antwort. Picard stieg die Treppe hinauf. Oben angelangt, zog er die Pistole. Wieder rief er laut nach den Bewohnern, ehe er den langen Flur entlangging. Vor ihm stand eine Schlafzimmertür einen Spaltbreit offen. Er ging hin, riß sie weit auf und wurde kreidebleich. »Mon Dieu!« Um fünf Uhr morgens saß Inspektor Paul Cayer in seinem Büro in der Centrale de Police am Story Boulevard, dem aus grauen Steinen und gelben Ziegeln gebauten Polizeipräsidium von Quebec. »Was haben wir vorliegen?« fragte er seinen Mitarbeiter. »Beim Opfer handelt es sich um einen gewissen Jean Claude Parent«, erwiderte Detective Guy Fontaine. »Die Leiche weist ein gutes Dutzend Stichverletzungen auf. Außerdem wurde er entmannt. Der Coroner meint, daß der Mord vor etwa drei, vier Stunden stattgefunden haben muß. In Parents Jackentasche haben wir eine Rechnung vom Pavillon gefunden. Er hat dort zu Abend gegessen. Wir haben den Besitzer des Restaurants aus dem Bett geklingelt.« »Und?« »Monsieur Parent war mit einer gewissen Toni Prescott dort, einer brünetten, sehr attraktiven Frau, die mit englischem Akzent sprach. Der Geschäftsführer von Monsieur Parents Juwelierladen sagt, daß er im Laufe des Tages mit einer Frau, die er als Toni Prescott vorstellte und auf die diese Beschreibung zutrifft, im Geschäft gewesen sei. Er hat ihr einen kostbaren Smaragdring geschenkt. Außerdem glauben wir, daß Monsieur Parent kurz vor seinem Tod mit jemandem Geschlechtsverkehr hatte. Bei der Tatwaffe handelt es sich allem Anschein nach um einen Brieföffner mit stählerner Schneide. Wir haben Fingerabdrücke darauf gefunden. Wir haben sie an unser Labor gegeben und ans FBI geschickt. Im Augenblick warten wir noch auf eine Antwort.« »Hat man diese Toni Prescott aufgegriffen?« »Non.« »Und warum nicht?« »Wir konnten sie noch nicht ausfindig machen. Wir haben sämtliche Hotels in der Stadt überprüft. Wir haben unsere Akten und die Unterlagen des FBI zu Rate gezogen. Es liegt keine Geburtsurkunde von ihr vor, keine Sozialversicherungsnummer, kein Führerschein.« »Das ist doch unmöglich! Könnte sie die Stadt verlassen haben?« Fontaine schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Inspektor. Der Flughafen schließt um Mitternacht. Der letzte Zug ist gestern um siebzehn Uhr fünfunddreißig abgefahren. Der nächste fährt erst heute morgen um sechs Uhr neununddreißig. Wir haben die Personenbeschreibung an den Busbahnhof, die beiden Taxiunternehmen und die Mietwagenfirma weitergegeben.« »Herrgott noch mal, wir wissen, wie sie heißt, wie sie aussieht, und wir haben ihre Fingerabdrücke. Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.« Eine Stunde später traf der Bericht des FBI ein. Man hatte die Fingerabdrücke nicht zuordnen können. Außerdem gab es keinerlei Unterlagen über eine Toni Prescott. 8 Fünf Tage nach ihrer Rückkehr aus Quebec bekam Ashley einen Anruf von ihrem Vater. »Ich bin wieder da.« »Da?« Es dauerte einen Moment, bis Ashley sich erinnerte. »Oh. Dein Patient in Argentinien. Wie geht’s ihm?« »Er wird überleben.« »Das freut mich.« »Kannst du morgen zum Abendessen nach San Francisco hochkommen?« Ihr graute beim bloßen Gedanken daran, ihn sehen zu müssen, aber ihr fiel keine Ausrede ein. »Von mir aus.« »Wir treffen uns im Restaurant Lulu. Um acht Uhr.« Ashley wartete bereits, als ihr Vater in das Restaurant kam. Wieder sah sie die bewundernden Blicke, die ihm die Leute zuwarfen, als sie ihn erkannten. Ihr Vater war ein berühmter Mann. Würde er alles, was er geleistet hatte, aufs Spiel setzen, nur damit —? Dann war er an ihrem Tisch. »Schön, dich zu sehen, mein Schatz. Tut mir leid, daß wir das Weihnachtsessen ausfallen lassen mußten.« »Mir auch«, erwiderte sie. Sie mußte sich regelrecht dazu zwingen. Sie starrte auf die Speisekarte, ohne sie wahrzunehmen, und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. »Was möchtest du denn?« »Ich - ich bin eigentlich gar nicht hungrig«, sagte sie. »Du mußt aber etwas essen. Du wirst zu schmal.« »Ich nehme das Hühnchen.« Sie betrachtete ihren Vater, als er das Essen bestellte, und fragte sich, ob sie es wagen sollte, das Thema anzuschneiden. »Wie war’s in Quebec?« »Sehr interessant«, erwiderte Ashley. »Es ist eine wunderschöne Stadt.« »Irgendwann müssen wir mal zusammen dorthin fahren.« »Ja«, sagte sie und faßte einen Entschluß. Sie versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen. »Übrigens - ich war letzten Juni zum zehnjährigen Klassentreffen in Bedford.« Er nickte. »Hat es dir gefallen?« »Nein.« Sie sprach langsam, wählte sorgfältig ihre Worte. »Ich - ich habe erfahren, daß man einen Tag, nachdem du und ich nach London abgereist sind, Jim Clearys Leiche gefunden hat. Er wurde erstochen ... und entmannt.« Sie saß da und beobachtete ihn, wartete auf eine Reaktion. Dr. Patterson runzelte die Stirn. »Cleary? Ach ja. Dieser Junge, der hinter dir her war. Vor dem habe ich dich bewahrt, nicht wahr?« Was meinte er damit? War das ein Geständnis? Hatte er Jim Cleary umgebracht, weil er sie vor ihm bewahren wollte? Ashley holte tief Luft und fuhr fort: »Dennis Tibble wurde auf die gleiche Art ermordet. Er wurde erstochen und entmannt.« Sie sah, wie ihr Vater ein Brötchen nahm und es sorgfältig mit Butter bestrich. »Das überrascht mich nicht, Ashley«, sagte er schließlich. »Mit schlechten Menschen nimmt es meist ein böses Ende.« Und das sagte ein Arzt, ein Mann, der eigentlich anderen Menschen das Leben retten sollte. Ich werde ihn nie verstehen, dachte Ashley. Ich glaube, ich will es gar nicht. Als sie gegessen hatten, war Ashley der Wahrheit keinen Schritt nähergekommen. »Quebec hat mir echt gefallen, Alette«, sagte Toni. »Eines Tages möchte ich mal wieder hin. Hat’s dir auch Spaß gemacht?« »Die Museen haben mir gefallen«, erwiderte Alette schüchtern. »Hast du deinen Freund in San Francisco schon angerufen?« sagte Toni neckend. »Er ist nicht mein Freund.« »Aber ich wette, das möchtet du gern, nicht?« »Forse. Vielleicht.« »Wieso rufst du ihn dann nicht an?« »Ich finde, es gehört sich nicht, daß -« »Ruf ihn an.« Sie verabredeten sich im De Young Museum. »Ich habe Sie vermißt«, sagte Richard Melton. »Wie war’s in Quebec?« »Va bene.« »Ich wünschte, ich hätte Sie begleiten können.« Eines Tages vielleicht, dachte Alette hoffnungsvoll. »Wie kommen Sie mit Ihrer Malerei voran?« »Nicht schlecht. Ich habe gerade eins meiner Bilder an einen bekannten Kunstsammler verkauft.« »Phantastisch!« Sie freute sich aufrichtig. Und unwillkürlich dachte sie: Wenn ich mit ihm zusammen bin, ist alles so anders. Bei jemand anderem wäre mir dazu nur irgend etwas Abschätziges eingefallen. »Wer leidet denn derart an Geschmacksverirrung, daß er Geld für deine Bilder ausgibt« zum Beispiel, oder »Gib bloß deinen Brotberuf nicht auf« oder hundert andere bissige Bemerkungen. Aber nicht bei Richard. Alette konnte es kaum glauben. Sie fühlte sich wie befreit, so als wäre sie von einer auszehrenden Krankheit genesen. Sie aßen in der Cafeteria des Museums zu Mittag. »Was möchten Sie?« fragte Richard. »Das Roastbeef hier ist ausgezeichnet.« »Danke, aber ich bin Vegetarierin. Ich nehme bloß einen Salat.« »Na gut.« Eine junge, attraktive Bedienung kam an ihren Tisch. »Hallo, Richard.« Alette spürte mit einemmal einen Stich Eifersucht. Sie wunderte sich über ihre Reaktion. »Hallo, Bernice.« »Wißt ihr schon, was ihr bestellen wollt?« »Ja. Miss Peters nimmt einen Salat und ich ein Roastbeefsandwich.« Die Kellnerin musterte Alette. Ist sie etwa eifersüchtig auf mich? fragte sich Alette. »Sie ist ziemlich hübsch«, sagte Alette, als die Bedienung wieder weg war. »Kennen Sie sie näher?« Sie errötete augenblicklich. Ich wünschte, ich hätte nicht danach gefragt. Richard lächelte. »Ich komme ziemlich oft hierher. Anfangs hatte ich nicht viel Geld. Wenn ich mir ein Sandwich bestellt habe, hat Bernice mir ein richtiges Festmahl aufgetischt. Sie ist klasse.« »Sie macht einen sehr netten Eindruck«, sagte Alette. Und dachte: Hat ziemlich fette Schenkel. Anschließend unterhielten sie sich über Malerei. »Eines Tages möchte ich mal nach Giverny fahren«, sagte Alette. »Wo Monet gemalt hat.« »Haben Sie gewußt, daß Monet ursprünglich Karikaturist war?« »Nein.« »Ist aber so. Dann ist er Boudin begegnet, der ihn zu sich in die Lehre genommen und dazu überredet hat, draußen in der Natur zu malen. Es gibt eine großartige Geschichte darüber. Monet war schließlich so auf die Arbeit unter freiem Himmel versessen, daß er einmal, als er eine Frau im Garten malen wollte, einen Graben ausheben ließ, damit er die rund zweieinhalb Meter hohe Leinwand mittels Flaschenzügen je nach Bedarf versenken und wieder hochfahren konnte. Das Bild hängt heute im Musee d’Orsay in Paris.« Die Zeit verging wie im Flug. Nach dem Essen streiften Alette und Richard durch die Räume und schauten sich die diversen Ausstellungsstücke an. Das Museum besaß über vierzigtausend Exponate aus sämtlichen Epochen, von altägyptischer Kunst bis zu zeitgenössischer amerikanischer Malerei. Alette konnte es noch immer kaum fassen, daß sie von keinerlei düsteren Gedanken heimgesucht wurde, wenn sie mit Richard zusammen war. Che cosa significa? Ein Wächter in Uniform kam auf sie zu. »Guten Tag, Richard.« »Hallo, Brian. Das ist Alette Peters, eine Freundin. Brian Hill.« »Gefällt’s Ihnen hier im Museum?« fragte Brian, an Alette gewandt. »O ja. Es ist wunderbar.« »Richard bringt mir das Malen bei.« Alette schaute Richard an. »Wirklich?« »Ach, ich gehe ihm doch nur ein bißchen zur Hand.« »Das ist stark untertrieben, Miss. Ich wollte schon immer Maler werden. Deshalb hab’ ich den Job hier im Museum angenommen. Weil ich Kunst mag. Jedenfalls ist Richard ziemlich oft hergekommen und hat gemalt. Als ich seine Arbeiten gesehen habe, hab’ ich gedacht: >Genau das will ich auch machenc. Also hab’ ich ihn gefragt, ob er mir Unterricht gibt. Und er ist einfach großartig. Haben Sie mal Bilder von ihm gesehen?« »Jawohl«, sagte Alette. »Sie sind wunderbar.« »Ich finde das ganz reizend von Ihnen, Richard«, sagte Alet-te, als sie weitergingen. »Ich bin gern für andere da.« Und er blickte Alette an. »Mein Wohnungsgenosse ist heute abend auf einer Party«, sagte Richard, als sie das Museum verließen. »Wollen wir nicht zu mir gehen?« Er lächelte. »Ich möchte Ihnen ein paar Bilder zeigen.« Alette drückte seine Hand. »Noch nicht, Richard.« »Ganz wie Sie wollen. Sehen wir uns nächstes Wochenende wieder?« »Ja.« Er hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie sich darauf freute. Richard brachte Alette zu ihrem Wagen, der auf dem Parkplatz stand. Sie winkte ihm zu, als sie wegfuhr. Es ist das reinste Wunder, dachte Alette, als sie an diesem Abend schlafen ging. Richard hat mich befreit. In dieser Nacht träumte sie von ihm. Um zwei Uhr morgens kam Gary, Richards Wohnungsgenosse, von einer Geburtstagsfeier nach Hause. Die Wohnung war dunkel. Er schaltete das Licht im Wohnzimmer ein. »Richard?« Er ging nach hinten, zum Schlafzimmer. Er warf einen Blick durch die offene Tür, dann wurde ihm übel. »Beruhigen Sie sich.« Detective Whittier musterte den zitternden jungen Mann, der vor ihm im Sessel saß. »Fangen wir noch mal von vorn an. Hatte er irgendwelche Feinde? Wer könnte einen solchen Haß auf ihn gehabt haben, daß er ihm so was antut?« Gary schluckte. »Nein. Jeder - alle haben Richard gemocht.« »Irgend jemand anscheinend nicht. Wie lange wohnen Sie schon zusammen?« »Seit zwei Jahren.« »Waren Sie ein Paar?« »Um Himmels willen, nein«, sagte Gary indigniert. »Wir waren miteinander befreundet. Wir haben zusammengewohnt, weil’s zu zweit billiger ist.« Detective Whittier sah sich in der kleinen Wohnung um. »Ein Einbruch war’s garantiert nicht«, sagte er. »Hier gibt’s nichts zu holen. Hatte Ihr Mitbewohner eine engere Beziehung zu jemandem?« »Nein - das heißt, ja. Er hat ein Mädchen kennengelernt. Ich glaube, er war dabei, sich in sie zu verlieben.« »Wissen Sie, wie sie heißt?« »Ja. Alette. Alette Peters. Sie wohnt in Cupertino.« Detective Whittier und Detective Reynolds schauten sich an. »In Cupertino?« »Herrgott«, sagte Reynolds. Eine halbe Stunde später telefonierte Detective Whittier mit Sheriff Dowling. »Sheriff, ich dachte, es interessiert Sie vielleicht, daß wir hier einen Mordfall vorliegen haben, bei dem der Täter nach dem gleichen Muster vorgegangen ist wie drunten bei euch in Cupertino - das Opfer weist zahlreiche Stichwunden auf und wurde entmannt.« »Mein Gott!« »Ich habe gerade mit dem FBI gesprochen. Die haben ihren Computer befragt und sind auf drei ähnlich gelagerte Mordfälle gestoßen. Immer wurde das Opfer entmannt. Der erste geschah vor rund zehn Jahren in Bedford, Pennsylvania. Das nächste Opfer war ein gewisser Dennis Tibble - das ist der Fall, an dem Sie dran sind. Danach, an Weihnachten, gab’s einen ähnlichen Mord droben in Quebec, und jetzt den hier.« »Ich kapiere das nicht. Pennsylvania . Cupertino . Quebec ... San Francisco ... soll da irgendein Zusammenhang bestehen?« »Das versuchen wir gerade herauszufinden. Bei der Einreise nach Kanada muß man einen Paß vorlegen. Aufgrund dessen versucht das FBI gerade festzustellen, ob jemand, der um die Weihnachtszeit in Quebec gewesen ist, sich auch in den anderen Städten aufgehalten hat, als dort die Morde geschahen ...« Als die Presse Wind von der Sache bekam, sorgte der Fall weltweit für Schlagzeilen. Opfer kastriert - Ganz Amerika auf der Jagd nach einem Serienmörder ... Quatre hommes brutalement tues et castres ... Serial killer loose ... Im Fernsehen ließen sich allerlei selbsternannte Kriminalpsychologen über die Morde aus. ». und bei allen Opfern handelt es sich um Männer. Da sie alle erstochen und entmannt wurden, haben wir es bei dem Täter ohne jeden Zweifel mit einem Homosexuellen zu tun, der .« ». und wenn die Polizei herausfindet, was all diese Männer miteinander gemein hatten, wird man vermutlich feststellen, daß dies das Werk eines verschmähten Liebhabers ist .« ». ich würde eher meinen, daß die Opfer ihrem Mörder rein zufällig über den Weg gelaufen sind und daß es sich bei dem Täter um jemanden handelt, der unter einer dominanten Mutter gelitten hat .« Am Samstag morgen rief Detective Whittier von San Francisco bei Deputy Blake an. »Sheriff, ich hab’ was Neues für Sie.« »Schießen Sie los.« »Das FBI hat grade bei mir angerufen. In Cupertino wohnt jemand, der sich zu der Zeit, als dieser Parent ermordet wurde, in Quebec aufgehalten hat.« »Ist ja interessant. Wie heißt er?« »Es ist eine Sie. Patterson. Ashley Patterson.« Um sechs Uhr abends klingelte Deputy Sam Blake an Ashley Pattersons Wohnung. »Wer ist da?« hörte er sie durch die geschlossene Tür rufen. »Deputy Blake. Ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen reden, Miss Patterson.« Zunächst rührte sich lange nichts, dann wurde die Tür geöffnet. Ashley stand da und blickte ihn mißtrauisch an. »Darf ich reinkommen?« »Ja, natürlich.« Geht es um Vater? Ich muß vorsichtig sein. Ashley ging zur Couch. »Was kann ich für Sie tun, Deputy?« »Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?« Ashley rutschte unbehaglich hin und her. »Ich - ich weiß nicht recht. Habe ich mir irgend etwas zuschulden kommen lassen?« Er lächelte beruhigend. »Ganz und gar nicht, Miss Patterson. Das hier ist reine Routine. Wir untersuchen einige Mordfälle.« »Davon habe ich keine Ahnung«, erwiderte sie rasch. Zu rasch? »Sie waren doch in Quebec, nicht wahr?« »Ja.« »Kennen Sie einen gewissen Jean Claude Parent?« »Jean Claude Parent?« Sie dachte einen Moment lang nach. »Nein. Nie gehört. Wer soll das sein?« »Ein Juwelier aus Quebec.« Ashley schüttelte den Kopf. »Ich war in Quebec bei keinem Juwelier.« »Sie haben doch mit Dennis Tibble zusammengearbeitet?« Allmählich bekam es Ashley wieder mit der Angst zu tun. Es ging also doch um ihren Vater. »Wir haben nicht zusammengearbeitet. Er war nur bei der gleichen Firma beschäftigt wie ich.« »Natürlich. Sie fahren doch gelegentlich nach San Francisco, nicht wahr, Miss Patterson?« Ashley fragte sich, worauf er jetzt hinauswollte. Vorsicht. »Ja, ab und zu.« »Kennen Sie einen gewissen Richard Melton, einen Künstler, der dort lebt?« »Nein. Den Namen höre ich zum ersten Mal.« Deputy Blake saß da und musterte Ashley frustriert. »Hätten Sie was dagegen, mit aufs Revier zu kommen und sich einem Lügendetektortest zu unterziehen? Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Anwalt anrufen und -« »Ich brauche keinen Anwalt. Sie können mich gern auf die Probe stellen.« Keith Rosson war ein ausgewiesener Experte für Lügendetektorbefragungen, einer der besten seines Fachs. Er mußte eigens eine Verabredung zum Abendessen absagen, aber wenn Sam Blake ihn um einen Gefallen bat, konnte er nicht nein sagen. Ashley nahm in einem Sessel Platz und ließ sich die Elektroden ankleben. Rosson hatte sich bereits eine gute Dreiviertelstunde mit ihr unterhalten, sich nach ihrem Werdegang und ihrem Privatleben erkundigt, und dabei festzustellen versucht, in welchem Gemütszustand sie sich befand. Jetzt war er bereit. »Fühlen Sie sich wohl?« »Ja.« »Gut. Fangen wir an.« Er drückte auf einen Knopf. »Wie heißen Sie?« »Ashley Patterson.« Rosson schaute Ashley an und warf dann einen kurzen Blick auf den Ausdruck. »Wie alt sind Sie, Miss Patterson?« »Achtundzwanzig.« »Wo wohnen Sie?« »Am Via Camino Court 10964 in Cupertino.« »Sind Sie berufstätig?« »Ja.« »Mögen Sie klassische Musik?« »Ja.« »Kennen Sie Richard Melton?« »Nein.« Auf dem Polygraph war nichts Ungewöhnliches festzustellen. »Wo arbeiten Sie?« »Bei der Global Computer Graphics Corporation.« »Macht Ihnen Ihr Beruf Spaß?« »Ja.« »Sind Sie als Vollzeitkraft beschäftigt?« »Ja.« »Kennen Sie Jean Claude Parent?« »Nein.« Nach wie vor kein Ausschlag. »Haben Sie heute morgen gefrühstückt?« »Ja.« »Haben Sie Dennis Tibble ermordet?« »Nein.« So ging es eine gute halbe Stunde lang weiter. Er erkundigte sich nach Belanglosigkeiten, stellte ihr dann unverhofft Fangfragen und wiederholte das Ganze dreimal in veränderter Reihenfolge. Anschließend ging Keith Rosson in Sam Blakes Büro und reichte ihm den Ausdruck. »So sauber wie nur was. Eins zu hundert, daß die gelogen hat. Die war’s garantiert nicht.« Ashley war fast schwindlig vor Erleichterung, als sie das Polizeirevier verließ. Gott sei Dank, das ist vorbei. Sie hatte Angst gehabt, daß man sie nach ihrem Vater fragen würde, doch das war nicht geschehen. Jetzt gibt es keinerlei Verbindung mehr zu meinem Vater, dachte Ashley. Ich muß mir keine Sorgen mehr machen. Sie stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab und fuhr mit dem Aufzug hoch zu ihrer Wohnung. Sie schloß die Tür auf, ging hinein und schloß sämtliche Riegel hinter sich. Sie war todmüde und gleichzeitig bester Stimmung. Ein heißes Bad würde mir jetzt guttun, dachte Ashley. Sie ging ins Badezimmer und wurde kreidebleich. Du wirst sterben, hatte jemand mit hellrotem Lippenstift auf den Spiegel geschmiert. 9 Sie war schier außer sich. Ihre Hände zitterten derart, daß sie sich dreimal verwählte. Sie atmete tief durch und versuchte es ein weiteres Mal. Zwei ... neun ... neun ... zwei ... eins ... null . eins . Endlich bekam sie eine Verbindung. »Sheriffdienststelle.« »Deputy Blake, bitte. Es eilt!« »Deputy Blake ist bereits nach Hause gegangen. Kann vielleicht jemand anders -?« »Nein! Ich - könnten Sie ihn darum bitten, daß er mich zurückrufen soll? Mein Name ist Ashley Patterson. Ich muß ihn dringend sprechen.« »Warten Sie bitte einen Moment. Mal sehen, ob ich ihn erreichen kann.« Deputy Blake ließ das Geschrei seiner Frau seelenruhig über sich ergehen. »Mein Bruder läßt dich Tag und Nacht schuften wie einen Kuli, und das Gehalt, das er dafür zahlt, reicht hinten und vorne nicht. Wieso verlangst du nicht endlich eine Lohnerhöhung? Warum?« Sie saßen beim Abendessen. »Würdest du mir bitte die Kartoffeln reichen, meine Liebe?« Serena nahm die Schüssel und knallte sie vor ihm hin. »Die wissen überhaupt nicht, was du leistest.« »Ganz recht. Dürfte ich mal die Soße haben?« »Hörst du mir überhaupt zu?« brüllte sie. »Ganz genau, meine Liebe. Das Essen ist köstlich. Du bist eine prima Köchin.« »Du Mistkerl. Wie soll ich mich denn mit dir streiten, wenn du dich nicht wehrst?« Er kostete einen Bissen Kalbfleisch. »Das liegt daran, daß ich dich liebe, mein Schatz.« Das Telefon klingelte. »Entschuldige bitte.« Er stand auf und nahm den Hörer ab. »Hallo ... Ja ... Stellen Sie sie durch ... Miss Patterson.« Er hörte sie schluchzen. »Jemand - hier ist etwas Schreckliches passiert. Sie müssen sofort vorbeikommen.« »Bin schon unterwegs.« Serena sprang auf. »Was? Willst du etwa schon wieder gehen? Mitten beim Abendessen?« »Es handelt sich um einen Notfall, mein Schatz. Ich sehe zu, daß ich so schnell wie möglich wieder zurück bin.« Sie musterte ihn argwöhnisch, als er seine Waffe umschnallte. Er beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuß. »Das Essen war wunderbar.« Ashley öffnete ihm sofort die Tür. Ihre Wangen waren tränennaß. Sie zitterte am ganzen Leib. Sam Blake ging in die Wohnung und blickte sich argwöhnisch um. »Ist irgend jemand hier?« »Je-jemand war hier.« Sie konnte sich nur mühsam beherrschen. »Se-sehen Sie ...« Sie führte ihn ins Badezimmer. Deputy Blake las laut vor, was auf dem Badezimmerspiegel stand. »Du wirst sterben.« Er wandte sich an Ashley. »Haben Sie eine Ahnung, wer das geschrieben haben könnte?« »Nein«, sagte Ashley. »Das ist meine Wohnung. Niemand anders hat einen Schlüssel . Aber irgend jemand dringt hier ein ... Jemand, der mir nachstellt. Jemand will mich umbringen.« Sie brach in Tränen aus. »Ich - ich halte das nicht mehr aus.« Sie weinte hemmungslos. Deputy Blake legte den Arm um sie und tätschelte ihr die Schulter. »Kommen Sie. Alles wird wieder gut. Wir geben Ihnen Personenschutz. Und wir werden herausfinden, wer dahintersteckt.« Ashley holte tief Luft. »Entschuldigen Sie. Ich - ich führe mich normalerweise nicht so auf. Aber es - es war einfach schrecklich.« »Unterhalten wir uns«, sagte Sam Blake. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Von mir aus.« »Wie wär’s mit einer Tasse Tee?« Sie saßen da und redeten bei etlichen Tassen heißem Tee miteinander. »Wann hat das Ganze angefangen, Miss Patterson?« »Vor - vor etwa einem halben Jahr. Ich hatte das Gefühl, daß mir jemand folgt. Zuerst war es nur eine leise Ahnung, aber dann wurde es immer stärker. Ich wußte, daß mir jemand nachstellt, aber ich habe niemanden bemerkt. Dann ist jemand in meinen Computer in der Firma eingedrungen und hat ein Bild hinterlassen. Eine Hand mit einem Messer, die auf mich -auf mich einsticht.« »Und Sie haben keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?« »Nein.« »Sie sagten, daß schon früher jemand in Ihre Wohnung eingedrungen ist?« »Ja. Einmal hat jemand sämtliche Lichter eingeschaltet, als ich nicht da war. Und ein andermal habe ich eine Zigarettenkippe auf meiner Frisierkommode gefunden. Ich rauche aber nicht.« Sie atmete tief durch. »Und jetzt ... das hier.« »Gibt es irgendwelche Männer, die sich von Ihnen zurückgewiesen vorkommen könnten?« Ashley schüttelte den Kopf. »Nein.« »Haben Sie geschäftlich mit jemandem zu tun, der durch Sie Geld verloren hat?« »Nein.« »Hat Sie jemand bedroht?« »Nein.« Sie überlegte sich, ob sie ihm von dem Wochenende erzählen sollte, das sie unfreiwillig in Chicago verbracht hatte, aber dann müßte sie ihren Vater erwähnen. Sie beschloß, es lieber zu unterlassen. »Ich möchte heute nacht nicht allein sein«, sagte Ashley. »Na schön. Ich rufe in der Dienststelle an und lasse jemanden vorbeischicken, der -« »Nein! Bitte! Ich traue niemandem. Könnten Sie nicht bis morgen früh bei mir bleiben?« »Ich glaube nicht, daß ich -« »Bitte.« Sie zitterte am ganzen Leib. Er schaute ihr in die Augen. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der derart panisch wirkte. »Könnten Sie heute nacht nicht irgendwo anders unterkommen? Haben Sie keine Freunde, bei -?« »Was ist, wenn einer meiner Freunde dahintersteckt?« Er nickte. »Stimmt. Ich bleibe hier. Morgen früh sorge ich dafür, daß man Sie rund um die Uhr bewacht.« »Vielen Dank.« Man hörte ihr an, wie erleichtert sie war. Er tätschelte Ashleys Hand. »Keine Sorge. Ich verspreche Ihnen, daß wir der Sache auf den Grund gehen. Ich rufe kurz bei Sheriff Dowling an und sage ihm Bescheid.« Er telefonierte etwa fünf Minuten und legte dann auf. »Ich rufe jetzt lieber meine Frau an.« »Natürlich.« Deputy Blake griff wieder zum Telefon und wählte. »Hallo, meine Liebe. Ich komme heute nacht nicht nach Hause, aber du kannst ja ein bißchen fern -« »Was machst du? Wo steckst du? Wieder bei einer von deinen billigen Huren?« Ashley hörte ihr lautes Geschrei am Telefon. »Serena -« »Mir machst du nichts weis.« »Serena -« »Euch Männern geht’s doch immer nur um das eine - die Bumserei.« »Serena -« »Ich laß mir das jedenfalls nicht mehr bieten.« »Serena -« »Das ist also der Dank dafür, daß ich immer für dich dagewesen bin .« Die einseitige Unterhaltung zog sich noch weitere zehn Minuten hin. Schließlich legte Deputy Blake den Hörer auf und wandte sich sichtlich betreten an Ashley. »Entschuldigen Sie bitte. Eigentlich ist sie ganz anders.« Ashley schaute ihn an. »Ich verstehe«, sagte sie. »Nein - ich mein’s ernst. Serena benimmt sich nur so, weil sie Angst hat.« Ashley schaute ihn verwundert an. »Angst?« Er schwieg einen Moment. »Serena ist todkrank. Sie hat Krebs. Eine Zeitlang schien es ihr wieder besserzugehen. Es fing vor etwa sieben Jahren an. Wir haben vor fünf Jahren geheiratet.« »Dann wußten Sie also ...?« »Ja. Es war egal. Ich liebe sie.« Er stockte. »In letzter Zeit ist es wieder schlimmer geworden. Sie fürchtet sich vor dem Tod, und sie hat Angst, ich könnte sie verlassen. Mit der ganzen Schreierei will sie nur ihre Angst verbergen.« »Ich, äh - das tut mir leid.« »Sie ist ein wunderbarer Mensch. Im Grunde ihres Herzens ist sie sanftmütig, fürsorglich und liebevoll.« »Tut mir leid, wenn ich Ihnen -« »Ganz und gar nicht.« Er blickte sich um. »Es gibt nur ein Schlafzimmer«, sagte Ashley. »Sie können das Bett haben, und ich schlafe auf der Couch.« Deputy Blake schüttelte den Kopf. »Für mich tut’s auch die Couch.« »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin«, sagte Ashley. »Keine Ursache, Miss Patterson.« Er betrachtete sie, als sie an einen Wäscheschrank trat und Laken und Zudecke herausholte. Sie ging zur Couch und breitete das Laken aus. »Ich hoffe, daß Sie -« »Bestens. Außerdem habe ich sowieso nicht vor, viel zu schlafen.« Er überprüfte die Fenster und versicherte sich, daß sie verriegelt waren, ging dann zur Tür und drehte den Schlüssel zweimal um. »In Ordnung.« Er legte seine Dienstwaffe auf den Couchtisch. »Schlafen Sie gut. Morgen früh werden wir alles weitere veranlassen.« Ashley nickte. Sie ging zu ihm und küßte ihn auf die Wange. »Vielen Dank.« Deputy Blake schaute ihr nach, als sie sich ins Schlafzimmer begab und die Tür hinter sich zuzog. Er ging wieder zu den Fenstern und überprüfte sie noch einmal. Es würde eine lange Nacht werden. In der FBI-Zentrale in Washington unterhielt sich Agent Ramirez mit Roland Kingsley, seinem Abteilungsleiter. »Wir haben die Auswertung der Fingerabdrücke und die DNS-Analyse der Spuren vorliegen, die an den Tatorten in Bedford, Cupertino, Quebec und San Francisco gefunden wurden. Der letzte Laborbericht ist soeben eingetroffen. Die Fingerabdrücke an sämtlichen Tatorten stimmen überein, und laut DNS-Untersuchung handelt es sich um ein und denselben Täter.« Kingsley nickte. »Wir haben es also eindeutig mit einem Serienmörder zu tun.« »Ohne jeden Zweifel.« »Dann sollten wir den Mistkerl schleunigst dingfest machen.« Um sechs Uhr morgens fand die Frau des Hausmeisters in der Gasse hinter dem Haus, in dem Ashley Patterson wohnte, die nackte Leiche von Deputy Sam Blake. Jemand hatte ihn erstochen und entmannt. 10 Sie waren zu fünft - Sheriff Dowling, zwei Kriminalpolizisten in Zivil und zwei Polizisten in Uniform. Sie standen im Wohnzimmer und betrachteten Ashley, die in einem Sessel saß und hemmungslos weinte. »Sie sind die einzige, die uns helfen kann, Miss Patterson«, sagte Sheriff Dowling. Ashley blickte auf und nickte. Sie atmete ein paarmal tief durch. »Ich - will’s versuchen.« »Fangen wir von vorne an. Deputy Blake ist also über Nacht hiergeblieben?« »J-ja. Ich habe ihn darum gebeten. Ich - ich hatte fürchterliche Angst.« »In dieser Wohnung gibt es nur ein Schlafzimmer.« »Ganz recht.« »Wo hat Deputy Blake geschlafen?« Ashley deutete auf die Couch, auf der ein Laken und ein Kissen lagen. »Er hat die Nacht dort verbracht.« »Wann sind Sie zu Bett gegangen?« Ashley dachte einen Moment lang nach. »Es - muß gegen Mitternacht gewesen sein. Ich war nervös. Wir haben eine Weile zusammengesessen und Tee getrunken, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Dann habe ich Bettwäsche und ein Kissen für ihn geholt und bin in mein Schlafzimmer gegangen.« Sie konnte sich nur mühsam beherrschen. »Und das war das letzte Mal, daß Sie ihn gesehen haben?« »Ja.« »Und dann haben Sie geschlafen?« »Nicht gleich. Ich habe dann eine Schlaftablette genommen. Ich weiß nur, daß ich durch das Geschrei einer Frau drunten in der Gasse aufgewacht bin.« Sie fing an zu zittern. »Glauben Sie, daß jemand in Ihre Wohnung gekommen ist und Deputy Blake umgebracht hat?« »Ich - ich weiß es nicht«, sagte Ashley verzweifelt. »Irgend jemand ist vorher schon mal hier eingedrungen. Man hat sogar eine Todesdrohung auf meinen Badezimmerspiegel geschmiert.« »Davon hat er mir am Telefon berichtet.« »Vielleicht hat er irgendwas gehört und - und ist hinausgegangen, um nachzusehen«, sagte Ashley. Sheriff Dowling schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er nackt rausgegangen ist.« Ashley weinte wieder. »Ich weiß es nicht! Ich weiß überhaupt nichts! Das ist ein Alptraum.« Sie schlug die Hände vor die Augen. »Ich möchte mich mal in der Wohnung umsehen. Brauche ich dazu einen Durchsuchungsbefehl?« fragte Sheriff Dowling. »Natürlich nicht. N-nur zu.« Sheriff Dowling nickte den beiden Kriminalpolizisten zu. Einer von ihnen ging ins Schlafzimmer, der andere in die Küche. »Worüber haben Sie und Deputy Blake sich unterhalten?« Ashley holte tief Luft. »Ich - ich habe ihm von - von den Sachen erzählt, die mir passiert sind. Er war sehr -« Sie blickte zum Sheriff auf. »Warum sollte ihn jemand umbringen? Wieso?« »Ich weiß es nicht, Miss Patterson. Aber wir werden es herausfinden.« »Kann ich Sie kurz sprechen, Sheriff?« Lieutenant Elton, der Kriminalpolizist, der sich die Küche vorgenommen hatte, stand unter der Tür. »Entschuldigen Sie mich einen Moment.« Sheriff Dowling ging in die Küche. »Was gibt’s?« »Das hier habe ich in der Spüle gefunden«, sagte Lieutenant Elton. Er hielt ein blutbeflecktes Schlachtermesser hoch, das er mit den Fingern an der Klinge gefaßt hatte. »Es ist nicht abgewaschen worden. Darauf finden wir bestimmt Fingerabdrücke.« Kostoff, der zweite Kriminalpolizist, kam aus dem Schlafzimmer und ging raschen Schrittes in die Küche. Er hatte einen mit Diamanten besetzten Smaragdring in der Hand. »Den habe ich im Schmuckkästchen im Schlafzimmer gefunden. Anhand der Beschreibung, die wir aus Quebec erhalten haben, könnte es sich um den Ring handeln, den Jean Claude Parent dieser Toni Prescott geschenkt hat.« Die drei Männer blickten einander an. »Jetzt versteh’ ich überhaupt nichts mehr«, sagte der Sheriff. Vorsichtig nahm er das Schlachtermesser und den Ring und ging ins Wohnzimmer. »Miss Patterson«, sagte er und hielt ihr das Messer hin, »gehört Ihnen dieses Messer?« Ashley betrachtete es. »Ich -ja. Schon möglich. Wieso?« Sheriff Dowling hielt ihr den Ring hin. »Haben Sie diesen Ring schon mal gesehen?« Ashley schaute ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein.« »Wir haben ihn in Ihrem Schmuckkasten gefunden.« Sie achteten auf ihre Miene. Sie wirkte völlig verdutzt. »Ich - jemand muß ihn da hineingelegt haben ...«, flüsterte sie. »Wer sollte denn so etwas tun?« Sie war kreidebleich. »Ich weiß es nicht.« Ein Kriminalpolizist kam zur Wohnungstür herein. »Sheriff?« »Ja, Baker?« Er winkte den Sheriff in die andere Ecke. »Was haben Sie entdeckt?« »Wir haben Blutflecken auf dem Läufer im Flur und im Fahrstuhl gefunden. Sieht so aus, als ob die Leiche auf ein Laken gelegt, in den Fahrstuhl geschleppt und in die Gasse geschafft wurde.« »Verfluchte Scheiße!« Sheriff Dowling wandte sich an Ash-ley. »Miss Patterson, Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen oder tun, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, sich einen Anwalt zu nehmen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird das Gericht einen für Sie bestellen.« »Nehmt ihre Fingerabdrücke und buchtet sie ein«, sagte Sheriff Dowling, als sie in die Dienststelle kamen. Ashley ließ alles wie versteinert über sich ergehen. Als die Prozdeur erledigt war, sagte Sheriff Dowling: »Sie haben das Recht, einen Anruf zu tätigen.« Ashley blickte zu ihm auf. »Es gibt niemanden, den ich anrufen könnte«, sagte sie tonlos. Meinen Vater kann ich nicht anrufen. Sheriff Dowling blickte Ashley nach, als man sie in eine Zelle führte. »Verdammt noch mal, das kapiere ich nicht. Haben Sie den Lügendetektortest gesehen? Ich würde schwören, daß sie unschuldig ist.« Detective Kostoff kam herein. »Sam hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr. Wir haben seine Leiche und das Laken, in das er gewickelt war, mit ultraviolettem Licht untersucht und eindeutig Samenspuren und Vaginalsekret gefunden. Wir -« Sheriff Dowling stöhnte auf. »Moment mal!« Bislang hatte er sich darum gedrückt, seiner Schwester die traurige Nachricht zu überbringen. Aber jetzt konnte er es nicht länger aufschieben. Er seufzte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er. Eine halbe Stunde später war er in Sams Haus und redete mit Serena. »Na, wenn das keine Überraschung ist«, sagte Serena. »Ist Sam auch dabei?« »Nein, Serena. Aber ich muß dich etwas fragen.« Leicht würde das bestimmt nicht werden. Sie schaute ihn neugierig an. »Und zwar?« »Hast - hast du innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden mit Sam geschlafen?« Ihre Stimmung schlug um. »Nein. Wieso willst du das -? Sam kommt nicht zurück, was?« »Es ist mir furchtbar, dir das zu erzählen, aber er -« »Er hat mich sitzengelassen, was? Ich hab’ gewußt, daß es dazu kommt. Ich kann’s ihm nicht verübeln. Ich hab’ mich ihm gegenüber fürchterlich aufgeführt. Ich -« »Serena, Sam ist tot.« »Ich hab ihn ständig angebrüllt. Ich hab’s wirklich nicht gewollt. Ich weiß noch -« Er ergriff ihre Arme. »Serena, Sam ist tot.« »Wir sind mal raus zum Strand gefahren und -« Er schüttelte sie. »Hör mir zu. Sam ist tot.« »- und wollten dort picknicken.« Als er ihr in die Augen schaute, stellte er fest, daß sie ihn sehr wohl verstanden hatte. »Und wir sitzen also am Strand, und ein Mann kommt daher und sagt: >Raus mit eurem Geld.< Und Sam sagt: >Zeig mir erst mal deine Waffe.<« Sheriff Dowling ließ sie weiterreden. Sie stand unter Schock und sperrte sich einfach dagegen. »... so einer war Sam. Erzähl mir was über die Frau, mit der er abgehauen ist. Ist sie wenigstens hübsch? Sam sagt mir ständig, wie hübsch ich wäre, aber ich weiß, daß ich es nicht bin. Er sagt das bloß, damit ich mir wer weiß wie vorkomme, weil er mich nämlich liebt. Der würde mich nie verlassen. Der kommt wieder. Er liebt mich nämlich.« Sie redete immer weiter. Sheriff Dowling ging zum Telefon und wählte eine Nummer. »Schicken Sie eine Pflegerin vorbei.« Dann kehrte er zu seiner Schwester zurück und nahm sie in die Arme. »Alles wird wieder gut.« »Hab ich dir schon mal erzählt, wie Sam und ich -?« Eine Viertelstunde später traf die Pflegerin ein. »Passen Sie gut auf sie auf«, sagte Sheriff Dowling. In Sheriff Dowlings Büro fand gerade eine Besprechung statt, als sich die Telefonzentrale meldete. »Ein Anruf für Sie. Auf Apparat eins.« Sheriff Dowling nahm den Hörer ab. »Ja?« »Sheriff, hier spricht Special Agent Ramirez von der FBI-Zentrale in Washington. Wir haben neue Erkenntnisse zu diesen Mordfällen vorliegen. Wir konnten die Fingerabdrücke nicht vergleichen, weil wir kein Vorstrafenregister über eine Ashley Patterson vorliegen haben, und weil die kalifornische Verkehrszulassungsbehörde erst seit 1988 einen Daumenabdruck verlangt, wenn man einen Führerschein erwerben will.« »Fahren Sie fort.« »Zunächst dachten wir, der Computer spinnt, aber dann haben wir es überprüft und .« Fünf Minuten lang saß Sheriff Dowling da und hörte mit ungläubiger Miene zu. »Sind Sie sicher, daß kein Irrtum vorliegt?« sagte er schließlich. »Das kommt mir ... Alle fünf .? Verstehe ... Herzlichen Dank.« Er legte den Hörer auf und saß eine ganze Weile schweigend da. Dann blickte er auf. »Das war jemand vom FBI-Labor in Washington. Die haben gerade den Vergleich der Fingerabdrücke und der DNS-Codes abgeschlossen. Jean Claude Parent aus Quebec wurde kurz vor seinem Tod mit einer Engländerin namens Toni Prescott gesehen.« »Ja.« »Richard Melton aus San Francisco traf sich, kurz bevor er ermordet wurde, mit einer Italienerin namens Alette Peters.« Die anderen nickten. »Und letzte Nacht war Sam Blake bei Ashley Patterson.« »Richtig.« Sheriff Dowling atmete tief durch. »Ashley Patterson ...« »Ja?« »Toni Prescott .« »Ja?« »Alette Peters ...« »Ja?« »Das ist ein und dieselbe Person.« ZWEITES BUCH 11 Robert Crowther von der Immobilienmaklerfirma Bryant & Crowther riß schwungvoll die Tür auf. »Und das ist die Terrasse«, rief er. »Von dort aus haben Sie freien Blick auf den Coit Tower.« Er musterte das junge Paar, das ihm nach draußen folgte und sich über die Brüstung beugte. Man hatte einen großartigen Ausblick auf ganz San Fransisco, das sich tief unten nach allen Seiten ausbreitete. Robert Crowther sah den kurzen Blick, den sich die beiden zuwarfen, und das verstohlene Lächeln, und er mußte insgeheim grinsen. Sie versuchten sich ihre Begeisterung nicht anmerken zu lassen. Es lief immer wieder aufs gleiche hinaus. Die Kunden meinten immer, sie trieben nur den Preis hoch, wenn sie allzu großes Interesse bekundeten. Diese Penthouse-Maisonette, dachte Crowther verschmitzt, ist sowieso schon teuer genug. Er hatte eher Bedenken, ob sich das Pärchen so was überhaupt leisten konnte. Der Mann war Anwalt, und junge Anwälte verdienen nicht besonders gut. Aber die beiden machten was her, und offensichtlich waren sie schwer ineinander verliebt. David Singer war Anfang Dreißig, blond, sah intelligent aus, und wirkte entwaffnend jungenhaft. Sandra, seine Frau, sah warmherzig und bezaubernd aus. Robert Crowther hatte ihr Bäuchlein sehr wohl bemerkt und prompt auf das zweite Gästezimmer verwiesen, das sich sehr gut als Kinderzimmer eignen würde. »Außerdem gibt es eine Straße weiter einen Spielplatz, und ganz in der Nähe sind zwei Schulen.« Er sah, wie sie sich wieder verstohlen zulächelten. Im oberen Geschoß der Penthouse-Maisonette befanden sich das Schlafzimmer, das Badezimmer und ein Gästezimmer, unten ein großes Wohnzimmer, ein Eßzimmer, Bibliothek und Küche, noch ein Gästezimmer und zwei Badezimmer. Von fast allen Räumen aus hatte man freien Blick auf die Stadt. Robert beobachtete die beiden, als sie noch einmal durch die ganze Wohnung gingen. Sah, wie sie in der Ecke miteinander tuschelten. »Sie ist hinreißend«, sagte Sandra zu David. »Und für unser Baby wäre sie ideal. Aber können wir uns das überhaupt leisten, Liebster? Sie kostet Sechshunderttausend Dollar!« »Plus Nebenkosten«, wandte David ein. »Derzeit können wir’s uns eigentlich nicht leisten, soweit die schlechte Nachricht. Aber ab Donnerstag werden wir’s uns leisten können, weil dann nämlich die bezaubernde Jeannie aus der Flasche steigt und sich unser Leben von Grund auf ändern wird.« »Ich weiß«, versetzte sie strahlend. »Ist es nicht wunderbar!« »Sollen wir zugreifen?« Sandra atmete tief durch. »Auf jeden Fall.« David grinste und winkte ihr zu. »Willkommen daheim, Mrs. Singer.« Arm in Arm gingen sie zu Robert Crowther. »Wir nehmen sie«, sagte David. »Meinen Glückwunsch. Das ist eine der begehrtesten Wohnlagen von ganz San Francisco. Sie werden Ihre Freude daran haben.« »Ganz bestimmt.« »Sie haben Glück. Etliche andere Leute waren nämlich auch an dieser Wohnung interessiert.« »Wieviel müssen wir anzahlen?« »Zehntausend Dollar sollten vorerst reichen. Ich lasse dann den Vertrag aufsetzen. Bei Unterschrift werden weitere sechzigtausend Dollar fällig. Anschließend können Sie mit Ihrer Bank die weiteren monatlichen Zins- und Tilgungsraten für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre vereinbaren.« David warf Sandra einen kurzen Blick zu. »Einverstanden.« »Dann lasse ich die Unterlagen vorbereiten.« »Dürfen wir uns noch einmal umsehen?« fragte Sandra. Crowther lächelte wohlwollend. »Soviel Sie wollen, Mrs. Singer. Sie gehört Ihnen schließlich.« »Mir kommt das alles vor wie ein Traum, David. Ich kann es kaum glauben.« »Es ist aber so.« David nahm sie in die Arme. »Ich möchte alle deine Träume erfüllen.« »Aber das tust du doch, Liebster.« Bislang hatten sie in einer kleinen Dreizimmerwohnung im Hafenviertel gewohnt, aber für eine Familie mit Kind war die nicht groß genug. Nie und nimmer hätten sie sich ein Penthouse am Nob Hill leisten können, aber am Donnerstag stand die große Gesellschafterversammlung der international tätigen Anwaltskanzlei Kincaid, Turner, Rose & Ripley an, bei der David arbeitete. Und an diesem Tag sollten von den fünfundzwanzig Mitarbeitern sechs ausgewählt werden, die künftig als Gesellschafter in die Kanzlei aufgenommen werden, und alle waren der Meinung, daß David einer der aussichtsreichsten Kandidaten war. Kincaid, Turner, Rose & Ripley, mit Niederlassungen in San Francisco, New York, London, Paris und Tokio, war eine der angesehensten Anwaltskanzleien der Welt, und dementsprechend begehrt war sie bei allen angehenden Juristen, soweit sie die erforderlichen Eliteuniversitäten besucht hatten. Die Kanzlei wählte ihre Kandidaten nach der Methode Zuk-kerbrot und Peitsche aus. Die jungen Anwälte wurden gnadenlos ausgenutzt, mußten endlose Überstunden schieben und bekamen all die Fälle aufgehalst, mit denen sich die alteingesessenen Juristen nicht herumplagen mochten. Es war eine aufreibende Arbeit, für die man rund um die Uhr zur Verfügung stehen mußte. Das war die Peitsche. Denjenigen, die durchhielten, winkte das Zuckerbrot, nämlich die Aussicht auf eine Teilhaberschaft an der Kanzlei. Wenn man Gesellschafter wurde, bekam man ein höheres Gehalt, einen Anteil am üppigen Gewinn, ein geräumiges Büro mit herrlichem Ausblick und einem eigenen Waschraum samt Toilette, Aufträge im Ausland und eine Menge weiterer Vergünstigungen. David praktizierte seit sechs Jahren bei Kincaid, Turner, Rose & Ripley Wirtschaftsrecht, und es war ein durchaus gemischtes Vergnügen gewesen. Der Zeitaufwand war schrecklich und der Streß gewaltig, doch David hatte durchgehalten und hervorragende Arbeit geleistet, denn er hatte von Anfang an die Ernennung zum Gesellschafter angestrebt. Jetzt war es endlich soweit. Nach der Wohnungsbesichtigung gingen David und Sandra einkaufen. Sie besorgten sich einen Babykorb, einen Kinderstuhl, einen Kinderwagen, einen Laufstall und Kleidung für das Baby, das sie für sich schon Jeffrey nannten. »Wir sollten ihm noch ein paar Spielsachen kaufen«, sagte David. »Das hat noch eine Weile Zeit.« Sandra lachte. Nach dem Einkaufen spazierten sie eine Weile in der Stadt umher, bummelten vor dem Ghiradelli Square am Wasser entlang und an der Cannery vorbei zur Fisherman’s Warf. Schließlich aßen sie im American Bistro zu Mittag. Es war Sonnabend, ein Tag, an dem in San Francisco Männer mit eleganten Aktentaschen aus Leder, vornehmen konservativen Krawatten, dunklen Anzügen und diskret mit Monogrammen bestickten Hemden unterwegs waren, ein Tag für ein Mittagessen mit Geschäftspartnern und für Penthousebesichtigungen. Kurzum, ein Tag für Anwälte. David hatte Sandra vor drei Jahren bei einer kleinen Dinnerparty kennengelernt. David war mit der Tochter eines Mandanten der Kanzlei hingegangen. Sandra arbeitete als Kanzleigehilfin bei der Konkurrenz. Beim Essen war es zwischen ihnen zu einem Streitgespräch wegen einer Gerichtsentscheidung in einem politischen Fall in Washington gekommen. Unter den Blicken der anderen Gäste hatten sie sich immer mehr hineingesteigert. Doch mitten im heißen Disput war David und Sandra klargeworden, daß es ihnen gar nicht um den Richterspruch ging. Sie spielten sich voreinander auf, trugen sozusagen einen juristischen Balztanz aus. Am nächsten Tag rief David Sandra an. »Ich möchte die Diskussion über diese Entscheidung gern zu Ende bringen«, schlug er vor. »Ich halte das für wichtig.« »Ich auch«, entgegnete Sandra. »Könnten wir uns heute abend beim Essen weiter darüber unterhalten?« Sandra zögerte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Heute abend paßt es mir bestens.« Von diesem Abend an waren sie unzertrennlich, und ein Jahr darauf heirateten sie. Joseph Kincaid, der Seniorchef der Kanzlei, gab David ausnahmsweise sogar übers Wochenende frei. David verdiente bei Kincaid, Turner, Rose & Ripley fünfund-vierzigtausend Dollar im Jahr. Sandra behielt ihren Job als Kanzleigehilfin. Doch jetzt, da ein Baby unterwegs war, standen ihnen höhere Ausgaben bevor. »In ein paar Monaten muß ich meinen Beruf aufgeben«, sagte Sandra. »Ich möchte nicht, daß unser Kleiner von einem Kindermädchen aufgezogen wird. Ich möchte für ihn dasein.« Die Ultraschalluntersuchung hatte gezeigt, daß das Baby ein Junge war. »Wir werden es schon schaffen«, versicherte ihr David. Sobald er erst einmal Gesellschafter war, würde sich ihr Leben von Grund auf ändern. Seit einiger Zeit machte David sogar noch mehr Überstunden. Er wollte dafür Sorge tragen, daß man ihn am Tag der Entscheidung auf keinen Fall überging. Als David sich am Donnerstag anzog, schaltete er die Fernsehnachrichten ein. »Wir haben eine aufsehenerregende Nachricht für Sie«, meldete der Ansager mit atemloser Stimme. »Ashley Patterson, die Tochter des bekannten Arztes Steven Patterson aus San Francisco, wurde als die mutmaßliche Serienmörderin festgenommen, nach der das FBI und andere Polizeidienststellen seit geraumer Zeit fahnden.« David stand wie angewurzelt vor dem Fernseher. »... wie Sheriff Matt Dowling aus dem Bezirk Santa Clara gestern abend mitteilte, wurde Ashley Patterson im Zusammenhang mit einer Reihe von Bluttaten festgenommen, bei denen die Opfer unter anderem kastriert wurden. >Es gibt keinerlei Zweifel, daß wir die verantwortliche Person dingfest gemacht habenc, teilte Sheriff Dowling der Presse mit.« Dr. Steven Patterson. David ließ seine Gedanken schweifen, erinnerte sich . Er war einundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte gerade mit dem Jurastudium begonnen. Eines Tages war er von der Universität nach Hause gekommen und hatte seine Mutter im Schlafzimmer bewußtlos am Boden aufgefunden. Er hatte den Notruf gewählt, worauf seine Mutter von einem Krankenwagen ins San Francisco Memorial Hospital gebracht worden war. David hatte vor der Notaufnahme gewartet, bis ein Arzt herausgekommen war und mit ihm gesprochen hatte. »Wird sie - wird sie wieder auf die Beine kommen?« Der Arzt zögerte. »Einer unserer Kardiologen hat sie untersucht. Sie leidet an Mitralklappenvorfall.« »Was heißt das?« wollte David wissen. »Ich fürchte, daß wir nichts für sie tun können. Für eine Transplantation ist sie zu geschwächt, und ein mikrochirurgischer Eingriff ist zu riskant, da wir zu wenig Erfahrung damit haben.« David kam sich mit einemmal klein und schwach vor. »Wie - wie lange kann sie -?« »Ein paar Tage, würde ich sagen, eine Woche vielleicht. Tut mir leid, mein Sohn.« David war außer sich. »Kann ihr denn niemand helfen?« »Ich fürchte, nein. Der einzige, der ihr womöglich helfen könnte, ist Steven Patterson, aber der ist sehr -« »Wer ist Steven Patterson?« »Dr. Patterson hat Pionierarbeit auf dem Gebiet der Mikrochirurgie am Herzen geleistet. Aber er ist derart gefragt und durch seine Forschungsarbeit so ausgelastet, daß keinerlei Aussicht -« David war bereits weg. Von einem Münztelefon im Krankenhaus rief er in Dr. Pattersons Praxis an. »Ich hätte gern einen Termin bei Dr. Patterson. Es geht um meine Mutter. Sie -« »Tut mir leid. Wir nehmen derzeit keine neuen Patienten auf. Der frühestmögliche Termin wäre in sechs Monaten.« »Ihr bleiben aber keine sechs Monate mehr«, rief David. »Tut mir leid. Ich empfehle Ihnen, sich an -« David knallte den Hörer auf. Am nächsten Morgen ging er zu Dr. Pattersons Praxis. Das Wartezimmer war überfüllt. David ging zur Empfangsdame. »Ich hätte gern einen Termin bei Dr. Patterson. Meine Mutter ist schwer krank, und -« Sie blickte auf. »Haben Sie nicht gestern schon angerufen?« »Ja.« »Dann wissen Sie doch Bescheid. Wir haben keinen Termin frei, und wir vereinbaren derzeit auch keine.« »Dann warte ich eben«, versetzte David starrsinnig. »Sie können ruhig warten. Der Doktor ist -« David nahm Platz. Er sah, wie die anderen Leute im Wartezimmer nach und nach ins Sprechzimmer gerufen wurden, bis er zu guter Letzt allein dasaß. Um sechs Uhr kam die Empfangsdame zu ihm. »Es ist sinnlos, noch länger zu warten. Dr. Patterson ist nach Hause gegangen.« An diesem Abend besuchte David seine Mutter auf der Intensivstation. »Sie können nicht lange bleiben«, warnte ihn die Schwester. »Sie ist sehr schwach.« David stiegen die Tränen in die Augen, sobald er das Zimmer betrat. Seine Mutter war an ein Beatmungsgerät angeschlossen und wurde über Kanülen am Arm intravenös versorgt. Sie wirkte weißer als das Bettzeug, auf dem sie lag. Ihre Augen waren geschlossen. David ging zu ihr hin. »Ich bin’s, Mama«, sagte er. »Ich lasse dich nicht einfach sterben. Du wirst wieder gesund werden.« Tränen liefen ihm über die Wangen. »Hörst du mich? Wir müssen dagegen ankämpfen. Gegen uns beide kommt keiner an, nicht, solange wir zusammenhalten. Ich werde dir den besten Arzt auf der Welt besorgen. Halte du nur durch. Ich komme morgen wieder her.« Wird sie morgen noch am Leben sein? Am Nachmittag begab sich David in die Tiefgarage des Gebäudes, in dem sich Dr. Pattersons Praxis befand. Ein Parkwächter kam auf ihn zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich warte auf meine Frau«, sagte David. »Sie ist bei Dr. Patterson.« Der Parkwächter lächelte. »Ein toller Typ.« »Er hat uns von dem schicken Wagen erzählt, den er fährt.« David stockte, so als versuchte er sich zu erinnern. »War’s nicht ein Cadillac?« Der Parkwächter schüttelte den Kopf. »Nee.« Er deutete auf einen Rolls-Royce, der eine Reihe weiter stand. »Der Rolls da drüben gehört ihm.« »Stimmt«, versetzte David. »Aber ich glaube, er hat gesagt, daß er auch einen Cadillac hat.« »Würde mich nicht wundern«, sagte der Wärter. Dann lief er raschen Schrittes zu einem neu ankommenden Wagen und parkte ihn ein. David ging wie beiläufig zu dem Rolls-Royce. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß ihn niemand beobachtete, öffnete er die hintere Tür, rutschte auf den Rücksitz und ließ sich am Boden nieder. Zusammengekrümmt lag er in dem engen, unbequemen Versteck und hoffte inbrünstig, daß Dr. Patterson bald herauskommen möge. Um Viertel nach sechs spürte David einen leichten Ruck, als die vordere Tür geöffnet wurde und sich jemand ans Lenkrad setzte. Er hörte, wie der Motor angelassen wurde. Dann fuhr der Wagen an. »Guten Tag, Dr. Patterson.« »Guten Abend, Marco.« Der Wagen fuhr aus der Tiefgarage und bog um eine Kurve. David wartete noch zwei Minuten, holte dann tief Luft und setzte sich auf. Dr. Patterson sah ihn im Rückspiegel. »Falls das ein Überfall sein soll - ich habe kein Bargeld bei mir.« »Fahren Sie in eine Seitenstraße und halten Sie an.« Dr. Patterson nickte. David ließ den Arzt nicht aus den Augen, als er mit dem Wagen in eine Seitenstraße abbog, an den Straßenrand steuerte und anhielt. »Ich gebe Ihnen alle Wertsachen, die ich bei mir habe«, sagte Dr. Patterson. »Sie können den Wagen haben. Es geht auch ohne Gewalt. Wenn -« David hatte sich inzwischen nach vorne gesetzt. »Das ist kein Überfall. Ich will den Wagen nicht.« Dr. Patterson schaute ihn ärgerlich an. »Was zum Teufel wollen Sie denn?« »Mein Name ist Singer. Meine Mutter liegt im Sterben. Ich möchte, daß Sie sie retten.« Einen Moment lang wirkte Dr. Patterson erleichtert, dann wurde er ungehalten. »Vereinbaren Sie einen Termin mit meiner -« »Ich kann nicht so lange warten, bis ich von Ihnen einen Termin bekomme, verdammt noch mal.« David wurde jetzt laut. »Sie stirbt sonst, und das werde ich nicht zulassen.« Er konnte sich nur mühsam beherrschen. »Bitte. Die anderen Ärzte haben mir gesagt, daß Sie meine einzige Hoffnung sind.« Dr. Patterson musterte ihn nach wie vor mißtrauisch. »Was fehlt ihr?« »Sie - leidet an einem Mitralklappenvorfall. Die anderen Ärzte trauen sich nicht, sie zu operieren. Sie sagen, daß Sie der einzige sind, der ihr das Leben retten kann.« Dr. Patterson schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Mein Terminkalender -« »Ihr Terminkalender ist mir scheißegal! Hier geht’s um meine Mutter. Sie müssen Sie retten! Sie ist mein ein und alles ...« Eine ganze Weile herrschte Stille. David saß mit zusammengekniffenen Augen da. Dann hörte er Dr. Pattersons Stimme. »Ich kann nichts versprechen, aber ich werde sie mir ansehen. Wo ist sie?« David wandte sich zu ihm um. »Sie liegt auf der Intensivstation des San Francisco Memorial Hospital.« »Morgen früh um acht Uhr sprechen wir uns dort.« David brachte kaum ein Wort heraus. »Ich weiß gar nicht, wie ich -« »Ich verspreche gar nichts, bedenken Sie das. Und ich lasse mich auch nicht gern überrumpeln, junger Mann. Probieren Sie’s das nächstemal per Telefon.« David saß stocksteif da. Dr. Patterson schaute ihn an. »Was ist los?« »Es gibt da noch was.« »Aha, und zwar?« »Ich - ich habe kein Geld. Ich kann mit Mühe und Not mein Jurastudium finanzieren.« Dr. Patterson starrte ihn an. »Ich schwöre Ihnen, daß ich mir irgendwas einfallen lasse. Sie werden zu Ihrem Geld kommen, und wenn ich mein Leben lang dafür schuften muß. Ich weiß, wie teuer Sie sind, und ich -« »Das glaube ich nicht, junger Mann.« »Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll, Dr. Patterson. Ich - ich flehe Sie an.« Wieder herrschte eine Zeitlang Stille. »Wie viele Semester Jura haben Sie schon hinter sich?« »Noch gar keins. Ich habe gerade angefangen.« »Aber Sie gedenken Ihre Schuld zu begleichen?« »Ich schwöre es.« »Raus mit Ihnen.« Als David nach Hause kam, war er darauf gefaßt, daß jeden Moment die Polizei an der Tür klingeln und ihn wegen Freiheitsberaubung und Nötigung festnehmen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Aber er fragte sich, ob Dr. Patterson sich in der Klinik sehen lassen würde. Als David am nächsten Morgen auf die Intensivstation kam, war Dr. Patterson bereits da und untersuchte seine Mutter. David sah ihm beklommen und bangen Mutes zu. Dann drehte sich Dr. Patterson zu den anderen Ärzten um, die um ihn herumstanden. »Lassen Sie sie in den OP bringen, A1. Sofort!« »Wird sie -?« preßte David mit belegter Stimme heraus, als man seine Mutter auf eine Rollbahre bettete. »Wir werden sehen.« Sechs Stunden später kam Dr. Patterson in das Wartezimmer, in dem David ausgeharrt hatte. David sprang auf. »Wie -?« Er hatte Angst davor, die Frage auszusprechen. »Sie wird wieder genesen. Ihre Mutter hat eine robuste Natur.« David war zutiefst erleichtert. Er sprach ein stilles Stoßgebet. Danke, lieber Gott. Dr. Patterson musterte ihn. »Ich weiß nicht mal, wie Sie mit Vornamen heißen.« »David, Sir.« »Nun ja, mein lieber David-Sir, wissen Sie, weshalb ich mich dafür entschieden habe?« »Nein .« »Aus zweierlei Gründen. Erstens, weil der Zustand, in dem sich Ihre Mutter befand, eine Herausforderung darstellte. Und ich mag Herausforderungen. Der zweite Grund waren Sie.« »Ich - das verstehe ich nicht.« »Sie haben etwas getan, was ich in jüngeren Jahren vielleicht auch gemacht hätte. Und Sie haben sich etwas einfallen lassen. Nun« - er schlug einen anderen Tonfall an -, »Sie haben gesagt, Sie würden Ihre Schuld begleichen.« David rutschte das Herz in die Hose. »Ja, Sir. Eines Tages, wenn -« »Warum nicht gleich?« David schluckte. »Gleich?« »Ich mache Ihnen ein Angebot. Können Sie Auto fahren?« »Ja, Sir .« »Na schön. Ich habe es satt, diesen großen Wagen ständig selbst zu fahren. Bringen Sie mich ein Jahr lang täglich zur Arbeit und holen Sie mich jeden Abend um sechs oder sieben wieder ab. Danach ist von meiner Seite aus das Honorar beglichen .« So lautete die Abmachung. David fuhr Dr. Patterson jeden Tag zu seiner Praxis und brachte ihn abends wieder nach Hause, und Dr. Patterson rettete dafür das Leben von Davids Mutter. Im Laufe dieses Jahres bekam David immer mehr Hochachtung vor Dr. Patterson. Hier und da neigte er zwar zu Wutausbrüchen, aber er war der selbstloseste Mensch, den er je kennengelernt hatte. Er hatte ein ausgeprägtes soziales Gewissen und opferte einen Gutteil seiner Freizeit für ehrenamtliche Tätigkeiten in sogenannten freien Kliniken. Sie führten lange Gespräche miteinander, wenn David ihn zur Praxis, zur Klinik oder wieder nach Hause fuhr. »Worauf wollen Sie sich spezialisieren, David?« »Auf Strafrecht.« »Warum? Damit die Gauner, die sich von Ihnen vertreten lassen, wieder auf freien Fuß kommen?« »Nein, Sir. Aber heutzutage kommen auch allerhand anständige Menschen mit dem Gesetz in Konflikt. Denen möchte ich beistehen.« Als das Pflichtjahr abgegolten war, schüttelte Dr. Patterson David die Hand und sagte: »Wir sind quitt .« Seither hatte David Dr. Patterson nicht mehr gesehen, aber er war immer wieder auf seinen Namen gestoßen. »Dr. Patterson gründet kostenlose Klinik für aidskranke Kinder .« »Dr. Steve Patterson weiht die Patterson-Klinik in Kenia ein .« »Dr. Patterson legte Grundstein für das PattersonObdachlosenasyl ...« Er war allgegenwärtig, scheute offenbar weder Kosten noch Mühen, wenn es um die Notleidenden und Bedürftigen ging. Sandras Stimme brachte David wieder zur Besinnung. »David. Hast du irgendwas?« Er wandte sich vom Fernseher ab. »Steven Pattersons Tochter wurde soeben wegen dieser Serienmorde festgenommen.« »Oh, wie schrecklich!« rief Sandra. »Das tut mir ja so leid, Liebster.« »Er hat meiner Mutter das Leben gerettet. Sieben wunderbare Jahre, die sie in vollen Zügen genossen hat. Jemand wie er hat das einfach nicht verdient. Er ist der großzügigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Das ist nicht gerecht. Wie kann ein Mann wie er so ein Ungeheuer zur Tochter haben?« Er schaute auf seine Uhr. »Verdammt! Ich komme zu spät.« »Du hast noch nicht mal gefrühstückt.« »Mir hat’s den Appetit verschlagen.« Er warf einen Blick zum Fernsehapparat. »Deswegen - und weil heute der Tag der Entscheidung ist .« »Du wirst es schaffen. Daran gibt es nichts zu zweifeln.« »Zweifel bleiben immer, mein Schatz. Jedes Jahr guckt irgendwer, der die Beteiligung bereits in der Tasche zu haben glaubte, am Ende in die Röhre.« Sie umarmte ihn. »Die können doch von Glück sagen, daß sie dich haben.« Er beugte sich vor und küßte sie. »Danke, mein Schatz. Ich wüßte nicht, was ich ohne dich machen sollte.« »Mußt du auch nicht. Ruf mich an, sobald du Bescheid weißt, ja, David?« »Selbstverständlich. Wir gehen aus und feiern.« Und er erinnerte sich wieder, wie er vor vielen Jahren zu jemand anderem das gleiche gesagt hatte. Wir gehen aus und feiern. Und dann hatte er sie umgebracht. Die Kanzlei Kincaid, Turner, Rose & Ripley nahm insgesamt drei Stockwerke des TransAmerica Building im Zentrum von San Francisco ein. Als David Singer zur Arbeit kam, empfingen ihn alle mit einem wissenden Lächeln. Er hatte den Eindruck, daß selbst das »Guten Morgen«, das man ihm zurief, einen anderen Klang hatte. Offenbar wußte man, daß man es mit einem zukünftigen Gesellschafter der Kanzlei zu tun hatte. Auf dem Weg zu seinem kleinen Büro kam David an dem frisch renovierten Raum vorbei, der für einen der auserkorenen Gesellschafter bestimmt war. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und warf einen kurzen Blick hinein. Es war ein großes, schmuckes Büro mit einem privaten Waschraum und einem Panoramafenster, das einen herrlichen Ausblick auf die Bucht von San Francisco bot. Er stand einen Moment lang da und ließ alles auf sich einwirken. Als David in sein Büro kam, begrüßte ihn Holly, seine Sekretärin, mit einem munteren »Guten Morgen, Mr. Singer«. Sie sprach mit einem leichtem Singsang. »Guten Morgen, Holly.« »Ich habe eine Nachricht für Sie.« »Ja?« »Mr. Kincaid möchte Sie um fünf Uhr in seinem Büro sprechen.« Sie lächelte ihn strahlend an. Dann ist es also wirklich soweit! »Großartig!« Sie trat einen Schritt näher. »Und ich glaube, ich weiß noch mehr. Ich war nämlich heute morgen mit Dorothy, Mr. Kin-caids Sekretärin, Kaffee trinken. Sie sagt, daß Sie ganz oben auf der Liste stehen.« David grinste. »Danke, Holly.« »Möchten Sie Kaffee?« »Aber gern.« »Heiß und stark. Kommt sofort.« David ging zu seinem Schreibtisch, auf dem sich allerlei Papierkram stapelte - Schriftsätze, Vertragsentwürfe und diverse Aktenordner. Heute war der entscheidende Tag. Endlich. Mr. Kincaid möchte Sie um fünf Uhr in seinem Büro sprechen. Sie stehen ganz oben auf der Liste. Am liebsten hätte er Sandra auf der Stelle angerufen und ihr die gute Nachricht mitgeteilt. Doch irgend etwas hielt ihn davon ab. Ich warte lieber, bis es soweit ist, dachte er. David vertiefte sich zwei Stunden lang in die Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen. Um elf Uhr kam Holly herein. »Ein Dr. Patterson möchte Sie sprechen. Er hat keinen Ter-« Er blickte verwundert auf. »Dr. Patterson ist hier im Haus?« »Ja.« David stand auf. »Schicken Sie ihn rein.« David konnte seine Bestürzung nur mühsam verhehlen, als Dr. Patterson eintrat. Der berühmte Mediziner wirkte alt und abgespannt. »Hallo, David.« »Dr. Patterson, nehmen Sie Platz.« David musterte ihn, als er sich behutsam in den Sessel sinken ließ. »Ich habe die Morgennachrichten gehört. Ich - ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie betroffen ich bin.« Dr. Patterson nickte matt. »Ja. Das war ein ganz schöner Schlag.« Er blickte auf. »Sie müssen mir helfen, David.« »Selbstverständlich«, erwiderte David, ohne zu zögern. »Ich bin zu allem bereit, jederzeit.« »Ich möchte, daß Sie Ashley vertreten.« Es dauerte einen Moment, bis David begriff. »Ich - das kann ich nicht. Ich bin kein Strafverteidiger.« Dr. Patterson schaute ihm in die Augen. »Und Ashley ist keine Straftäterin.« »Ich - Sie verstehen das nicht, Dr. Patterson. Ich bin Wirtschaftsrechtler. Aber ich kann Ihnen einen hervorragenden -« »Bei mir haben sich bereits ein Dutzend sogenannter Staranwälte gemeldet. Alle wollen sie verteidigen.« Er beugte sich vor. »Aber die wittern nur einen aufsehenerregenden Fall, der einen großen Auftritt verspricht. Meine Tochter kümmert die nicht einen Deut. Mich schon. Sie ist mein ein und alles.« Sie müssen meiner Mutter das Leben retten. Sie ist mein ein und alles. »Ich bin jederzeit bereit, Ihnen zu helfen, aber -« setzte David an. »Aber Sie waren doch direkt nach dem Jurastudium für einen Strafverteidiger tätig.« Davids Herz schlug einen Takt schneller. »Ganz recht, aber ich -« »Sie waren etliche Jahre lang Strafverteidiger.« David nickte. »Ja, aber ich - ich habe mich anderweitig orientiert. Das ist lange her, und -« »So lange nun auch wieder nicht. Und Sie haben mir seinerzeit erklärt, wie sehr Sie Ihren Beruf lieben. Warum sind Sie eigentlich Wirtschaftsanwalt geworden?« David schwieg einen Moment. »Das ist doch unwichtig.« Dr. Patterson zog einen von Hand geschriebenen Brief aus der Tasche und reichte ihn David. David kannte ihn auswendig. »Lieber Dr. Patterson, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich für Ihre großzügige Hilfe bin und wie tief ich in Ihrer Schuld stehe. Wenn ich jemals etwas für Sie tun kann, brauchen Sie mich nur anzusprechen, und ich werde zu allem bereit sein.« David starrte wie benommen auf den Brief. »David, werden Sie mit Ashley sprechen?« David nickte. »Ja, natürlich werde ich mit ihr sprechen, aber ich -« Dr. Patterson stand auf. »Vielen Dank.« David brachte ihn zur Tür. Warum sind Sie eigentlich Wirtschaftsanwalt geworden? Weil ich einen Fehler begangen habe, der einer Frau, die ich geliebt habe, das Leben gekostet hat. Weil ich mir geschworen habe, daß ich nie mehr im Leben für das Leben eines anderen verantwortlich sein möchte. Niemals. Ich kann Ashley Patterson nicht verteidigen. David drückte den Knopf an seiner Gegensprechanlage. »Holly, würden Sie bitte Mr. Kincaid fragen, ob ich gleich bei ihm vorsprechen darf?« »Ja, Sir.« Eine halbe Stunde später betrat David das geschmackvoll eingerichtete Büro von Joseph Kincaid. Kincaid war Mitte Sechzig, ein stattlicher, grauhaariger Mann, den nichts auf der Welt erschüttern konnte. »Na«, sagte er, als David durch die Tür kam, »Sie können sich wohl nicht gedulden, junger Mann? Sollten Sie nicht erst um fünf bei mir vorsprechen?« David ging zum Schreibtisch. »Ich weiß. Aber ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen, Joseph.« Vor etlichen Jahren hatte David ihn einmal mit »Joe« angeredet, worauf der Alte ihn prompt zur Schnecke gemacht hatte. Unterstehen Sie sich, mich noch einmal mit Joe anzusprechen. »Setzen Sie sich, David.« David nahm Platz. »Zigarre? Die stammen aus Kuba.« »Nein, danke.« »Worum geht es?« »Dr. Patterson ist eben bei mir gewesen.« »Es kam heute morgen in den Nachrichten«, sagte Kincaid. »Schöne Schweinerei. Was wollte er von Ihnen?« »Ich soll seine Tochter verteidigen.« Kincaid schaute David verwundert an. »Sie sind doch gar kein Strafverteidiger.« »Das habe ich ihm auch gesagt.« »Nun denn.« Kincaid dachte einen Moment lang nach. »Wissen Sie, einen Mandanten wie Dr. Patterson kann man sich nur wünschen. Er ist einflußreich. Er könnte unserer Kanzlei allerhand neue Aufträge verschaffen. Außerdem hat er beste Beziehungen zu etlichen Staatsorganisationen, die -« »Das ist noch nicht alles.« Kincaid schaute David fragend an. »Aha?« »Ich habe ihm versprochen, daß ich mit seiner Tochter rede.« »So, so. Nun ja, ich nehme an, das kann nichts schaden. Reden Sie mit ihr, und hinterher setzen wir uns zusammen und suchen einen guten Strafverteidiger für sie aus.« »Genau das hatte ich vor.« »Gut. Wir werden ihm Hilfestellung geben. Sie nehmen sich der Sache an.« Er lächelte. »Wir sprechen uns um fünf.« »Schön. Vielen Dank, Joseph.« Warum besteht Dr. Patterson unbedingt darauf, daß ich seine Tochter verteidige? dachte David, als er zu seinem Büro zurückging. 12 Unterdessen saß Ashley Patterson teilnahmslos in ihrer Zelle im Bezirksgefängnis von Santa Clara und wußte nicht, wie ihr geschah. Einerseits war sie heilfroh, daß sie im Gefängnis saß, weil ihr hinter Gittern niemand etwas antun konnte. Sie verschanzte sich regelrecht in ihrer Zelle und versuchte all das Schreckliche und Unerklärliche, das ihr widerfahren war, zu verdrängen. Ihr Leben war zu einem einzigen Alptraum geworden. Ashley dachte über die rätselhaften Vorfälle in letzter Zeit nach - über den Einbruch in ihre Wohnung und die Streiche, die man ihr gespielt hatte ... das Wochenende in Chicago ... die Schmiererei auf ihrem Spiegel. Und jetzt bezichtigte die Polizei sie unsäglicher Taten, die sie nie und nimmer begangen hatte. Sie kam sich vor, als hätte sich alle Welt gegen sie verschworen, aber sie hatte keine Ahnung, wer oder was dahintersteckte. Frühmorgens war eine Wärterin zu ihrer Zelle gekommen. »Besuch.« Sie hatte Ashley zu einem Sprechzimmer gebracht, in dem ihr Vater sie erwartete. Er hatte dagestanden und sie mit bedrückter Miene betrachtet. »Mein Schatz - ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Ich war’s nicht. So was Schreckliches brächte ich gar nicht fertig.« »Das weiß ich doch. Hier handelt es sich um ein schreckliches Mißverständnis, aber wir werden das schon wieder bereinigen.« Ashley schaute ihren Vater an und fragte sich, wie sie jemals auf die Idee hatte kommen können, daß er hinter den Mordtaten steckte. »... keine Sorge«, sagte er gerade. »Das wird schon wieder. Ich habe einen Anwalt für dich. David Singer heißt er. Ein junger Mann, aber blitzgescheit. Er wird vorbeikommen und mit dir sprechen. Ich möchte, daß du ihm alles erzählst.« Ashley blickte ihren Vater an. »Ich - ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll«, versetzte sie tonlos. »Ich weiß ja überhaupt nicht, was los ist.« »Wir werden der Sache schon auf den Grund gehen, mein Schatz. Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß man dir etwas zuleide tut. Nie und nimmer! Du bedeutest mir zuviel. Du bist mein ein und alles.« »Du auch«, flüsterte Ashley. Ashleys Vater blieb über eine Stunde. Nachdem er gegangen war, wurde Ashley wieder in die kleine Zelle zurückgebracht, in der man sie verwahrte. Sie legte sich auf die Pritsche und zwang sich dazu, sich keinerlei Gedanken zu machen. Das wird bald vorüber sein, und dann werde ich feststellen, daß alles nur ein Traum war ... Nur ein Traum ... Nur ein Traum. Sie schlief ein. Eine Wärterin weckte sie auf. »Besuch für Sie.« Sie wurde in einen Besuchsraum gebracht, wo Shane Miller bereits auf sie wartete. Er stand auf, als Ashley hereingeführt wurde. »Ashley ...« Sie hatte mit einemmal Herzklopfen. »O Shane!« Noch nie hatte sie sich so über einen Besuch gefreut. Irgendwie hatte sie gewußt, daß er vorbeikommen und sie herausholen würde, daß er dafür sorgen würde, daß man sie freiließ. »Shane, ich bin ja so froh, daß du hier bist!« »Ich freue mich auch«, erwiderte er verlegen. Er blickte sich in dem Besuchszimmer um. »Allerdings nicht unbedingt unter diesen Umständen. Ich - ich wollte es zunächst nicht glauben, als ich es erfahren habe. Wie konnte das passieren? Wieso hast du das getan, Ashley?« Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. »Wieso ich das -? Meinst du etwa, daß ich -?« »Ist ja egal«, sagte Shane rasch. »Sprechen wir nicht mehr davon. Darüber solltest du nur mit deinem Anwalt reden.« Ashley stand da und starrte ihn an. Er hielt sie offenbar für schuldig. »Wieso bist du gekommen?« »Nun ja, ich - mir ist dabei gar nicht wohl zumute, aber unter - diesen Umständen, äh - sieht sich die Firma leider gezwungen, dich zu entlassen. Ich meine, wir - wir können es uns einfach nicht leisten, in so eine Sache hineingezogen zu werden. Schlimm genug, daß in den Zeitungen erwähnt wurde, daß du bei Global beschäftigt bist. Das verstehst du doch, nicht? Es ist nicht persönlich gemeint.« Auf der Fahrt nach San Jose überlegte sich David Singer, wie er das Gespräch mit Ashley Patterson angehen sollte. Er wollte zusehen, daß er soviel aus ihr herausholen konnte wie nur möglich, und alles, was er erfuhr, an Jesse Quiller weiterleiten, einen der besten Strafverteidiger im ganzen Land. Wenn jemand Ashley helfen konnte, dann war es Jesse. David wurde in Sheriff Dowlings Büro geführt. Er reichte dem Sheriff seine Karte. »Ich bin Rechtsanwalt. Ich möchte mit Ashley Patterson sprechen und -« »Sie erwartet Sie bereits.« David schaute ihn überrascht an. »Tatsächlich?« »Ja.« Sheriff Dowling wandte sich an einen Deputy und nickte ihm zu. »Hier lang«, sagte der Deputy zu David. Er führte David in den Besuchsraum, und ein paar Minuten später wurde Ashley aus ihrer Zelle gebracht. David war Ashley Patterson vor vielen Jahren einmal begegnet, als er noch Student gewesen war und ihren Vater in der Gegend herumchauffiert hatte. Er hatte das Mädchen seinerzeit intelligent und attraktiv gefunden. Jetzt hatte er eine schöne junge Frau mit angsterfüllten Augen vor sich. Sie setzte sich ihm gegenüber hin. »Hallo, Ashley. Ich bin David Singer.« »Mein Vater hat mir schon gesagt, daß Sie vorbeikommen«, erwiderte sie mit bebender Stimme. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« Sie nickte. »Zuvor möchte ich Sie darauf hinweisen, daß alles, was Sie mir sagen, streng vertraulich behandelt wird. Das geht nur uns beide etwas an. Aber Sie müssen mir die Wahrheit sagen.« Er zögerte. So weit hatte er eigentlich gar nicht gehen wollen, aber andererseits wollte er Jesse Quiller möglichst viel Stoff liefern. Immerhin mußte er ihn erst noch dazu überreden, daß er den Fall übernahm. »Haben Sie diese Männer getötet?« »Nein!« versetzte Ashley im Brustton der Überzeugung. »Ich bin unschuldig!« David zog ein Blatt Papier aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Sind Sie mal mit einem gewissen Jim Cleary gegangen?« »Ja. Wir - wir wollten heiraten. Wieso, um alles in der Welt, hätte ich Jim denn etwas zuleide tun sollen? Ich habe ihn geliebt.« David musterte Ashley einen Moment lang und schaute dann wieder auf seine Notizen. »Was ist mit Dennis Tibble?« »Dennis hat in der gleichen Firma gearbeitet wie ich. Ich war kurz vor seinem Tod bei ihm, aber ich habe nichts damit zu tun. Ich war in Chicago, als er ermordet wurde.« David achtete auf ihre Mimik. »Sie müssen mir glauben. Ich - ich hatte nicht den geringsten Grund, ihn umzubringen.« »Na schön«, sagte David. Er warf einen zweiten Blick auf seine Unterlagen. »Welche Beziehung hatten Sie zu Jean Claude Parent?« »Das hat mich die Polizei auch schon gefragt. Ich habe den Namen noch nie gehört. Wieso sollte ich jemanden umbringen, den ich nicht einmal kenne?« Sie schaute David mit flehendem Blick an. »Begreifen Sie denn nicht? Es handelt sich um ein Versehen. Ich habe mit diesen Morden nichts zu tun.« Sie fing an zu weinen. »Ich habe niemanden umgebracht.« »Und Richard Melton?« »Den kenne ich auch nicht.« David wartete, bis Ashley sich wieder gefaßt hatte. »Was ist mit Deputy Blake?« Ashley schüttelte den Kopf. »Deputy Blake blieb über Nacht bei mir, weil er auf mich aufpassen wollte. Jemand hatte mir nämlich nachgestellt und mich bedroht. Ich bin in mein Schlafzimmer gegangen, und er hat auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen. Am - am nächsten Morgen fand man seine Leiche in der Gasse hinter dem Haus.« Ihr Mund zuckte. »Wieso hätte ich ihn denn umbringen sollen? Er wollte mir doch helfen!« David warf Ashley einen verdutzten Blick zu. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er. Entweder sagt sie die Wahrheit, oder sie ist eine verteufelt gute Schauspielerin. Er stand auf. »Bin gleich wieder da. Ich muß kurz mit dem Sheriff sprechen.« Zwei Minuten später war er im Büro des Sheriffs. »Na, haben Sie mit ihr gesprochen?« fragte Sheriff Dowling. »Ja. Und ich glaube, daß Sie einer fixen Idee aufgesessen sind, Sheriff.« »Was soll das heißen, Herr Rechtsanwalt?« »Daß Sie möglicherweise zu voreilig waren, weil Sie unbedingt jemanden festnehmen wollten. Ashley Patterson hat zwei der Männer, deren Tod Sie ihr zur Last legen, überhaupt nicht gekannt.« Der Sheriff rang sich ein knappes Lächeln ab. »Sie sind also auch auf sie reingefallen, was? Ist uns ganz genauso gegangen.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich zeig’ Ihnen mal was, Mister.« Er schlug einen Aktenordner auf, der auf seinem Schreibtisch lag, und reichte David einen Packen Papiere. »Das sind Kopien vom Autopsiebericht, dem Bericht des FBI über die DNS-Untersuchung und den Fingerabdruckvergleich, dazu ein Bericht von Interpol zur Auswertung der Spuren, die wir ihnen zugesandt haben. All diese Männer hatten kurz vor ihrem Tode Geschlechtsverkehr mit einer Frau. An allen fünf Opfern wurden Spuren von Vaginalsekret gefunden. Anfangs ging man davon aus, daß es sich um drei verschiedene Frauen handelt. Nun ja, und dann hat das FBI alle Spuren verglichen und ausgewertet. Und nun raten Sie mal, was dabei rausgekommen ist? Es handelt sich um ein und dieselbe Person - Ashley Patterson nämlich. Ihre Fingerabdrücke wurden an sämtlichen Tatorten gefunden, desgleichen Spuren von Körpersekreten, die allesamt ihr Erbgut aufweisen.« David starrte ihn ungläubig an. »Sind - sind Sie sich da ganz sicher?« »Ja. Es sei denn, Sie glauben, daß Interpol, das FBI und fünf verschiedene Polizeilabors Ihrer Mandantin etwas anhängen wollen. Es paßt alles, Mister. Einer der Männer, die sie umgebracht hat, war mein Schwager. Ashley Patterson wird wegen vorsätzlichen Mordes vor Gericht gestellt, und sie wird auch verurteilt werden. Sonst noch was?« »Ja.« David atmete tief durch. »Ich möchte Ashley Patterson noch mal sprechen.« Sie wurde wieder in den Besuchsraum gebracht. »Warum haben Sie mich angelogen?« herrschte David sie an, als sie hereinkam. »Was? Ich habe Sie nicht angelogen. Ich bin unschuldig. Ich habe -« »Das Beweismaterial, das gegen Sie vorliegt, ist erdrückend. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich die Wahrheit wissen will.« Ashley schaute ihn eine ganze Weile lang an. »Ich habe Ihnen die Wahrheit erzählt«, sagte sie dann leise. »Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.« Sie ist wirklich davon überzeugt, dachte David, als er nach San Francisco zurückfuhr. Ich habe mit ihr geredet. Wenn sie wirklich meint, daß sie die Wahrheit sagt, ist sie verrückt. Ich überlasse sie Jesse. Der kann dann immer noch Unzurechnungsfähigkeit geltend machen. Und damit ist die Sache erledigt. Er mußte an Steven Patterson denken. Am San Francisco Memorial Hospital sprachen die Kollegen Dr. Steven Patterson ihr Mitgefühl aus. »Eine verdammte Schande ist das, Steven. So was hast du nicht verdient .« »Das muß eine schreckliche Belastung für Sie sein. Wenn ich irgend etwas tun kann .« »Ich weiß nicht, was heutzutage mit den jungen Leuten los ist. Ashley ist mir immer so normal vorgekommen .« Und hinter jedem tröstenden Wort stand der Gedanke: Gott sei Dank, daß es nicht mein Kind ist. Als David in die Kanzlei zurückkehrte, begab er sich unverzüglich zu Joseph Kincaid. Kincaid blickte auf. »Nun, es ist bereits nach sechs, David, aber ich habe auf Sie gewartet. Haben Sie mit Dr. Pattersons Tochter gesprochen?« »Ja, das habe ich.« »Haben Sie schon einen Anwalt gefunden, der sie verteidigt?« David zögerte. »Noch nicht, Joseph. Ich besorge ihr erst einen Psychiater. Morgen früh fahre ich wieder hin und rede noch mal mit ihr.« Joseph Kincaid schaute David verwundert an. »Ach ja? Offen gestanden überrascht es mich, daß Sie sich da so engagieren. Wir dürfen natürlich nicht zulassen, daß diese Kanzlei mit einer derart scheußlichen Sache in Verbindung gebracht wird.« »Ich engagiere mich eigentlich gar nicht, Joseph. Ich habe ihrem Vater nur sehr viel zu verdanken. Ich habe ihm ein Versprechen gegeben.« »Aber doch nichts Schriftliches, oder?« »Nein.« »Dann handelt es sich also nur um eine moralische Verpflichtung?« David musterte ihn einen Moment lang, wollte etwas sagen und hielt dann inne. »Ja. Es handelt sich nur um eine moralische Verpflichtung.« »Nun denn, melden Sie sich wieder bei mir, wenn Sie mit Miss Patterson fertig sind. Dann reden wir miteinander.« Kein Wort über die Ernennung zum Gesellschafter. Als David an diesem Abend nach Hause kam, lag die Wohnung im Dunkeln. »Sandra?« Keine Antwort. David wollte gerade das Flurlicht einschalten, als Sandra plötzlich aus der Küche kam. Sie hatte eine mit brennenden Kerzen geschmückte Torte in der Hand. »Eine Überraschung! Es gibt was zu feiern -« Sie verstummte, als sie seine Miene sah. »Stimmt irgendwas nicht, Liebster? Hat man dich übergangen, David? Hat man jemanden anderen vorgezogen?« »Nein, nein«, beruhigte er sie. »Alles in bester Ordnung.« Sandra stellte die Torte ab und kam zu ihm. »Irgendwas stimmt doch nicht.« »Es gibt nur eine ... kleine Verzögerung.« »War heute nicht die Besprechung mit Joseph Kincaid angesetzt?« »Ja. Setz dich, mein Schatz. Wir müssen miteinander reden.« Sie nahmen auf der Couch Platz. »Etwas Unvorhergesehenes ist dazwischengekommen«, sagte David. »Steven Patterson hat mich heute morgen aufgesucht.« »Aha? Weswegen?« »Er möchte, daß ich seine Tochter verteidige.« Sandra blickte ihn überrascht an. »Aber, David - du bist doch kein -« »Ich weiß. Ich habe versucht, es ihm klarzumachen. Aber ich war Strafrechtler.« »Du bist es aber nicht mehr. Hast du ihm nicht gesagt, daß du Gesellschafter in der Kanzlei werden sollst?« »Nein. Er hat sich nicht davon abbringen lassen, daß ich der einzige wäre, der seine Tochter verteidigen könnte. Das ist natürlich Unsinn. Ich habe versucht, ihn an Jesse Quiller zu verweisen, aber er hat mir nicht mal zugehört.« »Na ja, er muß sich aber jemand anderen suchen.« »Natürlich. Ich habe ihm versprochen, daß ich mit seiner Tochter rede, und das habe ich getan.« Sandra lehnte sich zurück. »Weiß Mr. Kincaid darüber Bescheid?« »Ja. Ich habe es ihm gesagt. Er war nicht gerade begeistert.« Er ahmte Kincaids Tonfall nach. >»Wir dürfen natürlich nicht zulassen, daß diese Kanzlei mit einer derart scheußlichen Sache in Verbindung gebracht wird.<« »Wie ist Dr. Pattersons Tochter?« »Ein hoffnungsloser Fall, um es medizinisch auszudrücken.« »Ich bin keine Medizinerin«, versetzte Sandra. »Was soll das heißen?« »Es heißt, daß sie sich allen Ernstes für unschuldig hält.« »Wäre das nicht möglich?« »Der Sheriff von Cupertino hat mir Einsicht in die Akten gewährt. An sämtlichen Tatorten hat man massenweise Fingerabdrücke und serologische Spuren von ihr gefunden.« »Was hast du jetzt vor?« »Ich habe Royce Salem angerufen. Das ist der Psychiater, der für Jesse Quillers Kanzlei tätig ist. Er soll Ashley untersuchen und ihrem Vater Bericht erstatten. Dr. Patterson kann von mir aus einen weiteren Psychiater hinzuziehen oder den Bericht an den Anwalt weiterleiten, der den Fall übernimmt.« »Aha.« Sandra musterte ihren Mann und sah, wie bedrückt er war. »Hat Mr. Kincaid etwas über die Ernennung zum Gesellschafter gesagt, David?« Er schüttelte den Kopf. »Nein.« »Das kommt schon noch«, versetzte Sandra munter. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Dr. Royce Salem war ein großer, schlanker Mann, der einen Bart wie Sigmund Freud trug. Vielleicht ist es bloß ein Zufall, sagte sich David. Er versucht bestimmt nicht, wie Freud auszusehen. »Jesse spricht oft von Ihnen«, sagte Dr. Salem. »Er mag Sie sehr.« »Ich mag ihn auch, Dr. Salem.« »Dieser Fall Patterson klingt ja interessant. Offensichtlich das Werk einer Psychopathin. Haben Sie vor, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren?« »Eigentlich«, erklärte ihm David, »übernehme ich den Fall gar nicht. Bevor ich ihr einen Anwalt besorge, möchte ich nur feststellen lassen, in was für einer geistigen Verfassung sie sich befindet.« David teilte Dr. Salem die Fakten mit, soweit sie ihm bekannt waren. »Sie behauptet, unschuldig zu sein, aber laut vorliegendem Beweismaterial hat sie die Taten eindeutig begangen.« »Nun, dann wollen wir mal einen Blick auf die Psyche der jungen Dame werfen, nicht?« Die hypnotherapeutische Sitzung fand in einem Vernehmungszimmer des Bezirksgefängnisses von Santa Clara statt. In dem Raum befanden sich ein rechteckiger Holztisch und vier Holzstühle. Ashley, die blaß und verhärmt wirkte, wurde von einer Wärterin hereingeführt. »Ich warte draußen«, sagte die Wärterin und zog sich zurück. »Ashley«, sagte David, »das ist Dr. Salem. Ashley Patterson.« »Hallo, Ashley«, sagte Dr. Salem. Sie stand wortlos da und blickte nervös von einem zum anderen. David hatte das Gefühl, das sie am liebsten davongelaufen wäre. »Mr. Singer sagt, daß Sie mit einer Hypnose einverstanden sind.« Schweigen. Dr. Salem versuchte es erneut. »Würden Sie sich von mir hypnotisieren lassen, Ashley?« Ashley schloß einen Moment lang die Augen und nickte. »Ja.« »Dann sollten wir anfangen.« »Nun, dann lasse ich Sie jetzt allein«, sagte David. »Wenn -« »Einen Moment.« Dr. Salem ging zu David. »Ich möchte, daß Sie dableiben.« David war frustriert. Er bedauerte jetzt, daß er so weit gegangen war. Ich lasse mich nicht noch tiefer hineinziehen, beschloß er. Danach ist endgültig Schluß. »Na schön«, sagte er widerwillig. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen und in die Kanzlei zurückkehren. Die bevorstehende Besprechung mit Kincaid ging ihm nicht aus dem Kopf. »Setzen Sie sich bitte auf diesen Stuhl«, sagte Dr. Salem zu Ashley. Ashley nahm Platz. »Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden, Ashley?« Sie zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein.« »Da ist nichts weiter dabei. Sie müssen sich lediglich entspannen und auf meine Stimme achten. Sie brauchen sich keinerlei Sorgen zu machen. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun. Sie spüren, wie Ihre Muskeln sich lösen. Gut so. Seien Sie ganz entspannt und spüren Sie, wie Ihre Lider schwer werden. Sie haben allerhand durchgemacht. Sie sind müde, sehr müde. Sie möchten nur noch schlafen. Schließen Sie einfach die Augen und entspannen Sie sich. Sie werden müde ... sehr müde ...« Fünf Minuten später war sie unter Hypnose. Dr. Salem trat neben Ashley. »Ashley, wissen Sie, wo Sie sich befinden?« »Ja. Ich bin im Gefängnis.« Ihre Stimme klang dumpf, als käme sie aus weiter Ferne. »Wissen Sie, weshalb Sie im Gefängnis sind?« »Weil man meint, daß ich etwas Schlimmes getan habe.« »Und trifft das zu? Haben Sie etwas Schlimmes getan?« »Nein.« »Ashley, haben Sie je einen Menschen getötet?« »Nein.« David schaute Dr. Salem verwundert an. Unter Hypnose sollte man doch angeblich die Wahrheit sagen. »Haben Sie eine Ahnung, wer diese Morde begangen haben könnte?« Plötzlich verzerrte sich Ashleys Gesicht, und ihr Atem ging schneller, kurz und gepreßt. Staunend verfolgten die beiden Männer die Verwandlung. Die Lippen strafften sich, und ihre Mimik schien sich zu verändern. Sie setzte sich kerzengerade auf und wirkte mit einemmal viel lebhafter als zuvor. Sie schlug die Augen auf und sah sich mit funkelndem Blick um. Die Veränderung war unglaublich. Dann begann sie mit kehliger Stimme und unverkennbar britischem Akzent zu singen. »Will ich auf mein Boden gehen, will mein Hölzlein holen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mir’s halb gestohlen.« David hörte verdutzt zu. Wen will sie denn damit täuschen? Sie gibt vor, jemand anders zu sein. »Ich möchte Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Ashley.« Sie warf den Kopf zurück. »Ich bin nicht Ashley«, erwiderte sie mit britischem Akzent. Dr. Salem warf David einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Ashley. »Und wer sind Sie, wenn Sie nicht Ashley sind?« »Ich bin Toni. Toni Prescott.« Und Ashley zieht das völlig ungerührt durch, dachte David. Wie lange will sie denn diese dämliche Posse noch spielen? Das ist doch reine Zeitverschwendung. »Ashley«, sagte Dr. Salem. »Toni.« Sie läßt sich nicht davon abbringen, dachte David. »Na schön, Toni. Ich möchte, daß -« »Ich will dir mal sagen, was ich möchte. Ich möchte aus diesem verdammten Loch raus. Könnt ihr uns da rausholen?« »Kommt ganz darauf an«, erwiderte Dr. Salem. »Was wissen Sie über -?« »Die Morde, wegen denen die kleine Zimtzicke hier einsitzt? Ich kann Ihnen Sachen erzählen, die -« Plötzlich veränderte sich Ashleys Miene erneut. Sie schien in sich zusammenzusinken, und ihr Gesicht wurde weicher und machte erneut eine geradezu unglaubliche Wandlung durch, so als ob eine völlig andere Person vor ihnen säße. »Toni, sag nichts mehr, per piacere«, sagte sie mit sanfter Stimme und leichtem italienischem Akzent. David betrachtete sie verdutzt. »Toni?« Dr. Salem trat ein Stück näher. Wieder ertönte die sanfte Stimme. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Dr. Salem.« »Wer sind Sie?« fragte Dr. Salem. »Ich bin Alette. Alette Peters.« Mein Gott, das ist nicht gespielt, dachte David. Es ist echt. Er wandte sich an Dr. Salem. Der sagte leise: »Das sind Alter egos.« David starrte ihn verständnislos an. »Was sind das?« »Ich erkläre es Ihnen später.« Dr. Salem wandte sich wieder an Ashley. »Ashley - ich meine, Alette ... Wie - zu wievielt seid ihr?« »Außer Ashley gibt es nur Toni und mich«, antwortete Alette. »Sie sprechen mit italienischem Akzent.« »Ja. Ich bin in Rom geboren. Waren Sie schon mal in Rom?« »Nein, ich war noch nie in Rom.« Ich glaube, ich höre nicht recht, dachte David. »E molto bello.« »Bestimmt. Kennen Sie Toni?« »Si, naturalmente.« »Sie spricht mit britischem Akzent.« »Toni ist in London geboren.« »Richtig. Alette, ich möchte Sie zu diesen Morden befragen. Haben Sie eine Ahnung, wer -?« Und wieder erlebten David und Dr. Salem, wie sich Ashley vor ihren Augen veränderte. Ohne daß sie ein Wort sagte, wußten sie, daß sie es mit Toni zu tun hatten. »Mit der verplemperst du bloß deine Zeit, mein Lieber.« Wieder der britische Akzent. »Alette weiß gar nichts. Mit mir mußt du reden.« »Na schön, Toni. Ich rede mit Ihnen. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Das kann ich mir denken, aber ich bin jetzt müde.« Sie gähnte. »Diese verklemmte Zicke hat uns die ganze Nacht über wach gehalten. Ich brauche dringend Schlaf.« »Jetzt nicht, Toni, hören Sie mir zu. Sie müssen uns dabei helfen -« Ihr Gesicht wurde mit einemmal hart. »Wieso sollte ich euch helfen? Was hat denn die Zimtzicke für Alette oder mich getan? Gar nichts. Sie hindert uns nur daran, daß wir unseren Spaß haben. Tja, ich hab’s jedenfalls satt, und Sie habe ich auch satt. Habt ihr gehört?« Sie schrie jetzt aus vollem Halse, mit verzerrtem Gesicht. »Ich werde sie wieder zurückholen«, sagte Dr. Salem. David schwitzte. »Ja.« Dr. Salem beugte sich zu Ashley. »Ashley ... Ashley ... Alles ist in bester Ordnung. Schließen Sie jetzt die Augen. Ihre Lider sind schwer, sehr schwer. Sie sind völlig entspannt. Ashley, Sie sind ausgeglichen und entspannt. Wenn ich bis fünf zähle, werden Sie aufwachen und sich völlig entspannt vorkommen. Eins .« Er warf David einen Bick zu und wandte sich dann wieder an Ashley. »Zwei ...« Ashley regte sich. Sie sahen, wie sich ihre Miene erneut veränderte. »Drei .« Ihr Gesicht wurde weicher. »Vier .« Sie spürten, daß sie allmählich wieder zu sich kam, und ihnen war etwas unheimlich zumute. »Fünf.« Ashley schlug die Augen auf. Sie blickte sich um. »Ich komme mir vor als - habe ich geschlafen?« David stand da und starrte sie fassungslos an. »Ja«, sagte Dr. Salem. Ashley wandte sich an David. »Habe ich irgend etwas gesagt? Ich meine - konnte ich Ihnen weiterhelfen?« Mein Gott, dachte David. Sie weiß es nicht! Sie weiß es wirklich nicht! »Sie waren ganz hervorragend, Ashley. Jetzt möchte ich Dr. Salem unter vier Augen sprechen.« »Von mir aus.« »Wir sprechen uns später.« Die Männer standen da und blickten Ashley nach, als sie von der Aufseherin weggeführt wurde. David ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Was - was zum Teufel war da los?« Dr. Salem holte tief Luft. »In all den Jahren, die ich nun schon praktiziere, habe ich noch nie einen Fall erlebt, der eindeutiger war.« »Was für einen Fall? Worum geht es?« »Haben Sie schon mal etwas von multipler Persönlichkeitsstörung gehört?« »Was ist das?« »Ein Krankheitsbild, bei dem sich die Psyche eines Menschen in mehrere völlig unterschiedliche Persönlichkeiten aufspaltet. Man bezeichnet es auch als dissoziative Identitätsstörung. In der psychiatrischen Literatur wird bereits seit über zweihundert Jahren darauf verwiesen. Es beginnt für gewöhnlich mit einen Kindheitstrauma. Der oder die Betroffene verdrängt dieses Trauma, indem er sich eine andere Identität zulegt. Mitunter kann es vorkommen, daß jemand ein Dutzend verschiedene Persönlichkeiten besitzt.« »Und die wissen voneinander?« »Manchmal ja. Manchmal auch nicht. Toni und Alette kennen einander. Ashley hingegen ist sich offensichtlich nicht bewußt, daß sie da sind. Die betroffene Person kreiert diese anderen Persönlichkeiten, weil sie den Schmerz, der mit dem Trauma verbunden ist, nicht aushalten kann. Es ist eine Art Flucht. Und bei jedem weiteren Schock kann eine neue Persönlichkeit entstehen. Laut der psychiatrischen Literatur, die über dieses Thema vorliegt, können diese Persönlichkeiten völlig verschieden voneinander sein. Manche sind dumm, andere überaus intelligent. Sie können verschiedene Sprachen sprechen. Sie haben unterschiedliche Geschmäcker und Eigenarten.« »Wie - wie häufig kommt so was vor?« »In manchen Untersuchungen wird angedeutet, daß etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung an multipler Persönlichkeitsstörung leidet und daß bis zu zwanzig Prozent der Patienten, die in psychiatrischen Kliniken betreut werden, davon betroffen sind.« »Aber Ashley wirkt so normal und -« sagte David. »Menschen, die an MPS leiden, sind normal ... bis eine andere Persönlichkeit durchbricht. Der oder die Betroffene kann einen Beruf ausüben, eine Familie haben und ein ganz normales Leben führen, aber jederzeit kann sich eine andere Persönlichkeit durchsetzen. Die kann dann eine Stunde, aber auch tage- und wochenlang vorbestimmend sein, ohne daß sich der oder die Betroffene hinterher daran erinnern kann, was in diesem Zeitraum vorgefallen ist.« »Demnach hätte Ashley also keine Ahnung, was die andere Persönlichkeit macht?« »Nicht die geringste.« David hörte wie gebannt zu, als der Psychiater fortfuhr. »Bekannt wurde die multiple Persönlichkeitsstörung vor allem durch den Fall Bridey Murphy. Damals wurde zum erstenmal eine breite Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam. Seither gab es zahllose weitere Fälle, aber keiner war so aufsehenerregend oder wurde so gut beschrieben.« »Das - das ist kaum zu glauben.« »Ich habe mich eine ganze Weile mit diesem Thema beschäftigt. Es gibt gewisse Grundmuster, die sich so gut wie nie ändern. Zum Beispiel, daß die anderen Persönlichkeiten häufig Namen verwenden, die mit den gleichen Initialen beginnen wie der Name des oder der Betroffenen - Ashley Patterson . Alette Peters ... Toni Prescott ...« »Toni -?« wollte David fragen. Dann wurde es ihm klar. »Antoinette?« »Richtig. Sie kennen den Begriff >Alter egoBlutjungfer<. Sämtliche Fernsehsender berichten über den Fall.« »Wir haben doch gewußt, daß es hart hergehen würde«, sagte David. »Und das ist erst der Anfang. Machen wir uns an die Arbeit.« In acht Wochen sollte der Prozeß beginnen. David und Sandra stürzten sich mit Feuereifer auf ihre Aufgabe. Sie arbeiteten den ganzen Tag und manchmal bis tief in die Nacht, besorgten sich Protokolle von Prozessen, in denen ebenfalls gegen Angeklagte mit multipler Persönlichkeitsstörung verhandelt worden war. Es gab zig Fälle dieser Art. Die Beschuldigten hatten sich wegen Mordes, Vergewaltigung, wegen Raubes, Drogenhandels und Brandstiftung verantworten müssen. Einige waren verurteilt worden, andere hatte man freigesprochen. »Wir werden für Ashley einen Freispruch erwirken«, versicherte David Sandra. Sandra listete die in Frage kommenden Zeugen auf und rief sie an. »Dr. Nakamoto, ich bin für David Singer tätig. Soweit ich weiß, haben Sie als sachverständiger Zeuge im Verfahren gegen Bohannan in Oregon ausgesagt. Mr. Singer vertritt Ashley Patterson ... Oh, haben Sie? Ja. Nun, wir möchten, daß Sie nach San Jose kommen und zu ihren Gunsten aussagen ...« »Dr. Booth, ich rufe im Auftrag von David Singer an. Er verteidigt Ashley Patterson. Sie haben doch im Fall Dickerson ausgesagt. Wir hätten Sie gern als sachverständigen Zeugen ... Wir möchten, daß Sie nach San Jose kommen und für Miss Patterson aussagen. Wir benötigen Ihre Sachkenntnis ...« »Dr. Jameson, Sandra Singer am Apparat. Wir brauchten Sie hier in .« Und so ging es immerfort, von morgens bis Mitternacht. Schließlich hatte sie ein Dutzend Sachverständige aufgelistet. David warf einen Blick darauf. »Ziemlich eindrucksvoll. Mediziner, Psychiater, ein Dekan . die Leiter juristischer Fakultäten.« Er blickte zu Sandra auf und lächelte. »Ich glaube, wir stehen nicht schlecht da.« Von Zeit zu Zeit kam Jesse Quiller in das Büro, in dem David arbeitete. »Wie kommst du voran?« fragte er. »Kann ich dir bei irgendwas helfen?« »Alles bestens.« Quiller blickte sich um. »Hast du alles, was du brauchst?« David lächelte. »Alles da, einschließlich meines besten Freundes.« An einem Montag morgen erhielt David ein Paket von der Anklagevertretung, in dem diese ihre Aussagen und Argumente offenlegte. Als David die Unterlagen las, verließ ihn der Mut. Sandra betrachtete ihn besorgt. »Was ist los?« »Schau dir das an. Die führen allerhand gewichtige medizinische Sachverständige ins Feld, die der Meinung sind, daß keine MPS vorliegt.« »Und wie willst du die Sache angehen?« fragte Sandra. »Wir werden zugeben, daß Ashley am Tatort war, als sich die Morde ereigneten, aber darauf verweisen, daß sie von einem Alter ego begangen wurden.« Kann ich die Geschworenen Fünf Tage vor Prozeßbeginn wurde David telefonisch davon benachrichtigt, daß Richterin Williams mit ihm sprechen wollte. David ging in Jesse Quillers Büro. »Jesse, was kannst du mir über Richterin Williams sagen?« Jesse Quiller lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Tessa Williams ... Warst du bei den Pfadfindern, David?« »Ja .« »Kannst du dich noch an das alte Pfadfindermotto erinnern -allzeit bereit?« »Klar.« »Wenn du vor Gericht mit Tessa Williams zu tun hast, mußt du allzeit bereit sein. Sie ist brillant. Mußte sich alles selbst erkämpfen. Ihre Angehörigen waren arme Pachtbauern drunten in Mississippi. Sie konnte durch ein Begabtenstipendium das College besuchen, und die Leute in ihrer Heimatstadt waren so stolz auf sie, daß sie Geld gesammelt haben, damit sie anschließend Jura studieren konnte. Es geht das Gerücht, daß sie einen hohen Posten in Washington abgelehnt hat, weil sie lieber bleiben wollte, wo sie ist. Sie hat einen sagenhaften Ruf.« »Interessant«, sagte David. »Der Prozeß findet doch im Bezirk Santa Clara statt?« »Ja.« »Dann wird wohl mein alter Freund Mickey Brennan die Anklage vertreten.« »Erzähl mir etwas über ihn.« »Der typische Ire, lebhaft, rauhe Schale, harter Kern. Bren-nan stammt aus einer Familie von Erfolgsmenschen: Sein Vater leitet ein großes Verlagshaus, die Mutter ist Ärztin, seine Schwester College-Professorin. Brennan war auf dem College Footballstar, und er hat das Jurastudium als Bester seines Semesters abgeschlossen.« Er beugte sich vor. »Er ist tüchtig, David. Sei vorsichtig. Er lullt die Zeugen gern ein und packt sie dann von einer Seite, von der sie es nicht erwarten. Weshalb möchte Richterin Williams dich sprechen?« »Keine Ahnung. Es hieß nur, daß sie den Fall Patterson mit mir bereden möchte.« Jesse Quiller runzelte die Stirn. »Das ist ungewöhnlich. Wann triffst du dich mit ihr?« »Mittwoch vormittag.« »Paß bloß auf.« »Danke, Jesse. Mach’ ich.« Das Gericht des Bezirks Santa Clara ist in einem dreistöckigen weißen Gebäude an der North First Street untergebracht. Im Eingangsbereich befinden sich der Empfangsschalter, an dem ein Wachmann in Uniform sitzt, ein Metalldetektor, gesäumt von einem Absperrgitter, und der Fahrstuhl. Das Gebäude verfügt über insgesamt sieben Gerichtssäle, für die jeweils ein Richter samt Personal zuständig ist. Mittwoch vormittag um zehn wurde David Singer in das Amtszimmer von Richterin Tessa Williams geleitet. Mickey Brennan war bereits anwesend. Der oberste Ankläger der Bezirksstaatsanwaltschaft war Mitte Fünfzig, stämmig und gedrungen und sprach mit einem leichten irischen Zungenschlag. Tessa Williams war Ende Vierzig, eine schlanke, attraktive Afroamerikanerin, die ebenso energisch wie selbstbewußt wirkte. »Guten Morgen, Mr. Singer. Ich bin Richterin Williams. Das ist Mr. Brennan.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. »Nehmen Sie Platz, Mr. Singer. Ich möchte mit Ihnen über den Fall Patterson sprechen. Laut meinen Unterlagen haben Sie auf unschuldig aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Taten plädiert.« »Ja, Euer Ehren.« »Ich habe Sie beide hergebeten«, sagte Richterin Williams, »weil ich glaube, daß wir uns dadurch viel Zeit und dem Staat erhebliche Steuergelder sparen können. Für gewöhnlich bin ich gegen vorherige Absprachen bezüglich Schuldbekenntnis und Strafmilderung, aber in diesem Fall halte ich das für gerechtfertigt.« David hörte verdutzt zu. Die Richterin wandte sich an Brennan. »Ich habe das Protokoll des Prüfungsverfahrens gelesen, und meiner Ansicht nach besteht in diesem Fall kein Anlaß zu einer Hauptverhandlung. Mir wäre es lieber, wenn die Staatsanwaltschaft nicht mit der Todesstrafe droht, sondern sich mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe ohne eine Chance auf vorzeitige Freilassung zufriedengibt, falls sich die Angeklagte schuldig bekennt.« »Moment mal«, versetzte David. »Das kommt nicht in Frage.« Beide schauten ihn an. »Mr. Singer -« »Meine Mandantin ist nicht schuldig. Ashley Patterson hat sich einem Lügendetektortest unterzogen, bei dem eindeutig bewiesen -« »Das will gar nichts heißen. Außerdem ist das vor Gericht nicht als Beweismittel zugelassen, wie Sie sehr wohl wissen. Der Fall hat so viel Aufsehen erregt, daß es garantiert ein langer, schmutziger Prozeß werden wird.« »Ich bin davon überzeugt, daß -« »Ich bin schon eine ganze Weile Richterin, Mr. Singer, und ich habe mir schon alle möglichen Einlassungen anhören müssen. Manche schützen Notwehr vor - das ist akzeptabel. Manche vorübergehende geistige Umnachtung - das ist nachvollziehbar. Andere verminderte Schuldfähigkeit ... Aber ich will Ihnen mal sagen, wovon ich gar nichts halte, Herr Rechtsanwalt. >Nicht schuldig, weil nicht ich, sondern mein Alter ego die Tat begangen hat.< Um es mit einem Begriff auszudrücken, der in keinem Rechtskommentar vorkommt - so was ist Bockmist. Ihre Mandantin hat die Straftaten entweder begangen oder nicht. Wenn sie sich zu einem Schuldeingeständnis bereit erklärt, können wir eine Menge Zeit und -« »Nein, Euer Ehren. Nicht mit mir.« Richterin Williams musterte David einen Moment lang. »Sie sind ziemlich stur. Manche Menschen mögen das bewundernswert finden.« Sie beugte sich nach vorn. »Ich nicht.« »Euer Ehren -« »Sie zwingen uns, in ein Verfahren einzutreten, das mindestens drei Monate in Anspruch nehmen wird - wenn nicht mehr.« Brennan nickte. »Ganz meine Meinung.« »Tut mir leid, wenn Sie den Eindruck haben -« »Mr. Singer, ich bin nur Ihnen zuliebe hier. Wenn wir Ihrer Mandantin den Prozeß machen, wird sie sterben.« »Moment! Sie urteilen hier im voraus, ohne daß der Fall überhaupt -« »Ich urteile im voraus? Haben Sie das Beweismaterial gesehen?« »Ja, ich -« »Himmel noch mal! An sämtlichen Tatorten wurden Ashley Pattersons Fingerabdrücke und Spuren mit ihrer DNS sichergestellt. Mir ist bislang noch kein Fall untergekommen, der eindeutiger gewesen wäre. Wenn Sie an Ihrer Vorgehensweise festhalten wollen, könnte die Sache leicht zu einem Affentheater werden. Nun, das werde ich nicht zulassen. Ich dulde kein Affentheater in meinem Gerichtssaal. Erledigen wir die Sache hier und jetzt. Ich frage Sie noch einmal - werden Sie auf schuldig plädieren, wenn Ihre Mandantin dafür mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne vorzeitige Entlassung davonkommt?« »Nein«, erwiderte David halsstarrig. Sie funkelte ihn an. »Na schön. Wir sehen uns nächste Woche.« Er hatte sie sich zur Feindin gemacht. 15 In San Jose ging es zu wie auf dem Jahrmarkt. Pressevertreter aus aller Welt fielen in der Stadt ein. Binnen kürzester Zeit waren sämtliche Hotels ausgebucht, und etliche Journalisten waren gezwungen, sich in den umliegenden Städten Santa Clara, Sunnyvale und Palo Alto einzumieten. David wurde auf Schritt und Tritt von Reportern belagert. »Mr. Singer, berichten Sie uns etwas über den Fall. Haben Sie vor, Ihre Mandantin für nicht schuldig zu erklären ...?« »Werden Sie Ashley Patterson in den Zeugenstand rufen ...?« »Stimmt es, daß die Staatsanwaltschaft für den Fall eines Schuldeingeständnisses zu einem Entgegenkommen beim Strafantrag bereit war?« »Wird Dr. Patterson zugunsten seiner Tochter aussagen ...?« »Meine Illustrierte bietet fünfzigtausend Dollar für ein Interview mit Ihrer Mandantin .« Mickey Brennan wurde ebenfalls von Journalisten verfolgt. »Mr. Brennan, würden Sie uns ein paar Worte zu dem bevorstehenden Prozeß sagen?« Brennan drehte sich um und lächelte in die Fernsehkameras. »Ja. Ich kann das Ganze in drei Worten zusammenfassen. >Wir werden gewinnend Kein weiterer Kommentar.« »Moment! Glauben Sie, daß sie geisteskrank ist ...?« »Hat die Staatsanwaltschaft vor, die Todesstrafe zu beantragen ...?« »Haben Sie tatsächlich von einem glasklaren Fall gesprochen ...?« David mietete sich in unmittelbarer Nähe des Gerichtsgebäudes von San Jose ein Büro, in dem er mit seinen Zeugen sprechen und sie auf die Verhandlung vorbereiten konnte. Er hatte beschlossen, daß Sandra bis zum Prozeßbeginn weiterhin in Quillers Kanzlei in San Francisco arbeiten sollte. Unterdessen war Dr. Salem in San Jose eingetroffen. »Ich möchte, daß Sie Ashley noch einmal in Hypnose versetzen«, sagte David. »Wir sollten zusehen, daß wir von ihr und den anderen Persönlichkeiten soviel wie möglich erfahren, bevor der Prozeß beginnt.« Sie trafen sich mit Ashley in einer Arrestzelle der Bezirksstrafanstalt. Sie war sichtlich darum bemüht, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Dennoch kam sie David vor wie ein Reh, daß unverhofft vom Scheinwerferlicht eines Lastwagens erfaßt wird. »Guten Morgen, Ashley. Sie kennen doch Dr. Salem?« Ashley nickte. »Er wird Sie noch einmal hypnotisieren. Ist Ihnen das recht?« »Will er wieder mit den . den anderen sprechen?« fragte Ashley. »Ja. Haben Sie etwas dagegen?« »Nein. Aber ich - ich möchte nicht mit ihnen reden.« »Ist schon gut. Das müssen Sie auch nicht.« »Ich hasse das!« stieß Ashley ungehalten aus. »Ich weiß«, sagte David besänftigend. »Keine Sorge. Es wird nicht lange dauern.« Er nickte Dr. Salem zu. »Machen Sie es sich bequem, Ashley. Denken Sie dran, wie leicht es beim letztenmal ging. Versuchen Sie an nichts zu denken. Entspannen Sie sich. Hören Sie auf meine Stimme. Lösen Sie sich von allem. Sie werden müde. Ihre Augen werden schwer. Sie möchten nur noch schlafen ... Schlafen Sie ein .« Nach zehn Minuten war sie soweit. Dr. Salem gab David ein Zeichen, worauf er sich neben Ashley stellte. »Ich möchte mit Alette sprechen. Sind Sie da, Alette?« Und wieder sahen sie, wie sich Ashleys Züge veränderten, weicher wurden, wie sie es schon einmal erlebt hatten. Dann ertönte wieder die zarte Stimme mit dem melodiösen italienischen Singsang. »Buon giorno.« »Guten Morgen, Alette. Wie geht es Ihnen?« »Male. Es sind schwere Zeiten.« »Leicht fällt uns das allen nicht«, versicherte ihr David, »aber alles wird wieder gut.« »Hoffentlich.« »Alette, ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Si...« »Haben Sie Jim Cleary gekannt?« »Nein.« »Haben Sie Richard Melton gekannt?« »Ja.« Ihre Stimme war voll Trauer. »Was ihm - was ihm da zugestoßen ist -, das war einfach schrecklich.« David warf Dr. Salem einen kurzen Blick zu. »Ja, es war schrecklich. Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?« »Ich habe ihn in San Francisco besucht. Wir sind ins Museum gegangen und haben hinterher gemeinsam zu Abend gegessen. Als ich aufbrechen wollte, hat er mich zu sich nach Hause eingeladen.« »Sind Sie mitgegangen?« »Nein. Ich wünschte, ich hätte es getan«, erwiderte Alette reumütig. »Vielleicht hätte ich ihm das Leben retten können.« Sie schwieg einen Moment. »Wir haben uns voneinander verabschiedet, dann bin ich nach Cupertino zurückgefahren.« »Und das war das letztemal, daß Sie ihn gesehen haben?« »Ja.« »Vielen Dank, Alette.« David beugte sich zu Ashley hinab. »Toni?« sagte er. »Sind Sie da, Toni? Ich möchte mit Ihnen reden.« Und wieder veränderte sich Ashleys Gesicht. Einmal mehr verwandelte sie sich vor ihren Augen in eine andere Person. Sie wirkte mit einemmal selbstsicher, körperbewußt, aufreizend. Mit ihrer kehligen, aber durchaus tonsicheren Stimme begann sie zu singen. »Will ich in mein Keller gehn, will mein Weinlein zapfen, steht ein bucklicht Männlein da, tut mir ‘n Krug wegschnappen.« Sie blickte David an. »Weißt du, warum ich so auf das Lied stehe, mein Guter?« »Nein.« »Weil meine Mutter es nicht ausstehen konnte. Mich konnte sie auch nicht ausstehen.« »Warum konnte sie Sie nicht ausstehen?« »Tja, jetzt können wir sie nicht mehr danach fragen, was?« Toni lachte. »Jetzt isse weg. Ich konnte ihr halt nichts recht machen. Wie war denn deine Mutter, David?« »Meine Mutter war ein wunderbarer Mensch.« »Dann hast du aber Glück gehabt, was? Das ist doch die reinste Lotterie. Der liebe Gott läßt einfach die Lostrommel laufen, nicht wahr?« »Glauben Sie an Gott? Sind Sie religiös, Toni?« »Weiß ich nicht. Vielleicht gibt’s ja ‘nen Gott. Wenn ja, hat er jedenfalls einen seltsamen Sinn für Humor, stimmt’s? Alette ist ziemlich gläubig. Die geht regelmäßig zur Kirche.« »Und Sie?« Toni lachte kurz auf. »Tja, wenn sie geht, bin ich auch dabei.« »Toni, glauben Sie, daß es richtig ist, einen anderen Menschen zu töten?« »Nein, selbstverständlich nicht.« »Dann -« »Es sei denn, man ist dazu gezwungen.« David und Dr. Salem warfen sich einen kurzen Blick zu. »Wie meinen Sie das?« Sie schlug einen anderen Tonfall an, klang mit einemmal abweisend. »Tja, weißt du, manchmal muß man sich zur Wehr setzen. Wenn einem jemand weh tun will.« Sie wurde zusehends aufgeregter. »Wenn einem irgendein Idiot mit dreckigen Sachen kommen will.« Sie geriet außer sich. »Toni -« Sie fing an zu weinen. »Wieso können die mich nicht in Ruhe lassen? Wieso mußten sie -?« Sie schrie jetzt. »Toni -« Schweigen. »Toni .« Keine Reaktion. »Sie ist weg«, sagte Dr. Salem. »Ich wecke Ashley jetzt lieber auf.« David seufzte. »Von mir aus.« Ein paar Minuten später schlug Ashley die Augen auf. »Wie ist Ihnen zumute?« fragte David. »Ich bin müde. Habe ich - hat es geklappt?« »Ja. Wir haben mit Alette und Toni gesprochen. Sie -« »Ich will es nicht wissen.« »Na schön. Sie sollten sich jetzt lieber ausruhen, Ashley. Ich komme Sie heute nachmittag noch mal besuchen.« Sie blickten ihr hinterher, als sie von einer Gefängniswärterin weggeführt wurde. »Sie müssen sie in den Zeugenstand rufen, David«, sagte Dr. Salem. »Das wird sämtliche Geschworenen davon überzeugen, daß -« »Ich habe es mir hin und her überlegt«, erwiderte David. »Ich glaube, ich bringe das nicht fertig.« Dr. Salem schaute ihn einen Moment lang an. »Warum nicht?« »Weil Brennan, der Staatsanwalt, keine Gnade kennt. Der nimmt sie auseinander. Das Risiko kann ich nicht eingehen.« Zwei Tage vor Beginn des Verfahrens aßen Sandra und David mit den Quillers zu Abend. »Wir sind im Wyndham Hotel abgestiegen«, sagte David. »Der Geschäftsführer hat mir einen Riesengefallen getan. Sandra kommt ebenfalls dort unter. Die Stadt ist völlig überlaufen.« »Wenn es jetzt schon so zugeht«, sagte Emily, »dann stell dir mal vor, was los sein wird, wenn der Prozeß beginnt.« Quiller warf David einen kurzen Blick zu. »Kann ich dir irgendwie behilflich sein?« David schüttelte den Kopf. »Ich muß nur eine Entscheidung treffen. Soll ich Ashley in den Zeugenstand rufen oder nicht?« »Schwer zu sagen«, erwiderte Jesse Quiller. »Kommt ganz darauf an, aber dumm stehst du in jedem Fall da. Brennan wird Ashley Patterson vermutlich als kaltschnäuzige, blutrünstige Bestie hinstellen. Und mit diesem Eindruck werden sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen, wenn du sie nicht aufrufst und ihnen das Gegenteil beweist. Andererseits besteht, wie ich deinen Worten entnehme, die Gefahr, daß Brennan sie im Zeugenstand fertigmacht.« »Brennan bietet sämtliche medizinischen Sachverständigen auf, die wie er der Meinung sind, daß es keine multiple Persönlichkeitsstörung gibt.« »Dann mußt du die Geschworenen eben vom Gegenteil überzeugen.« »Genau das habe ich auch vor«, sagte David. »Weißt du, was mir zu schaffen macht, Jesse? Die Witze, die neuerdings kursieren. Neulich hat sich wer darüber ausgelassen, daß es mir lieber wäre, wenn die Verhandlung woanders stattfinden würde, was aber nicht möglich sei, weil sie praktisch überall jemanden umgebracht habe. Kannst du dich noch an Johnny Carson erinnern? Der konnte sich über etwas lustig machen und dabei den Anstand wahren. Heutzutage zielen die Talkmaster nur noch unter die Gürtellinie. Wie die sich auf Kosten anderer lustig machen, das ist einfach hundsgemein.« »David?« »Ja?« »Es wird noch schlimmer werden«, sagte Jesse Quiller leise. David Singer fand in der Nacht vor dem ersten Gerichtstermin keinen Schlaf. Tausend düstere Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Als er schließlich doch einschlief, vernahm er eine Stimme. Du hast deine letzte Mandantin sterben lassen. Was ist, wenn diese ebenfalls stirbt? Schweißgebadet setzte sich David auf. Sandra öffnete die Augen. »Ist alles in Ordnung?« »Ja. Nein. Was, zum Teufel, mache ich hier eigentlich? Ich hätte doch nur nein zu Dr. Patterson sagen müssen.« Sandra drückte seinen Arm und sagte leise: »Und wieso hast du es nicht getan?« »Du hast recht«, brummte er. »Ich konnte es nicht.« »Na also. Und jetzt sieh zu, daß du ein bißchen schläfst, damit du morgen früh frisch und munter bist.« »Großartige Idee.« Er lag die ganze Nacht wach. Richterin Williams hatte recht gehabt, was das Aufsehen anging. Die Reporter waren unerbittlich. Journalisten aus aller Welt fielen in San Jose ein, begierig, von dem Prozeß gegen die schöne Frau zu berichten, die mehrere Morde begangen und ihre Opfer verstümmelt hatte. Mickey Brennan war zunächst verbittert gewesen, weil er in dem bevorstehenden Verfahren die Morde an Jim Cleary und Jean Claude Parent nicht zur Sprache bringen durfte, doch die Medien hatten ihm die Sache abgenommen. Ob in FernsehTalk-Shows, in Illustrierten oder Tageszeitungen, überall wurden die fünf Morde in allen grausigen Einzelheiten geschildert, einschließlich der Tatsache, daß sämtliche Opfer entmannt worden waren. Mickey Brennan war zufrieden. Die Presse war bereits in voller Stärke angerückt, als David im Gerichtssaal eintraf. Sofort war er von Reportern umlagert. »Mr. Singer, sind Sie noch bei Kincaid, Turner, Rose & Ripley beschäftigt ...?« »Schauen Sie mal hierher, Mr. Singer ...« »Stimmt es, daß man Sie wegen dieses Falls entlassen hat?« »Können Sie uns etwas über Helen Woodman sagen? Sie haben sie doch bei dem Mordprozeß seinerzeit vertreten?« »Hat Ashley Patterson gesagt, warum sie es getan hat ...?« »Haben Sie vor, Ihre Mandantin in den Zeugenstand zu rufen ...?« »Kein Kommentar«, versetzte David kurz und knapp. Auch Mickey Brennan wurde sofort von Pressevertretern umringt, als er vor dem Gerichtsgebäude vorfuhr. »Mr. Brennan, wie wird der Prozeß Ihrer Meinung nach ausgehen ...?« »Haben Sie schon einmal ein Verfahren erlebt, in dem die Verteidigung behauptet, nicht die Angeklagte, sondern deren Alter ego sei verantwortlich ...?« Brennan lächelte leutselig. »Nein. Aber ich kann es kaum erwarten, mir sämtliche Angeklagten vorzunehmen.« Er erntete allgemeines Gelächter, genau wie er gehofft hatte. »Vielleicht sind ja so viele da, daß es für eine Baseballmannschaft reicht.« Wieder Gelächter. »Ich muß jetzt reingehen. Ich möchte keine der Angeklagten warten lassen.« Die Auswahl der Geschworenen begann damit, daß Richterin Williams den Kandidaten allgemeine Fragen stellte. Anschließend war die Verteidigung an der Reihe und danach die Staatsanwaltschaft. Für den Laien mag sich die Auswahl der Geschworenen leicht darstellen: Man nehme den Geschworenen, der einem wohlgesonnen scheint, und lehne die anderen ab. Tatsächlich aber handelt es sich bei der Auswahl um ein sorgfältig vorbereitetes Ritual. Geschickte Anwälte stellen keine direkten Fragen, die sich mit einem simplen »Ja« oder »Nein« beantworten lassen. Sie erkundigen sich nach diesem und jenem, ermunterten die Kandidaten dazu, zu plaudern und etwas über sich und ihre wahre Einstellung preiszugeben. Mickey Brennan und David Singer verfolgten unterschiedliche Ziele. Brennan ging es in diesem Fall darum, daß die männlichen Geschworenen in der Überzahl waren, denn Männer würde die Vorstellung, daß eine Frau ihre Opfer erstochen und entmannt hatte, erschrecken und anwidern. Mit seinen Fragen wollte er feststellen, welche Kandidaten eine eher konservative Haltung vertraten und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht an Geister und Unholde glaubten, sich also nicht von einer Frau hinters Licht führen ließen, die behauptete, von anderen Persönlichkeiten besessen zu sein. David bezweckte das genaue Gegenteil. »Mr. Harris, nicht wahr? Ich bin David Singer. Ich vertrete die Angeklagte. Haben Sie schon einmal als Geschworener gedient, Mr. Harris?« »Nein.« »Zunächst herzlichen Dank, daß Sie bereit sind, den Aufwand und die Mühe auf sich zu nehmen.« »So ein großer Mordprozeß könnte doch ganz interessant werden.« »Ja. Ich glaube, das wird er auch.« »Genaugenommen habe ich mich darauf gefreut.« »Tatsächlich?« »Ja.« »Wo arbeiten Sie, Mr. Harris?« »Bei der United Steel.« »Ich kann mir vorstellen, daß Sie und Ihre Kollegen sich über den Fall Patterson unterhalten haben.« »Ja. Ganz recht, das haben wir.« »Durchaus verständlich«, sagte David. »Anscheinend unterhält sich alle Welt darüber. Wie war die allgemeine Einstellung? Sind Ihre Kollegen der Meinung, daß Ashley Patterson schuldig ist?« »Ja. Das muß man so sagen.« »Und Sie, sind Sie ebenfalls dieser Meinung?« »Na ja, es sieht ganz danach aus.« »Aber Sie sind bereit, die Beweisaufnahme zu verfolgen, ehe Sie sich ein Urteil bilden.« »Ja. Ich will mir alles anhören.« »Was lesen Sie am liebsten, Mr. Harris?« »Ich lese gar nicht viel. Ich gehe lieber campen, jagen und angeln.« »Ein Naturfreund. Wenn Sie nachts draußen campen und zu den Sternen aufblicken, fragen Sie sich da manchmal, ob es da oben noch andere Zivilisationen gibt?« »Meinen Sie damit dieses verrückte UFO-Zeug? An den Unsinn glaube ich nicht.« David wandte sich an Richterin Williams. »Für geeignet befunden, Euer Ehren.« Ein weiterer Kandidat wurde befragt. »Was machen Sie in Ihrer Freizeit, Mr. Allen?« »Na ja, am liebsten lese ich oder sehe fern.« »Das mache ich auch am liebsten. Was sehen Sie sich an?« »Donnerstagabend gibt’s ein paar klasse Sendungen. Da kann man sich immer schwer entscheiden. Die verdammten Sender bringen die guten Sachen alle zur gleichen Zeit.« »Da haben Sie recht. Ein Jammer ist das. Haben Sie sich schon einmal Akte X angesehen?« »Ja. Meine Kinder stehen darauf.« »Was ist mit Sabrina - Total verhext!?« »Ja. Das sehen wir uns auch an. Eine gute Serie.« »Und was lesen Sie?« »Anne Rice, Stephen King ...« Ja. Ein weiterer Kandidat war an der Reihe. »Welche Sendungen bevorzugen Sie im Fernsehen, Mr. Mayer?« »Magazine, Nachrichtenjournal, Dokumentationen .« »Was lesen Sie am liebsten?« »Hauptsächlich Sachbücher über historische oder politische Themen.« »Vielen Dank.« Nein. Richterin Tessa Williams saß auf der Bank und hörte sich mit unbewegter Miene die Befragung an. Doch David spürte ihre Mißbilligung bei jedem Blick, den sie ihm zuwarf. Am Ende, als schließlich der letzte Geschworene ausgewählt war, bestand das Gremium aus sieben Männern und fünf Frauen. Brennan warf David einen triumphierenden Blick zu. Das würde ein Schlachtfest werden. 16 An dem Tag, an dem der eigentliche Prozeß begann, begab sich David frühmorgens zu Ashley ins Gefängnis. Sie war das reinste Nervenbündel. »Ich stehe das nicht durch. Ich kann nicht. Sagen Sie denen, daß Sie mich in Ruhe lassen sollen.« »Ashley - es wird alles wieder gut. Wir werden uns dem Verfahren stellen, und wir werden gewinnen.« »Sie - Sie wissen ja nicht, wie das ist. Ich komme mir vor, als wäre ich in der Hölle.« »Wir werden Sie da rausholen. Dies ist der erste Schritt.« Sie zitterte am ganzen Leib. »Ich habe Angst, daß - daß man mir irgend etwas Schreckliches antut.« »Das werde ich nicht zulassen«, sagte David entschieden. »Sie müssen an mich glauben. Denken Sie daran - Sie sind nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Man erwartet uns.« Sie holte tief Luft. »Na gut. Ich werde es überstehen. Ich werde es überstehen. Ich werde es überstehen.« Dr. Patterson hatte im Zuschauerraum Platz genommen. Auf die Fragen, mit denen ihn die Reporter vor dem Gerichtssaal bombardiert hatten, hatte er nur erwidert: »Meine Tochter ist unschuldig.« Etliche Reihen weiter weg saßen Jesse und Emily Quiller, die zur moralischen Unterstützung angereist waren. Am Tisch der Anklagevertretung warteten Mickey Brennan und seine beiden Assistentinnen, Susan Freeman und Eleanor Tucker, auf die Eröffnung des Verfahrens. David saß zwischen Sandra und Ashley am Verteidigungstisch. Die beiden Frauen hatten sich eine Woche zuvor kennengelernt. »David - man braucht sich Ashley doch nur anzugucken, und schon wird einem klar, daß sie unschuldig ist.« »Sandra, wenn man sich die Beweise ansieht und die Spuren, die sie hinterlassen hat, wird einem aber auch klar, daß sie die Männer umgebracht hat. Aber zwischen dem Tatbestand an sich und der Schuldfrage besteht ein großer Unterschied. Davon muß ich jetzt nur noch die Geschworenen überzeugen.« Richterin Williams betrat den Gerichtssaal und begab sich zum Richterstuhl. »Alles aufstehen«, rief der Gerichtsdiener. »Das Gericht tritt zusammen. Den Vorsitz hat die ehrenwerte Richterin Tessa Williams.« »Sie dürfen sich wieder hinsetzen«, sagte Richterin Williams. »Zur Verhandlung steht die Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ashley Patterson. Fangen wir an.« Sie blickte zu Bren-nan. »Möchte der Anklagevertreter eine einleitende Erklärung abgeben?« Mickey Brennan erhob sich. »Ja, Euer Ehren.« Er wandte sich an die Geschworenen und ging auf sie zu. »Guten Morgen. Wie Sie wissen, meine Damen und Herren, wird die Angeklagte, über die hier verhandelt wird, dreier blutiger Morde beschuldigt. Mörder verstehen sich zu tarnen.« Er nickte zu Ashley hin. »Ihre Tarnung besteht darin, daß sie eine unschuldige, wehrlose junge Frau spielt. Doch die Staatsanwaltschaft wird beweisen, daß die Angeklagte willentlich und wissentlich drei unschuldige Männer ermordet und verstümmelt hat. Sie hat bei einer dieser Taten einen falschen Namen benutzt, wohl weil sie hoffte, daß man ihr dadurch nicht auf die Schliche kommen würde. Sie wußte genau, was sie tat. Wir haben es hier mit vorsätzlichem kaltblütigem Mord zu tun. Im Laufe dieses Verfahrens werde ich Ihnen nach und nach all die Beweise vorlegen, mit denen wir die Angeklagte, die hier vor uns sitzt, überführen werden. Ich danke Ihnen.« Er kehrte zu seinem Platz zurück. Richterin Williams blickte zu David. »Möchte sich die Verteidigung ebenfalls erklären?« »Ja, Euer Ehren.« David stand auf und schaute zu den Geschworenen. Er atmete tief durch. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Laufe dieser Verhandlung werde ich nachweisen, daß Ashley Patterson nicht verantwortlich für die Taten ist, um die es hier geht. Sie hatte weder ein Motiv, noch war ihr bewußt, daß sie diese Morde beging. Meine Mandantin ist ein Opfer. Das Opfer eines Leidens, das man als MPS bezeichnet - als multiple Persönlichkeitsstörung, eine psychische Erkrankung, die ich Ihnen im Laufe des Verfahrens noch näher erläutern werde.« Er warf einen Blick zu Richterin Williams und fuhr entschieden fort: »In der Medizin ist dieses Krankheitsbild wohlbekannt. Es äußert sich darin, daß der oder die Betroffene von anderen Persönlichkeiten beherrscht wird, die sein oder ihr Verhalten bestimmen. Man weiß schon seit langem um dieses Phänomen. Benjamin Rush, ein Arzt und einer der Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, hat sich in seinen Vorlesungen mit Fallstudien von MPS-Kranken befaßt. Es gibt sowohl aus dem letzten als auch aus diesem Jahrhundert zahlreiche Berichte über MPS-Fälle, Fälle, in denen Menschen von anderen Persönlichkeiten gesteuert wurden.« Brennan hörte Davids Ausführungen mit einem spöttischen Grinsen zu. »Wir werden beweisen, daß es eine andere Persönlichkeit war, die die Initiative übernahm und die Morde beging, die man Ashley Patterson zur Last legt, Morde, die zu begehen sie keinerlei Grund hatte. Nicht den geringsten. Sie hatte keinen Einfluß auf das Geschehen und ist daher auch nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Im Laufe dieses Prozesses werde ich angesehene Ärzte aufrufen, die diese Krankheit näher erläutern werden. Glücklicherweise ist sie heilbar.« Er sah die Geschworenen an. »Ashley Patterson hatte keinerlei Einfluß auf ihr Verhalten, daher bitten wir um der Gerechtigkeit willen, daß Ashley Patterson nicht wegen Straftaten verurteilt wird, für die sie nicht verantwortlich ist.« David nahm Platz. Richterin Williams blickte zu Brennan. »Ist die Staatsanwaltschaft bereit fortzufahren?« Brennan erhob sich. »Ja, Euer Ehren.« Er lächelte seine Assistentinnen an und baute sich vor der Geschworenenbank auf. Er blieb einen Moment lang stehen und rülpste laut. Die Geschworenen starrten ihn verdutzt an. Brennan schaute sie einen Moment lang verwundert an, dann tat er so, als begreife er. »Oh, ich verstehe. Sie erwarten, daß ich mich entschuldige. Nun ja, ich habe es nicht getan, weil ich das nicht gewesen bin. Das war Pete, mein Alter ego.« David sprang wutentbrannt auf. »Einspruch, Euer Ehren. Das ist die unverschämteste .« »Stattgegeben.« Doch der Schaden war bereits angerichtet. Brennan lächelte David gönnerhaft an und wandte sich dann wieder an die Geschworenen. »Nun ja, ich glaube, eine derartige Verteidigungsstrategie hat es seit den Hexenprozessen von Salem vor dreihundert Jahren nicht mehr gegeben.« Er warf einen Blick auf Ashley. »Ich bin’s nicht gewesen. Nein, Sir. Der Teufel hat mich dazu angestiftet.« David war wieder aufgesprungen. »Einspruch. Der -« »Abgelehnt.« David ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Brennan trat noch näher an die Geschworenenbank. »Ich habe Ihnen versprochen, daß ich beweisen werde, daß die Angeklagte vorsätzlich und kaltblütig drei Männer ermordet und verstümmelt hat - Dennis Tibble, Richard Melton und Deputy Sam Blake. Drei Männer! Allen Behauptungen der Verteidigung zum Trotz« - er wandte sich um und deutete wieder auf Ashley - »sitzt dort nur eine Angeklagte, und zwar die Person, die diese Morde begangen hat. Wie hat Mr. Singer das bezeichnet? Als multiple Persönlichkeitsstörung? Nun, ich werde eine Reihe berühmter Ärzte aufrufen, die Ihnen unter Eid erklären werden, daß es so etwas nicht gibt! Doch zunächst wollen wir ein paar Fachleute hören, die Ihnen darlegen werden, daß die Angeklagte, und nur sie, diese Straftaten begangen haben kann.« Brennan wandte sich an Richterin Williams. »Ich rufe meinen ersten Zeugen auf, Special Agent Vincent Jordan.« Ein kleiner, kahlköpfiger Mann stand auf und trat in den Zeugenstand. »Nennen Sie bitte Ihren vollen Namen und buchstabieren Sie ihn für das Protokoll«, sagte der Gerichtsdiener. »Special Agent Vincent Jordan, J-o-r-d-a-n.« Brennan setzte sich und wartete, bis er vereidigt war. »Sie sind beim Federal Bureau of Investigation in Washington, D.C., tätig, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Und was machen Sie beim FBI, Special Agent Jordan?« »Ich bin Leiter der Abteilung Fingerabdrücke.« »Wie lange haben Sie diese Position schon inne?« »Fünfzehn Jahre.« »Fünfzehn Jahre. Ist es in dieser langen Zeit schon einmal vorgekommen, daß unterschiedliche Personen die gleichen Fingerabdrücke hatten?« »Nein, Sir.« »Wie viele Menschen sind beim FBI per Fingerabdruck erfaßt?« »Bei der letzten Zählung waren es knapp über zweihundertfünfzig Millionen, aber bei uns gehen Tag für Tag über vier-unddreißigtausend Zehnfingerabdruckkarten ein.« »Und keiner dieser Abdrücke gleicht dem anderen?« »Nein, Sir.« »Wie ordnen Sie Fingerabdrücke zu?« »Zur Identifizierung halten wir uns an sieben verschiedene Muster. Fingerabdrücke sind einzigartig. Sie werden vor der Geburt ausgebildet, und sie bleiben das ganze Leben lang unverändert. Wenn man von gewissen äußeren Einflüssen einmal absieht, sei es durch einen Unfall oder auch absichtlich, gleicht kein Fingerabdruck dem anderen.« »Special Agent Jordan, hat man Ihnen die Fingerabdrücke zugesandt, die man an den Tatorten dieser drei Morde sicherstellte, die der Angeklagten zur Last gelegt werden?« »Ja, Sir. So ist es.« »Und hat man Ihnen auch die Fingerabdrücke der Angeklagten zukommen lassen, die Abdrücke von Ashley Patterson?« »Ja, Sir.« »Haben Sie diese Abdrücke persönlich verglichen?« »Jawohl.« »Und was haben Sie dabei festgestellt?« »Daß die Abdrücke, die am Tatort sichergestellt wurden, mit denen übereinstimmen, die man Ashley Patterson abgenommen hat.« Im Zuschauerraum wurde es laut. »Ruhe bitte!« Brennan wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Sie stimmten also überein? Gibt es Ihrer Meinung nach auch nur den geringsten Zweifel, daß sie identisch sind, Agent Jordan? Könnte vielleicht ein Versehen vorliegen?« »Nein, Sir. Sämtliche Abdrücke waren klar und deutlich zu erkennen.« »Nur zur Klarstellung - wir reden hier von den Fingerabdrücken, die man an den Tatorten sichergestellt hat, an denen Dennis Tibble, Richard Melton und Deputy Sam Blake ermordet wurden?« »Ja, Sir.« »Und an allen Tatorten fand man die Fingerabdrücke der Angeklagten, die Abdrücke von Ashley Patterson?« »Ganz recht.« »Wäre es Ihrer Meinung nach möglich, daß Ihnen ein Fehler unterlaufen ist?« »Niemals.« »Ich danke Ihnen, Agent Jordan.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.« David blieb einen Moment lang sitzen, dann erhob er sich und begab sich zum Zeugenstand. »Agent Jordan, stellen Sie bei Ihren Untersuchungen mitunter fest, daß Fingerabdrücke absichtlich verschmiert oder verwischt wurden, weil der Täter seine Spuren beseitigen wollte?« »Ja, aber für gewöhnlich können wir sie mit hochmoderner Lasertechnologie sichtbar machen.« »Mußten Sie darauf auch in Ashley Pattersons Fall zurückgreifen?« »Nein, Sir.« »Warum nicht?« »Na ja, wie schon gesagt - die Fingerabdrücke waren klar und deutlich.« David warf den Geschworenen einen Blick zu. »Sie wollen damit also sagen, daß die Angeklagte keinerlei Versuch unternahm, ihre Fingerabdrücke unkenntlich zu machen oder zu entfernen?« »Ganz recht.« »Vielen Dank. Keine weiteren Fragen.« Er wandte sich an die Geschworenen. »Ashley Patterson unternahm keinerlei Versuch, ihre Fingerabdrücke zu verwischen, weil sie unschuldig ist und -« Richterin Williams ging dazwischen. »Das reicht, Herr Rechtsanwalt. Heben Sie sich das für Ihr Plädoyer auf.« David nahm wieder Platz. Brennan wandte sich an Special Agent Jordan. »Sie sind entlassen.« Der FBI-Agent verließ den Zeugenstand. »Ich möchte meinen nächsten Zeugen aufrufen«, sagte Bren-nan. »Mr. Stanley Clarke.« Ein junger Mann mit langen Haaren wurde in den Gerichtssaal geleitet. Er ging zum Zeugenstand. Im Saal herrschte gespanntes Schweigen, als er vereidigt wurde. »Was sind Sie von Beruf, Mr. Clarke?« fragte Brennan. »Ich bin beim Bundeslaboratorium für Biotechnologie beschäftigt. Ich befasse mich mit der Erforschung der Desoxyribonukleinsäure.« »Für uns, die wir nicht vom Fach sind, besser bekannt unter der Bezeichnung DNS?« »Ja, Sir.« »Seit wann sind Sie beim Bundeslaboratorium für Biotechnologie beschäftigt?« »Seit sieben Jahren.« »Und welche Stellung haben Sie inne?« »Ich bin Abteilungsleiter.« »Und in diesen sieben Jahren haben Sie sicher allerhand Erfahrung in der DNS-Untersuchung gewonnen?« »Klar. Ich mach’ das tagtäglich.« Brennan warf den Geschworenen einen kurzen Blick zu. »Ich glaube, wir wissen alle um die Bedeutung der DNS-Analyse.« Er deutete auf die Zuschauer. »Würden Sie sagen, daß etwa eine Handvoll Menschen in diesem Gerichtssaal eine identische DNS besitzen?« »Nein, Sir. Die Wahrscheinlichkeit, daß Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, das gleiche DNS-Muster aufweisen, beträgt, wie wir aufgrund vergleichender Studien anhand des in Datenbanken gesammelten Erbgutmaterials feststellen können, eins zu fünfhundert Milliarden.« Brennan wirkte tief beeindruckt. »Eins zu fünfhundert Milliarden. Mr. Clarke, anhand welcher am Tatort sichergestellten Spuren bestimmen Sie die DNS?« »Die DNS läßt sich anhand von Speichelresten, Samenflüssigkeit oder Vaginalsekret bestimmen, aber auch anhand von Blutspuren, Haaren, Zähnen, Knochenmark .« »Und anhand jeder dieser Spuren können Sie feststellen, von welcher Person sie stammen?« »Ganz recht.« »Haben Sie die Spuren, die man im Zusammenhang mit den Morden an Dennis Tibble, Richard Melton und Samuel Black sicherstellte, persönlich ausgewertet und die DNS-Muster verglichen?« »Jawohl.« »Und hat man Ihnen später mehrere Haarsträhnen der Angeklagten Ashley Patterson übergeben?« »So ist es.« »Und was haben Sie festgestellt, als Sie die DNS-Muster verglichen, die Sie anhand der Haare der Angeklagten wie auch aufgrund der an den Tatorten sichergestellten Spuren bestimmen konnten?« »Sie waren identisch.« Diesmal fiel die Reaktion im Zuschauerraum noch lauter aus. Richterin Williams schlug mit dem Hammer auf ihr Pult. »Ruhe! Seien Sie still, oder ich lasse den Gerichtssaal räumen.« Brennan wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Mr. Clarke - haben Sie soeben gesagt, daß die DNS-Muster, die Sie von den Spuren an den drei Tatorten gewinnen konnten, mit der DNS der Angeklagten übereinstimmten?« Auf das letzte Wort legte Brennan besonderen Nachdruck. »Ja, Sir.« Brennan warf einen Blick zu dem Tisch, an dem Ashley saß, und wandte sich dann wieder an den Zeugen. »Und wie steht’s mit Verunreinigungen? Wir erinnern uns alle an einen bekannten Strafprozeß, bei dem die für die DNS-Analyse verwendeten Spuren angeblich verunreinigt waren. Wäre es möglich, daß das Beweismaterial auch in diesem Fall unsachgemäß behandelt wurde, so daß es nicht mehr verwertbar oder -?« »Nein, Sir. Sämtliche Spuren, anhand derer wir bei diesen drei Mordfällen eine DNS-Analyse vorgenommen haben, wurden mit großer Sorgfalt behandelt und befanden sich stets unter Verschluß.« »Dann besteht also keinerlei Zweifel. Die Angeklagte hat die drei Männer ermordet und -?« David sprang auf. »Einspruch, Euer Ehren. Der Staatsanwalt beeinflußt den Zeugen durch Suggestivfragen und -« »Stattgegeben.« David nahm wieder Platz. »Ich danke Ihnen, Mr. Clarke.« Brennan wandte sich an David. »Ich bin fertig.« »Ihr Zeuge, Mr. Singer«, sagte Richterin Williams. »Keine Fragen.« Die Geschworenen starrten David an. Brennan tat überrascht. »Keine Fragen?« Er wandte sich an den Zeugen. »Sie sind entlassen.« Dann schaute Brennan zu den Geschworenen und sagte: »Ich bin erstaunt, daß die Verteidigung keine Fragen an den Zeugen hat, denn seine Aussage beweist eindeutig, daß die Angeklagte drei unschuldige Männer ermordet und kastriert -« Wieder sprang David auf. »Euer Ehren -« »Stattgegeben. Sie gehen zu weit, Mr. Brennan!« »Entschuldigung, Euer Ehren. Keine weiteren Fragen.« Ashley schaute David verängstigt an. »Keine Sorge«, flüsterte er ihr zu. »Bald sind wir an der Reihe.« Am Nachmittag rief die Anklage weitere Zeugen auf, und deren Aussagen waren niederschmetternd. »Hat Sie der Hauswart zu Dennis Tibbles Wohnung gerufen, Detective Lightman?« »Ja.« »Würden Sie uns schildern, was Sie dort vorgefunden haben?« »Es war das reinste Schlachtfeld. Die Wohnung war von oben bis unten voller Blut.« »In welchem Zustand haben Sie das Opfer vorgefunden?« »Er war erstochen und entmannt worden.« Brennan warf einen Blick zu den Geschworenen und verzog entsetzt das Gesicht. »Erstochen und entmannt. Haben Sie am Tatort irgendwelche Spuren gefunden?« »O ja. Das Opfer hatte vor seinem Tod Geschlechtsverkehr. Wir haben Vaginalsekret und Fingerabdrücke gefunden.« »Warum haben Sie nicht gleich jemanden festgenommen?« »Weil die Fingerabdrücke, die wir gefunden hatten, nirgendwo registriert waren. Es hat eine Weile gedauert, bis wir eine Vergleichsmöglichkeit hatten.« »Aber als Sie schließlich Ashley Pattersons Fingerabdrücke und die Auswertung der DNS-Untersuchung vorliegen hatten, paßte alles zusammen?« »Genauso war es. Es hat alles zusammengepaßt.« Dr. Steven Patterson verfolgte den Prozeß Tag für Tag. Er saß im Zuschauerraum, unmittelbar hinter dem Verteidigertisch. Immer war er von Reportern umlagert. »Dr. Patterson, wie verläuft der Prozeß Ihrer Meinung nach?« »Bisher verläuft er sehr gut.« »Wie wird er Ihrer Meinung nach ausgehen?« »Man wird meine Tochter für unschuldig befinden.« Als David und Sandra eines späten Nachmittags ins Hotel zurückkamen, lag eine Nachricht für sie vor. »Rufen Sie bitte Mr. Kwong bei Ihrer Bank an.« David und Sandra schauten sich an. »Ist bereits ein Monat um?« fragte Sandra. »Ja. Wenn man sich amüsiert, vergeht die Zeit wie im Fluge«, erwiderte er ironisch. David war einen Moment lang nachdenklich. »Der Prozeß wird bald vorüber sein, mein Schatz. Wir haben noch genügend Geld auf dem Konto, um die Rate für diesen Monat zu bezahlen.« Sandra schaute ihn besorgt an. »David, wenn wir nicht alle Raten bezahlen können - verlieren wir dann alles, was wir bereits reingesteckt haben?« »Ja. Aber keine Sorge. Guten Menschen wird auch Gutes zuteil.« Und er dachte an Helen Woodman. Brian Hill saß auf dem Zeugenstuhl, nachdem er vereidigt worden war. Mickey Brennan schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Würden Sie uns mitteilen, was Sie beruflich machen, Mr. Hill?« »Ja, Sir. Ich bin Aufseher im De Young Museum in San Francisco.« »Das muß eine interessante Tätigkeit sein.« »Ist es auch, wenn man Kunst mag. Ich bin ein verkrachter Maler.« »Wie lange arbeiten Sie schon dort?« »Vier Jahre.« »Besuchen häufig die gleichen Menschen das Museum? Das heißt, kommen die Leute immer wieder dorthin?« »O ja. Manche schon.« »Dann nehme ich an, daß Sie sie nach einiger Zeit kennen oder daß Ihnen zumindest die Gesichter bekannt vorkommen?« »Das stimmt.« »Und wie ich erfahren habe, dürfen auch Künstler hinkommen, um einige der im Museum ausgestellten Bilder zu kopieren.« »O ja. Zu uns kommen viele Künstler.« »Haben Sie welche kennengelernt, Mr. Hill?« »Ja, wir - nach einer Weile freundet man sich sozusagen miteinander an.« »Haben Sie einen gewissen Richard Melton kennengelernt?« Brian Hill seufzte. »Ja. Er war sehr begabt.« »So begabt, daß Sie ihn gebeten haben, Ihnen Malunterricht zu geben?« »So ist es.« David stand auf. »Euer Ehren, das mag zwar spannend sein, aber ich wüßte nicht, was es mit diesem Prozeß zu tun hat. Wenn Mr. Brennan -« »Es ist durchaus relevant, Euer Ehren. Ich möchte damit klarstellen, daß Mr. Hill das Opfer vom Sehen und auch namentlich kannte und uns daher mitteilen kann, mit wem es verkehrt ist.« »Einspruch abgelehnt. Sie dürfen fortfahren.« »Und hat er Ihnen Malunterricht erteilt?« »Ja, wenn er Zeit dazu hatte.« »Haben Sie Mr. Melton jemals in Begleitung junger Damen im Museum gesehen?« »Na ja, anfangs nicht. Aber dann hat er eine kennengelernt, die ihn interessiert hat, und ich habe ihn ein paarmal mit ihr gesehen.« »Wie hieß die Dame?« »Alette Peters.« Brennan wirkte verdutzt. »Alette Peters? Sind Sie sicher, daß Sie den Namen richtig verstanden haben?« »Ja, Sir. So hat er sie mir vorgestellt.« »Sie befindet sich nicht zufällig in diesem Gerichtssaal, oder, Mr. Hill?« »Doch, Sir.« Er deutete auf Ashley. »Da drüben sitzt sie.« »Aber das ist nicht Alette Peters«, sagte Brennan. »Das ist Ashley Patterson, die Angeklagte.« David sprang auf. »Euer Ehren, wir haben bereits darauf hingewiesen, daß auch Alette Peters Gegenstand dieser Verhandlung ist. Sie ist eine der anderen Persönlichkeiten, unter deren Einfluß Ashley Patterson -« »Sie greifen zu weit vor, Mr. Singer. Mr. Brennan, fahren Sie bitte fort.« »Nun, Mr. Hill, sind Sie sicher, daß die Angeklagte, die sich hier unter dem Namen Ashley Patterson verantworten muß, Richard Melton als Alette Peters bekannt war?« »So ist es.« »Und es handelt sich ohne jeden Zweifel um dieselbe Frau?« Brian Hill zögerte. »Na ja ... Ja, es ist dieselbe Frau.« »Und Sie haben sie an dem Tag, an dem Richard Melton ermordet wurde, mit ihm zusammen gesehen?« »Ja, Sir.« »Ich danke Ihnen.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.« David stand auf und ging langsam zum Zeugenstand. »Mr. Hill, ich würde meinen, daß man als Aufseher in einem Museum, in dem Kunstwerke im Wert von etlichen hundert Millionen Dollar ausgestellt werden, eine große Verantwortung trägt.« »Ja, Sir. So ist es.« »Und ein guter Aufseher muß ständig wachsam sein.« »Das stimmt.« »Man muß ständig aufpassen, was um einen herum vor sich geht.« »Na klar.« »Würden Sie sagen, daß Sie ein guter Beobachter sind, Mr. Hill?« »Ja, durchaus.« »Ich frage Sie deswegen, weil mir auffiel, daß Sie kurz gezögert haben, als Mr. Brennan von Ihnen wissen wollte, ob Sie nicht den geringsten Zweifel daran hätten, daß Ashley Patterson die Frau sei, mit der Richard Melton zusammen war. Waren Sie sich nicht ganz sicher?« Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Na ja, sie sieht fast genauso aus, aber irgendwie kommt sie mir anders vor.« »In welcher Hinsicht, Mr. Hill?« »Alette Peters wirkte südländischer, und sie hat mit italienischem Akzent gesprochen . außerdem kam sie mir jünger vor als die Angeklagte.« »Ganz richtig, Mr. Hill. Die Person, die Sie in San Francisco gesehen haben, war ein Alter ego von Ashley Patterson. Sie ist in Rom geboren, sie ist acht Jahre jünger -« Brennan sprang fuchsteufelswild auf. »Einspruch.« David wandte sich an Richterin Williams. »Euer Ehren, ich wollte -« »Würden beide Parteien bitte vortreten?« David und Brennan begaben sich zur Richterin. »Ich möchte Sie nicht noch einmal darauf hinweisen müssen, Mr. Singer. Die Verteidigung kommt zum Zug, wenn die Beweisaufnahme der Staatsanwaltschaft abgeschlossen ist. Verkneifen Sie sich bis dahin alle weiteren Plädoyers.« Bernice Jenkins trat in den Zeugenstand. »Was sind Sie von Beruf, Miss Jenkins?« »Ich bin Kellnerin.« »Und wo arbeiten Sie?« »In der Cafeteria des De Young Museum.« »Welche Beziehung hatten Sie zu Richard Melton?« »Wir waren gute Freunde.« »Könnten Sie das etwas näher erläutern?« »Na ja, wir hatten mal ein ziemlich inniges Verhältnis, aber das hat sich dann irgendwie abgekühlt. So was kommt vor.« »Natürlich. Und danach?« »Dann wurde daraus so ‘ne Art Bruder-Schwester-Beziehung. Ich meine damit, daß ich - daß ich ihm von meinen Problemen erzählt hab’ und er mir von seinen.« »Hat er jemals mit Ihnen über die Angeklagte gesprochen?« »Na ja, schon, aber er hat sie anders genannt.« »Und wie hat er sie genannt?« »Alette Peters.« »Aber er wußte, daß sie eigentlich Ashley Patterson hieß?« »Nein. Er hat gedacht, sie heißt Alette Peters.« »Meinen Sie damit, daß sie ihn getäuscht hat?« David sprang wütend auf. »Einspruch.« »Stattgegeben. Stellen Sie der Zeugin keine Suggestivfragen, Mr. Brennan.« »Entschuldigung, Euer Ehren.« Brennan wandte sich wieder dem Zeugenstand zu. »Er hat also mit Ihnen über diese Alette Peters gesprochen. Aber haben Sie ihn auch in ihrer Gesellschaft gesehen?« »Er hat sie eines Tages in die Cafeteria mitgebracht und uns einander vorgestellt.« »Und Sie meinen damit die Angeklagte, Ashley Patterson?« »Ja. Nur daß sie sich seinerzeit Alette Peters genannt hat.« Gary King hatte im Zeugenstand Platz genommen. »Sie haben mit Richard Melton zusammengewohnt?« fragte Brennan. »Ja.« »Waren Sie auch mit ihm befreundet? Sind Sie zusammen ausgegangen?« »Klar. Wir haben uns sogar gemeinsam verabredet.« »Hat Mr. Melton an einer jungen Dame ganz besonderes Interesse bekundet?« »Ja.« »Wissen Sie, wie sie heißt?« »Sie nannte sich Alette Peters.« »Befindet sie sich hier in diesem Gerichtssaal?« »Ja. Sie sitzt da drüben.« »Fürs Protokoll: Sie deuten auf die Angeklagte, auf Ashley Patterson?« »Genau.« »Sie haben Richard Meltons Leiche gefunden, als Sie in der Mordnacht nach Hause kamen?« »Aber klar.« »Wie sah die Leiche aus?« »Blutig.« »War sie entmannt?« Ein Schaudern. »Ja. Mann, war das scheußlich.« Brennan schaute zu den Geschworenen. Sie reagierten genauso, wie er erhofft hatte. »Was haben Sie danach gemacht?« »Ich hab’ die Polizei gerufen.« »Ich danke Ihnen.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.« David erhob sich und ging zu Gary King. »Erzählen Sie uns etwas über Richard Melton. Was für ein Mensch war er?« »Er war großartig.« »War er streitlustig? Hat er sich gern mit anderen Leuten angelegt?« »Richard? Nein. Ganz im Gegenteil. Der war eher ruhig, ausgeglichen.« »Aber er verkehrte gern mit Frauen, die eher derb und ruppig waren?« Gary warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Überhaupt nicht. Richard stand eher auf nette, ruhige Frauen.« »Hat er sich häufig mit Alette gestritten? Hat sie ihn des öfteren angebrüllt?« Gary war sichtlich verdutzt. »Da liegen Sie aber gründlich daneben. Die haben sich niemals angebrüllt. Sie sind prima miteinander klargekommen.« »Ist Ihnen jemals etwas aufgefallen, was Ihrer Meinung nach darauf hingedeutet hätte, daß Alette Peters Ihrem Wohnungsgenossen etwas zuleide -?« »Einspruch. Er beeinflußt den Zeugen.« »Stattgegeben.« »Keine weiteren Fragen«, sagte David. »Keine Sorge«, sagte David zu Ashley, als er wieder Platz nahm. »Deren Beweisführung kommt uns nur entgegen.« Er klang zuversichtlicher, als er war. David und Sandra saßen gerade im San Fresco, dem Restaurant des Wyndham Hotels, beim Abendessen, als der Oberkellner an ihren Tisch kam. »Ein dringendes Telefongespräch für Sie, Mr. Singer.« »Vielen Dank«, sagte David und wandte sich an Sandra. »Bin gleich wieder da.« Der Oberkellner geleitete ihn zum nächsten Telefon. »David Singer hier.« »David - Jesse. Geh auf dein Zimmer und ruf zurück. Es brennt an allen Ecken und Enden.« 17 »Jesse -?« »David, ich weiß, daß ich mich nicht einmischen soll, aber meiner Meinung nach solltest du einen Verfahrensfehler wegen Befangenheit beanstanden.« »Weswegen?« »Warst du in den letzten Tagen mal im Internet?« »Nein. Ich hatte einiges um die Ohren.« »Tja, der ganze Prozeß wird im Internet groß und breit ausgewalzt. In sämtlichen Chat-Räumen ist nur noch davon die Rede.« »Das war doch anzunehmen«, sagte David. »Aber was ist denn daran so -?« »Alle sind gegen dich, David. Sie sind der Meinung, daß Ashley schuldig ist und hingerichtet werden sollte. Und sie drücken sich sehr drastisch aus. Du kannst gar nicht glauben, wie gemein die sind.« David wurde mit einemmal klar, worum es ging. »O mein Gott! Wenn auch nur einer der Geschworenen ins Internet -« »Was bei dem einen oder anderen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit der Fall sein dürfte. Und sie werden dadurch auch beeinflußt werden. Ich würde einen Befangenheitsantrag stellen oder zumindest darauf drängen, daß die Geschworenen in Klausur genommen werden.« »Danke, Jesse. Wird gemacht.« David legte den Hörer auf. »Schlimm?« fragte Sandra, als er zu ihrem Tisch zurückkehrte. »Sehr schlimm.« Bevor das Gericht am nächsten Morgen zusammentrat, bat David um eine Unterredung mit Richterin Williams. Er und Mickey Brennan wurden in ihr Dienstzimmer geleitet. »Sie wollten mich sprechen?« »Ja, Euer Ehren. Ich habe gestern abend erfahren, daß der Prozeß derzeit im Internet das Gesprächsthema Nummer eins ist. In sämtlichen Chat-Räumen ist davon die Rede, und dort hat man die Angeklagte bereits abgeurteilt. Dies könnte zu Vorurteilen führen. Und da ich davon ausgehe, daß einige Geschworene Computer mit Internetanschluß zu Hause stehen haben oder sich mit Freunden und Bekannten unterhalten, die Zugang zum Internet haben, könnte der Verteidigung dadurch ein schwerer Nachteil entstehen. Daher stelle ich den Antrag, den Prozeß aufgrund eines Verfahrensfehlers einzustellen.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Antrag abgelehnt.« David saß da und versuchte sich mühsam zu beherrschen. »Dann beantrage ich, die Geschworenen in Klausur zu nehmen, damit es -« »Mr. Singer, jeden Tag findet sich in diesem Gerichtssaal die Presse aus aller Welt ein. Dieser Prozeß ist überall Thema Nummer eins, ob im Fernsehen, im Radio oder in den Printmedien. Ich habe Sie darauf hingewiesen, daß es ein Affentheater geben würde, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören.« Sie beugte sich vor. »Nun denn, jetzt haben Sie Ihr Affentheater. Wenn Sie die Geschworenen in Klausur nehmen wollten, hätten Sie das vor dem Prozeß kundtun müssen. Und ich hätte wahrscheinlich abgelehnt. Gibt es sonst noch was?« David stieg die Galle hoch. »Nein, Euer Ehren.« »Dann sollten wir uns in den Gerichtssaal begeben.« Mickey Brennan rief Sheriff Dowling in den Zeugenstand. »Hat Deputy Blake angerufen und Ihnen mitgeteilt, daß er über Nacht in der Wohnung der Angeklagten bleiben und sie beschützen wollte? Daß sie ihm erklärt hatte, jemand trachte ihr nach dem Leben?« »Ganz recht.« »Wann haben Sie wieder von Deputy Blake gehört?« »Ich - gar nicht. Am nächsten Morgen hat man mich telefonisch davon verständigt, daß man - daß man seine Leiche in der Gasse hinter Miss Pattersons Mietshaus gefunden hätte.« »Und Sie haben sich natürlich unverzüglich dort hinbegeben?« »Selbstverständlich.« »Und was haben Sie vorgefunden?« Er schluckte. »Sams Leiche war in ein blutiges Laken gewik-kelt. Er war erstochen und entmannt worden, genau wie die anderen beiden Opfer.« »Wie die anderen beiden Opfer. Dann wurden also sämtliche Morde auf die gleiche Art begangen?« »Ja, Sir.« »So, als wären sie von der gleichen Person begangen worden?« David sprang auf. »Einspruch.« »Stattgegeben.« »Ich nehme die Frage zurück. Was haben Sie danach gemacht, Sheriff?« »Nun ja, bis zu dem Zeitpunkt hatten wir Ashley Patterson nicht in Verdacht. Aber danach schon. Deswegen haben wir sie auf die Dienststelle gebracht und ihre Fingerabdrücke genommen.« »Und dann?« »Wir haben sie ans FBI weitergeleitet und von dort eine Bestätigung bekommen.« »Würden Sie den Geschworenen erklären, was genau Sie unter einer Bestätigung verstehen?« Sheriff Dowling wandte sich den Geschworenen zu. »Ihre Fingerabdrücke stimmten mit denen überein, die man an den anderen Tatorten gefunden hatte, aber bislang nicht hatte zuordnen können.« »Ich danke Ihnen, Sheriff.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.« David stand auf und begab sich zum Zeugenstand. »Sheriff, hier im Gerichtssaal wurde ausgesagt, daß man in Miss Pattersons Küche ein blutbeflecktes Messer gefunden habe.« »Ganz recht.« »Wo war es versteckt? War es in irgend etwas eingewik-kelt?« »Nein. Es hat einfach dagelegen.« »Es hat also einfach dagelegen. So als hätte es da jemand liegenlassen, der nichts zu verbergen hat. Jemand, der unschuldig ist, weil -« »Einspruch!« »Stattgegeben.« »Ich habe keine weiteren Fragen.« »Der Zeuge ist entlassen.« »Wenn das Gericht gestattet«, sagte Brennan und winkte jemandem am anderen Ende des Saales zu, worauf ein Mann im Arbeitsanzug eintrat und den Spiegel von Ashleys Toilettenschrank hereinbrachte. Den Spiegel, auf den mit rotem Lippenstift Du wirst sterben geschmiert war. David stand auf. »Was ist das?« Richterin Williams wandte sich an Mickey Brennan. »Mr. Brennan?« »Das ist der Köder, mit dem die Angeklagte Deputy Blake in ihre Wohnung gelockt hat, damit sie ihn ermorden konnte. Ich möchte es als Beweisstück D vorlegen. Es stammt vom Toilettenschränkchen der Angeklagten.« »Einspruch, Euer Ehren. Das steht in keinerlei Bezug zu -« »Ich werde nachweisen, daß es da sehr wohl einen Bezug gibt.« »Warten wir’s ab. Aber vorerst dürfen Sie fortfahren.« Brennan stellte den Spiegel so hin, daß ihn sämtliche Geschworenen sehen konnten. »Dieser Spiegel stammt aus dem Badezimmer der Angeklagten.« Er blickte zu den Geschworenen. »Wie Sie sehen, hat jemand >DU WIRST STERBEN< darauf geschmiert. Das war der Vorwand, unter dem die Angeklagte Deputy Blake in jener Nacht in ihre Wohnung gelockt hat, damit er sie beschützt.« Er wandte sich an Richterin Williams. »Ich würde gern meine nächste Zeugin aufrufen, Miss Laura Niven.« Eine Frau mittleren Alters, die am Stock ging, begab sich in den Zeugenstand und wurde vereidigt. »Wo sind Sie beschäftigt, Miss Niven?« »Ich bin als Beraterin für den Bezirk San Jose tätig.« »Und was ist Ihre Aufgabe?« »Ich bin Schriftsachverständige.« »Wie lange stehen Sie schon in Diensten des Bezirks, Miss Niven?« »Zweiundzwanzig Jahre.« Brennan deutete mit dem Kopf auf den Spiegel. »Haben Sie diesen Spiegel schon einmal gesehen?« »Ja.« »Und Sie haben ihn untersucht?« »Jawohl.« »Und hat man Ihnen auch eine Schriftprobe der Angeklagten vorgelegt?« »Ja.« »Und die haben Sie ebenfalls untersucht?« »Ja.« »Haben Sie beide Handschriften miteinander verglichen?« »Jawohl.« »Und zu welchem Schluß sind Sie dabei gekommen?« »Sie wurden von ein und derselben Person geschrieben.« Aus dem Zuschauerraum ertönte ein allgemeines Aufkeuchen. »Sie wollen damit also sagen, daß Ashley Patterson diese Drohung selbst geschrieben hat?« »Ganz recht.« Mickey Brennan schaute zu David. »Ihre Zeugin.« David zögerte einen Moment. Er warf Ashley einen Blick zu. Sie starrte kopfschüttelnd auf die Tischplatte. »Keine Fragen.« Richterin Williams musterte David. »Keine Fragen, Mr. Singer?« David erhob sich. »Nein. Diese Aussagen sind völlig bedeutungslos.« Er wandte sich an die Geschworenen. »Die Staatsanwaltschaft muß nachweisen, daß Ashley Patterson die Opfer kannte und ein Motiv hatte, sie -« »Ich habe Sie vorgewarnt«, versetzte Richterin Williams aufgebracht. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Geschworenen rechtlich zu belehren. Wenn -« »Jemand muß es doch tun«, platzte David heraus. »Sie lassen ihm ja alles durchgehen -« »Das reicht, Mr. Singer. Treten Sie vor.« David begab sich zum Richterstuhl. »Ich tadle Sie wegen Mißachtung des Gerichts und verurteile Sie zu einer Nacht in unserem hübschen Gefängnis hier, sobald die Verhandlung vorüber ist.« »Moment, Euer Ehren. Sie können doch nicht -« »Ich habe Sie zu einer Nacht verurteilt«, erwiderte sie grimmig. »Wollen Sie es auf zwei anlegen?« David stand da und atmete tief durch, während er sie mit Blicken durchbohrte. »Meiner Mandantin zuliebe werde ich -werde ich meine Meinung für mich behalten.« »Ein weiser Entschluß«, sagte Richterin Williams kurz angebunden. »Das Gericht vertagt sich.« Sie wandte sich an den Gerichtsdiener. »Ich möchte, daß Mr. Singer in Gewahrsam genommen wird, sobald der Prozeß zu Ende ist.« »Ja, Euer Ehren.« Ashley wandte sich an Sandra. »O mein Gott! Was geht da eigentlich vor?« Sandra drückte ihren Arm. »Keine Sorge. Sie müssen David vertrauen.« Sie telefonierte mit Jesse Quiller. »Ich hab’s schon gehört«, sagte er. »Es kam in sämtlichen Nachrichten, Sandra. Ich kann’s David nicht verübeln, daß er die Beherrschung verloren hat. Sie hat ihn von Anfang an getriezt. Womit hat David sich nur ihren Unmut eingehandelt?« »Ich weiß es nicht, Jesse. Es war furchtbar. Du hättest die Mienen der Geschworenen sehen sollen. Sie hassen Ashley. Sie können es kaum abwarten, sie zu verurteilen. Na ja, demnächst ist die Verteidigung am Zug. David wird sie schon umstimmen.« »Du mußt nur daran glauben.« »Richterin Williams kann mich nicht ausstehen, Sandra, und Ashley muß darunter leiden. Wenn ich nichts dagegen unternehme, wird Ashley sterben. Das darf ich nicht zulassen.« »Was kannst du denn dagegen tun?« fragte Sandra. Er holte tief Luft. »Den Fall abgeben.« Beide wußten, was das bedeutete. Sämtliche Zeitungen würden über sein Versagen berichten. »Ich hätte mich von Anfang an nicht auf den Prozeß einlassen dürfen«, sagte David bitter. »Dr. Patterson hat darauf vertraut, daß ich das Leben seiner Tochter rette, und ich -« Er konnte nicht weitersprechen. Sandra legte den Arm um ihn und zog ihn an sich. »Es ist nicht deine Schuld, mein Schatz. Alles wird wieder gut.« Ich habe alle hängenlassen, dachte David. Ashley, Sandra ... Ich werde aus der Kanzlei fliegen. Ich werde arbeitslos, und der Kleine ist bald fällig. »Alles wird wieder gut.« Genau. Am nächsten Morgen bat David Richterin Williams um eine Aussprache. Mickey Brennan befand sich ebenfalls im Dienstzimmer. »Sie wollten mich sprechen, Mr. Singer?« sagte Richterin Williams. »Ja, Euer Ehren. Ich möchte die Verteidigung niederlegen.« »Aha?« versetzte Richterin Williams. »Mit welcher Begründung?« David wählte seine Worte sorgfältig. »Ich glaube, ich bin nicht der richtige Anwalt für diesen Prozeß. Ich glaube, ich schade meiner Mandantin. Ich möchte, daß man jemand anderen mit der Verteidigung betraut.« »Mr. Singer«, entgegnete Richterin Williams ruhig, »wenn Sie meinen, ich ließe Sie jetzt einfach ziehen, was zur Folge hätte, daß man den Prozeß von neuem aufwickeln und noch mehr Zeit und Geld verschwenden müßte, irren Sie sich gewaltig. Die Antwort lautet nein. Haben Sie mich verstanden?« David schloß einen Moment lang die Augen und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Dann blickte er auf. »Ja, Euer Ehren. Ich habe verstanden.« Er saß in der Falle. 18 Über drei Monate waren seit Beginn des Prozesses verstrichen, und David konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zum letztenmal eine Nacht durchgeschlafen hatte. »David«, sagte Sandra, als sie eines Nachmittags vom Gericht ins Hotel gingen, »ich glaube, ich sollte allmählich nach San Francisco zurückkehren.« David schaute sie überrascht an. »Warum? Wir stecken mitten in - o mein Gott.« Er nahm sie in die Arme. »Der Kleine. Kommt er schon?« Sandra lächelte. »Es kann jeden Moment soweit sein. Mir wäre wohler zumute, wenn ich wieder dort wäre, in der Nähe von Dr. Bailey. Mutter hat gesagt, sie will vorbeikommen und bei mir bleiben.« »Natürlich. Du mußt zurück«, sagte David. »Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. In drei Wochen ist er fällig, nicht wahr?« »Ja.« Er verzog das Gesicht. »Und ich kann nicht einmal bei dir sein.« Sandra nahm seine Hand. »Reg dich nicht auf, mein Schatz. Der Prozeß wird bald vorüber sein.« »Dieser gottverdammte Prozeß ruiniert uns das ganze Leben.« »David, wir werden schon zurechtkommen. Meine alte Stelle steht mir jederzeit offen. Wenn das Baby da ist, kann ich -« »Es tut mir so leid, Sandra«, sagte David. »Ich wünschte -« »David, entschuldige dich nicht für etwas, was du für richtig hältst.« »Ich liebe dich.« »Ich dich auch.« Er streichelte ihren Bauch. »Ich liebe euch beide.« Er seufzte. »Na schön. Ich helfe dir beim Packen, und ich fahre dich heute abend nach San Francisco und -« »Nein«, erwiderte Sandra entschieden. »Du kannst hier nicht weg. Ich bitte Emily, daß sie runterkommt und mich abholt.« »Frag sie doch, ob sie heute abend mit uns essen gehen kann.« »Gut.« Emily war sofort Feuer und Flamme gewesen. »Selbstverständlich komm’ ich runter und hol dich ab.« Und zwei Stunden später war sie in San Jose gewesen. Sie aßen alle drei im Chai Jane zu Abend. »Das ist ja ein schreckliches Durcheinander«, sagte Emily. »Ich finde das gar nicht gut, daß ihr zwei ausgerechnet jetzt nicht beisammensein könnt.« »Der Prozeß dauert nicht mehr allzulange«, sagte David hoffnungsvoll. »Vielleicht ist er zu Ende, bevor der Kleine kommt.« Emily lächelte. »Dann haben wir doppelten Grund zum Feiern.« Dann mußten sie aufbrechen. David nahm Sandra in die Arme. »Ich rufe dich jeden Abend an«, sagte er. »Mach dir bitte um mich keine Sorgen. Ich komme schon zurecht. Ich liebe dich sehr.« Sandra schaute ihn an. »Paß auf dich auf, David. Du siehst müde aus.« Erst als Sandra weg war, wurde David klar, wie einsam und verlassen er sich vorkam. Das Gericht trat wieder zusammen. Mickey Brennan erhob sich und wandte sich an die Vorsitzende. »Ich würde gern Dr. Lawrence Larkin als nächsten Zeugen aufrufen.« Ein vornehm wirkender Mann mit grauen Haaren wurde vereidigt und trat in den Zeugenstand. »Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, Dr. Larkin, daß Sie hergekommen sind. Ich weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist. Würden Sie uns kurz erklären, wer Sie sind und was Sie machen?« »Ich habe eine gutgehende Praxis in Chicago. Außerdem war ich ehemals Präsident der Psychiatrischen Gesellschaft von Chicago.« »Wie viele Jahre praktizieren Sie schon, Doktor?« »Ungefähr dreißig Jahre.« »Und als Psychiater, kann ich mir vorstellen, haben Sie schon viele Fälle von multipler Persönlichkeitsstörung erlebt?« »Nein.« Brennan runzelte die Stirn. »Soll dieses Nein bedeuten, daß Sie noch nicht allzu viele Fälle erlebt haben? Eine Handvoll vielleicht?« »Mir ist noch kein Fall von multipler Persönlichkeitsstörung begegnet.« Brennan tat bestürzt, als er die Geschworenen anschaute. Dann wandte er sich wieder an den Psychiater. »In den ganzen dreißig Jahren, in denen Sie mit geistig gestörten Patienten zu tun hatten, ist Ihnen noch kein einziger Fall von multipler Persönlichkeitsstörung begegnet?« »Ganz recht.« »Das erstaunt mich. Wie erklären Sie das?« »Ganz einfach. Meiner Meinung nach gibt es die multiple Persönlichkeitsstörung nicht.« »Na, jetzt bin ich verwirrt, Doktor. Liegen denn keine Fallstudien über multiple Persönlichkeitsstörungen vor?« Dr. Larkin schnaubte verächtlich. »Fallstudien haben gar nichts zu bedeuten. Wissen Sie, es handelt sich hier um ein großes Mißverständnis. Was manche Psychiater für eine multiple Persönlichkeitsstörung halten, ist nichts anderes als eine Schizophrenie, eine manische Depression oder irgendeine andere Art von Angstneurose.« »Das ist ja hochinteressant. Dann sind Sie als psychiatrischer Sachverständiger also der Meinung, daß es eine multiple Persönlichkeitsstörung überhaupt nicht gibt?« »Ganz recht.« »Ich danke Ihnen, Doktor.« Mickey Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.« David stand auf und begab sich zum Zeugenstand. »Sie sind also ehemaliger Präsident der Psychiatrischen Gesellschaft von Chicago, Dr. Larkin?« »Ja.« »Dann haben Sie doch bestimmt zahlreiche Kollegen kennengelernt.« »Ja. Und ich bin stolz darauf, daß ich die Ehre hatte.« »Kennen Sie Dr. Royce Salem?« »Ja. Sehr gut sogar.« »Ist er ein guter Psychiater?« »Ein ausgezeichneter sogar. Einer der besten.« »Haben Sie sich schon mal mit Dr. Clyde Donovan getroffen?« »Ja. Mehrmals sogar.« »Würden Sie sagen, daß auch er ein guter Psychiater ist?« »Ich würde ihn nehmen« - ein kurzes Auflachen -, »wenn ich einen brauchte.« »Und was ist mit Dr. Ingram? Kennen Sie den?« »Ray Ingram? Aber gewiß doch. Ein erstklassiger Mann.« »Ein fähiger Psychiater?« »O ja.« »Sagen Sie mal, gibt es, was Geisteskrankheiten anbetrifft, eigentlich eine einhellige Meinung unter Psychiatern?« »Nein. Natürlich sind wir immer wieder unterschiedlicher Ansicht. Die Psychiatrie ist keine exakte Wissenschaft.« »Das ist ja interessant, Doktor. Dr. Salem, Dr. Donovan und Dr. Ingram werden nämlich hier aussagen, daß sie Fälle von multipler Persönlichkeitsstörung behandelt haben. Aber vielleicht ist ja keiner von ihnen so kompetent wie Sie. Das ist alles. Sie können gehen.« Richterin Williams wandte sich an Brennan. »Noch Fragen?« Brennan stand auf und ging zum Zeugenstand. »Dr. Larkin, glauben Sie, Sie befinden sich im Irrtum, weil Ihre Kollegen eine andere Meinung zu MPS vertreten als Sie selbst?« »Nein. Ich könnte Ihnen zahlreiche Psychiater nennen, die nicht daran glauben, daß es eine multiple Persönlichkeitsstörung gibt.« »Ich danke Ihnen, Doktor. Keine weiteren Fragen.« »Dr. Upton«, sagte Mickey Brennan, »wir haben uns von einem Sachverständigen sagen lassen, daß eine vermeintliche multiple Persönlichkeitsstörung häufig mit anderen seelischen Erkrankungen verwechselt wird. Durch welche Untersuchungsmethoden läßt sich nachweisen, daß man es mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung zu tun hat und nicht mit irgendeiner anderen Neurose?« »Eine solche Methode gibt es nicht.« Brennan sperrte überrascht den Mund auf, als er sich den Geschworenen zuwandte. »Es gibt keine Methode? Wollen Sie damit sagen, daß man nicht feststellen kann, ob jemand, der behauptet, an MPS zu leiden, lügt, simuliert oder es im Falle einer Straftat als Vorwand benutzt, damit er oder sie nicht zur Verantwortung gezogen werden kann?« »Wie gesagt, es gibt keine Untersuchungsmethode.« »Dann ist es also lediglich Ansichtssache? Manche Psychiater glauben daran, andere nicht?« »Ganz recht.« »Ich möchte Sie etwas fragen, Doktor. Wenn man jemanden hypnotisiert, dann läßt sich doch sicherlich feststellen, ob er wirklich an MPS leidet oder es nur vorschützt?« Dr. Upton schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Selbst unter Hypnose oder mit Hilfe von Natriumamytal gibt es keine Möglichkeit festzustellen, ob einem jemand etwas vormacht.« »Das ist ja hochinteressant. Ich danke Ihnen, Doktor. Keine weiteren Fragen.« Brennan wandte sich an David. »Ihr Zeuge.« David erhob sich und ging zum Zeugenstand. »Dr. Upton, hatten Sie schon einmal mit Patienten zu tun, bei denen andere Psychiater eine MPS diagnostiziert hatten?« »Ja. Mehrmals.« »Und haben Sie diese Patienten behandelt?« »Nein.« »Warum nicht?« »Ich kann niemanden wegen einer Krankheit behandeln, die es nicht gibt. In einem Fall handelte es sich um einen Patienten, der einer Unterschlagung bezichtigt wurde und dem ich bescheinigen sollte, daß er strafrechtlich nicht verantwortlich sei, weil die Tat von einem Alter ego begangen wurde. In einem anderen Fall ging es um eine Hausfrau, die man wegen Kindesmißhandlung festgenommen hatte. Sie behauptete, daß irgend jemand oder irgend etwas in sie gefahren wäre und sie dazu getrieben hätte. Es gab noch ein paar mehr Fälle dieser Art, mit den unterschiedlichsten Ausflüchten, aber immer versuchten die Betroffenen, irgend etwas zu entgehen. Mit anderen Worten, sie haben es vorgetäuscht.« »Sie scheinen da ja eine sehr entschiedene Einstellung zu haben, Doktor.« »Jawohl. Und ich weiß, daß ich recht habe.« »Sie wissen, daß Sie recht haben?« sagte David. »Nun ja, ich meine -« »- daß alle anderen sich irren? Sämtliche Psychiater, die davon überzeugt sind, daß es MPS gibt, haben also keine Ahnung?« »Das habe ich nicht gemeint -« »Und Sie sind der einzige, der recht hat. Vielen Dank, Doktor. Das ist alles.« Dr. Simon Raleigh trat in den Zeugenstand. Er war ein kleiner, kahlköpfiger Mittsechziger. Brennan begann: »Danke, daß Sie gekommen sind, Doktor. Sie können auf eine lange und erfolgreiche Laufbahn zurückblicken. Sie sind Psychiater, Sie sind Professor, Sie haben eine Ausbildung an -« David stand auf. »Die Verteidigung bezweifelt nicht, daß der Zeuge eine ausgezeichnete berufliche Laufbahn vorweisen kann.« »Besten Dank.« Brennan wandte sich wieder an den Zeugen. »Dr. Raleigh, was bedeutet der Begriff iatrogen?« »Das heißt, daß ein vorhandenes Leiden durch medizinische Behandlung oder Psychotherapie verschlimmert wird.« »Würden Sie das etwas näher erläutern, Doktor?« »Nun ja, in der Psychotherapie kommt es häufig vor, daß der Therapeut den Patienten durch seine Fragestellung oder seine Haltung beeinflußt. Er könnte dem Patienten das Gefühl vermitteln, daß er den Erwartungen des Therapeuten entsprechen muß.« »Inwieweit trifft das bei MPS zu?« »Wenn der Psychiater den Patienten gezielt nach anderen Persönlichkeiten befragt, könnte es sein, daß der Patient etwas erfindet, um den Therapeuten zufriedenzustellen. Das ist ein äußerst heikles Gebiet. Amytal und Hypnose können unter Umständen dazu führen, daß bei Patienten, die ansonsten normal sind, vermeintliche MPS-Symptome auftreten.« »Damit wollen Sie also sagen, daß der Psychiater den Zustand des Patienten unter Hypnose dahingehend beeinflussen kann, daß dieser sich etwas einbildet, was gar nicht vorhanden ist?« »Das ist schon vorgekommen, ja.« »Ich danke Ihnen, Doktor.« Er blickte zu David. »Ihr Zeuge.« »Vielen Dank.« David erhob sich und ging zum Zeugenstand. »Ihre Referenzen sind sehr beeindruckend«, sagte er freundlich. »Sie sind nicht nur Psychiater, sondern unterrichten auch an der Universität.« »Ja.« »Wie lange lehren Sie schon, Doktor?« »Seit über fünfzehn Jahren.« »Wunderbar. Und wie regeln Sie das zeitlich? Ich meine damit, lehren Sie einen halben Tag lang und praktizieren die andere Hälfte als Psychiater?« »Nein, ich lehre ausschließlich.« »Oh? Wie lange ist es her, daß Sie praktiziert haben?« »Etwa acht Jahre. Aber ich halte mich ständig anhand der neuesten Fachliteratur auf dem laufenden.« »Ich muß schon sagen, ich finde das bewundernswert. Sie halten sich also anhand Ihrer Lektüre auf dem laufenden. Wissen Sie dadurch so gut über den Begriff iatrogen Bescheid?« »Ja.« »Aber früher hatten Sie mit vielen Patienten zu tun, die behaupteten, unter MPS zu leiden?« »Nun, nein ...« »Nicht so viele? Würden Sie sagen, daß Ihnen in der Zeit, in der Sie als Psychiater praktiziert haben, etwa ein Dutzend solcher Fälle untergekommen sind?« »Nein.« »Halb so viele?« Dr. Raleigh schüttelte den Kopf. »Vier?« Keine Antwort. »Doktor, hatten Sie jemals einen Patienten, der sich wegen MPS an Sie gewandt hat?« »Nun ja, das ist schwer zu -« »Ja oder nein, Doktor?« »Nein.« »Dann haben Sie sich also alles, was Sie über MPS wissen, angelesen? Keine weiteren Fragen.« Die Staatsanwaltschaft rief weitere sechs Zeugen auf, deren Aussagen in die gleiche Richtung gingen. Mickey Brennan hatte neun renommierte Psychiater aus dem ganzen Land aufgeboten, die sich alle darin einig waren, daß es keine multiple Persönlichkeitsstörung gab. Die Beweisaufnahme seitens der Staatsanwaltschaft neigte sich dem Ende zu. Als der letzte Zeuge der Anklage entlassen war, wandte sich Richterin Williams an Brennan. »Wollen Sie noch weitere Zeugen aufrufen, Mr. Brennan?« »Nein, Euer Ehren. Aber ich würde den Geschworenen gern die Polizeifotos von den Tatorten und den Opfern der -« »Auf keinen Fall«, versetzte David wütend. Richterin Williams wandte sich an ihn. »Was haben Sie gesagt, Mr. Singer?« »Ich habe gesagt -« David nahm sich zusammen. »Einspruch. Die Staatsanwaltschaft versucht die Geschworenen unnötig aufzubringen, indem -« »Einspruch abgelehnt. Der entsprechende Antrag wurde vor Beginn der Hauptverhandlung gestellt.« Richterin Williams wandte sich an Brennan. »Sie dürfen die Fotos vorlegen.« Aufgebracht nahm David Platz. Brennan kehrte zu seinem Tisch zurück, ergriff ein gutes Dutzend Fotos und reichte sie den Geschworenen. »Das ist kein angenehmer Anblick, meine Damen und Herren, aber genau darum geht es in diesem Prozeß. Nicht um Behauptungen, Theorien oder Ausflüchte. Auch nicht um rätselhafte Alter egos, die andere Leute umbringen. Es geht um drei Menschen, die grausam und brutal ermordet wurden. Unsere Gesetzgebung besagt, daß jemand für diese Morde büßen muß. Und nun liegt es an Ihnen allen, dafür zu sorgen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Brennan sah die entsetzten Mienen der Geschworenen, als sie sich die Fotos anschauten. Er wandte sich an Richterin Williams. »Von Seiten der Staatsanwaltschaft ist die Beweisaufnahme abgeschlossen.« Richterin Williams blickte auf ihre Uhr. »Vier Uhr nachmittags. Das Gericht vertagt sich für heute und tritt am Montag morgen um zehn Uhr wieder zusammen. Die Sitzung ist geschlossen.« 19 Ashley Patterson stand unter dem Galgen und sollte gehängt werden, als ein Polizist angestürmt kam und rief: »Moment mal. Sie soll doch auf dem elektrischen Stuhl sterben.« Dann ein Szenenwechsel. Diesmal saß sie auf dem elektrischen Stuhl, und ein Wachmann wollte gerade den Hebel betätigen, als Richterin Williams laut schreiend hinzukam. »Nein. Wir wollen Sie doch mit der Todesspritze ins Jenseits befördern.« David erwachte und setzte sich im Bett auf. Er hatte Herzklopfen, und sein Schlafanzug war schweißgetränkt. Als er aufstehen wollte, wurde ihm mit einemmal schwindelig. Er hatte hämmernde Kopfschmerzen und kam sich vor, als ob er Fieber hätte. Er legte die Hand an die Stirn. Sie war heiß. »O nein«, stöhnte er. »Nicht heute. Nicht jetzt.« Es war der Tag, auf den er gewartet hatte, der Tag, an dem die Verteidigung ihre Argumente ins Feld führen wollte. David torkelte ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Er warf einen Blick in den Spiegel. »Du siehst völlig fertig aus.« Richterin Williams hatte die Sitzung bereits eröffnet, als David im Gerichtssaal eintraf. Alle warteten nur auf ihn. »Ich bitte die Verspätung zu entschuldigen«, sagte David mit heiserer Stimme. »Darf ich vortreten?« »Ja.« David begab sich zum Richterpodium. Mickey Brennan folgte ihm auf dem Fuß. »Euer Ehren«, sagte David, »ich möchte um einen eintägigen Aufschub bitten.« »Mit welcher Begründung?« »Ich - ich fühle mich nicht besonders wohl, Euer Ehren. Aber ich bin davon überzeugt, daß mir ein Arzt irgendwas verschreiben kann, damit ich morgen wieder gesund bin.« »Wieso überlassen Sie das Feld nicht Ihrem Assistenten?« David schaute sie überrascht an. »Ich habe keinen Assistenten.« »Und warum nicht?« »Weil ...« Richterin Williams beugte sich vor. »So etwas habe ich in einem Mordprozeß noch nie erlebt. Sie wollen wohl sämtlichen Ruhm für sich allein einheimsen, was? Nun denn, vor diesem Gericht werden Sie keine Gelegenheit dazu bekommen. Und ich will Ihnen noch etwas sagen. Sie sind vermutlich der Meinung, daß ich mich für befangen erklären sollte, weil ich Ihre Verteidigungsstrategie für Humbug halte, aber den Gefallen werde ich Ihnen nicht tun. Wir werden die Geschworenen darüber entscheiden lassen, ob sie Ihre Mandantin für schuldig oder unschuldig halten. Sonst noch was, Mr. Singer?« David stand da und schaute sie an, während sich der ganze Saal ringsum drehte. Er wollte ihr den Marsch blasen. Er wollte auf die Knie sinken und sie um Fairneß bitten. Er wollte nach Hause gehen und sich ins Bett legen. »Nein. Vielen Dank, Euer Ehren.« Richterin Williams nickte. »Mr. Singer, Sie sind dran. Und sehen Sie zu, daß Sie dem Gericht nicht noch mehr Zeit stehlen.« David ging zur Geschworenenbank und versuchte seine Kopfschmerzen zu vergessen. Langsam ergriff er das Wort. »Meine Damen und Herren, Sie haben vernommen, wie die Anklage ein Krankheitsbild, das man allgemein als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Ich bin davon überzeugt, daß Mr. Brennan dabei nichts Übles im Sinn hatte. Seine Bemerkungen zeugen nur von Unwissenheit. Offensichtlich hat er keine Ahnung von multiplen Persönlichkeitsstörungen, und das gleiche gilt auch für die Zeugen, die er uns vorgeführt hat. Ich indessen werde Ihnen ein paar Zeugen präsentieren, die sich damit auskennen. Angesehene Psychiater, die allesamt Erfahrung auf diesem Gebiet haben. Wenn Sie deren Stellungnahme hören, davon bin ich überzeugt, werden Sie die Ausführungen der Anklage in einem anderen Licht sehen. Mr. Brennan hat die Schuld angesprochen, die meine Mandantin mit diesen drei schrecklichen Straftaten auf sich geladen habe. Womit wir bei einem wichtigen Punkt angelangt wären: der Schuldfrage. Um jemandem einen vorsätzlichen Mord nachzuweisen, genügt es nicht, ihm die Tat an sich nachzuweisen, man muß auch beweisen, daß sie in schuldhafter Absicht begangen wurde. Ich werde Ihnen beweisen, daß meine Mandantin keinerlei schuldhafte Absicht zeigte, weil sie zu dem Zeitpunkt, da diese Straftaten verübt wurden, nicht Herrin ihrer selbst war. Sie nahm nicht einmal wahr, was da vor sich ging. Einige hochangesehene Sachverständige werden bestätigen, daß Ashley Patterson an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet und daß wir es mit drei Persönlichkeiten zu tun haben, darunter eine >sehr dominantec.« David schaute die Geschworenen an, doch deren Gesichter tanzten hin und her. Er kniff kurz die Augen zusammen. »Die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft hat die multiple Persönlichkeitsstörung als psychische Erkrankung anerkannt. Desgleichen zahlreiche berühmte Psychiater in aller Welt, die davon betroffene Patienten behandelt haben. Eine von Ashley Pattersons Persönlichkeiten hat diese Morde begangen, aber es handelt sich um ein Alter ego, um eine andere Persönlichkeit, auf die sie keinerlei Einfluß hat.« Seine Stimme klang allmählich wieder etwas kräftiger. »Damit Sie sich über das Problem ganz klarwerden, denken Sie bitte daran, daß von Rechts wegen niemand bestraft werden darf, der unschuldig ist. Wir stehen also vor einem Paradoxon. Stellen Sie sich siamesische Zwillinge vor, die wegen Mordes vor Gericht stehen. Von Rechts wegen kann der Schuldige nicht bestraft werden, weil auch der unschuldige Teil davon betroffen wäre.« Die Geschworenen hörten genau zu. David deutete mit dem Kopf auf Ashley. »Und in diesem Fall haben wir es nicht nur mit zwei, sondern mit drei Persönlichkeiten zu tun.« Er wandte sich an Richterin Williams. »Ich möchte meinen ersten Zeugen aufrufen. Dr. Joel Ashanti.« »Dr. Ashanti, wo praktizieren Sie?« »Am Madison Hospital in New York.« »Sind Sie auf meine Bitte hin hergekommen?« »Nein, ich habe aus der Zeitung von dem Fall erfahren und wollte mich dazu äußern. Ich habe mit Patienten gearbeitet, die unter multipler Persönlichkeitsstörung litten, und wollte helfen. Eine MPS kommt weitaus häufiger vor, als man gemeinhin annimmt, und ich wollte gewisse Mißverständnisse ausräumen, die es diesbezüglich gibt.« »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Doktor. Kommt es bei derartigen Fällen häufiger vor, daß ein Patient gleich über zwei weitere Persönlichkeiten verfügt?« »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß MPS-Patienten meist weitaus mehr andere Persönlichkeiten haben, bis zu einhundert.« Eleanor Tucker flüsterte Mickey Brennan etwas zu. Brennan lächelte. »Seit wann beschäftigen Sie sich mit multipler Persönlichkeitsstörung, Dr. Ashanti?« »Seit fünfzehn Jahren.« »Und daß es bei MPS-Patienten eine Persönlichkeit gibt, die alle anderen dominiert - ist das auch typisch?« »Ja.« Einige Geschworene machten sich Notizen. »Und der Betroffene, derjenige, der an dieser Störung leidet - ist er sich der anderen Persönlichkeiten bewußt?« »Das ist ganz unterschiedlich. Mitunter wissen die anderen Persönlichkeiten voneinander, manchmal kennen sich auch nur ein paar wenige. Aber der betroffene Patient ist sich ihrer für gewöhnlich nicht bewußt, jedenfalls nicht ohne entsprechende Behandlung.« »Das ist ja hochinteressant. Ist eine MPS heilbar?« »Häufig ja. Allerdings bedarf es dazu einer langen, intensiven psychiatrischen Behandlung. Es kann mitunter bis zu sechs, sieben Jahre in Anspruch nehmen.« »Haben Sie schon einmal MPS-Patienten geheilt?« »O ja.« »Vielen Dank, Doktor.« David musterte einen Moment lang die Geschworenen. Aufmerksam, aber noch nicht überzeugt, dachte er. Er warf einen Blick zu Mickey Brennan. »Ihr Zeuge.« Brennan erhob sich und ging zum Zeugenstand. »Dr. Ashan-ti, Sie haben ausgesagt, daß Sie eigens von New York hierher geflogen sind, weil Sie helfen wollten.« »Ganz recht.« »Ihre Anwesenheit hat also nichts damit zu tun, daß es sich um einen aufsehenerregenden Fall handelt, der Ihnen gewisse Publicity -?« David sprang auf. »Einspruch. Das ist eine Unterstellung.« »Abgelehnt.« »Ich habe erklärt, weshalb ich hier bin«, versetzte Dr. Ashan-ti ungerührt. »Richtig. Wie viele Patienten haben Sie, seit Sie als Psychiater praktizieren, aufgrund seelischer Störungen behandelt?« »Nun, etwa zweihundert.« »Und wie viele davon litten unter multipler Persönlichkeitsstörung?« »Ein Dutzend vielleicht .« Brennan tat verwundert, als er ihn anschaute. »Von rund zweihundert Patienten?« »Nun ja. Wissen Sie -« »Mir will nicht recht einleuchten, Dr. Ashanti, mit welchem Recht Sie sich als Sachverständiger bezeichnen, wenn Sie nur mit ein paar wenigen Fällen zu tun hatten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns einen handfesten Beweis dafür vorlegen könnten, daß es so etwas wie multiple Persönlichkeitsstörung tatsächlich gibt.« »Wenn Sie von Beweisen sprechen -« »Wir befinden uns hier vor Gericht, Doktor. Die Geschworenen können ihre Entscheidungen nicht aufgrund grauer Theorien und Behauptungen fällen. Apropos Behauptungen. Könnte es nicht sein, daß die Angeklagte die Männer, die sie ermordete, schlicht und einfach gehaßt hat, und hinterher auf die Idee verfiel, ein Alter ego vorzuschieben, damit man sie -?« David sprang auf. »Einspruch! Das ist sowohl eine Unterstellung als auch eine Suggestivfrage.« »Abgelehnt.« »Euer Ehren -« »Setzen Sie sich, Mr. Singer.« David warf Richterin Williams einen wütenden Blick zu und nahm wieder Platz. »Sie sagen also, Doktor, daß es keinerlei Beweise dafür gibt, ob jemand an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet oder nicht?« »Äh, nein. Aber -« Brennan nickte. »Mehr wollte ich gar nicht wissen.« Dr. Royce Salem trat in den Zeugenstand. »Dr. Salem«, sagte David. »Sie haben Ashley Patterson untersucht?« »Jawohl.« »Und was haben Sie dabei festgestellt?« »Daß Miss Patterson eindeutig an MPS leidet. Sie hat zwei andere Persönlichkeiten, die sich Toni Prescott und Alette Peters nennen.« »Hat sie Einfluß auf die beiden?« »Nein. Wenn sie die Oberhand erringen, versinkt sie in eine Art Amnesie.« »Würden Sie das bitte genauer erklären, Doktor Salem?« »Von einer Amnesie spricht man, wenn sich die Betroffene weder bewußt ist, wer sie ist, noch, was sie tut. Das kann zwanzig Minuten andauern, mitunter aber auch mehrere Wochen lang.« »Und ist die betroffene Person in diesem Zeitraum Ihrer Meinung nach für ihr Verhalten verantwortlich?« »Nein.« »Vielen Dank, Doktor.« David wandte sich an Brennan. »Ihr Zeuge.« »Dr. Salem«, hob Brennan an. »Sie sind in beratender Funktion für etliche Kliniken tätig und halten auf der ganzen Welt Vorträge?« »Ja, Sir.« »Ihre Kollegen, nehme ich an, sind begabte und tüchtige Psychiater?« »Ja, das würde ich meinen.« »Und sie sind, was diese multiple Persönlichkeitsstörung angeht, alle der gleichen Ansicht?« »Nein.« »Was meinen Sie damit?« »Einige sind anderer Ansicht.« »Meinen Sie damit, daß sie nicht an die Existenz dieser Krankheit glauben?« »Ja.« »Aber Sie haben recht, und die anderen irren sich?« »Ich habe betroffene Patienten behandelt, und ich weiß, daß es so etwas gibt. Als -« »Ich möchte Sie etwas fragen. Wenn es so etwas wie eine multiple Persönlichkeitsstörung gäbe, würde dann eines der Alter egos dem Betroffenen ständig diktieren, was er tun soll? Würde diese andere Persönlichkeit befehlen: >Morde<, und der Betroffene tut es?« »Das kommt darauf an. Die Einflußnahme, die andere Persönlichkeiten ausüben, kann durchaus unterschiedlich ausfallen.« »Dann könnte es also sein, daß der Betroffene noch Herr der Lage ist?« »Natürlich, manchmal.« »Meistens?« »Nein.« »Doktor, wodurch läßt sich beweisen, daß es eine MPS gibt?« »Ich habe mit eigenen Augen erlebt, wie sich Patienten unter Hypnose physisch völlig veränderten, und ich weiß -« »Und darauf beruht Ihre Überzeugung?« »Ja.« »Dr. Salem, wenn ich Sie in einem warmen Zimmer hypnotisieren und Ihnen einreden würde, daß Sie am Nordpol sind und sich durch einen Schneesturm kämpfen, würde dann Ihre Körpertemperatur sinken?« »Nun, ja, aber -« »Das ist alles.« David ging in den Zeugenstand. »Dr. Salem, besteht Ihrer Meinung nach auch nur der geringste Zweifel daran, daß die anderen Persönlichkeiten in Ashley Patterson existieren?« »Nein. Und sie sind eindeutig in der Lage, sich durchzusetzen und sie zu dominieren.« »Und sie wäre sich dessen nicht bewußt?« »Sie wäre sich dessen nicht bewußt.« »Vielen Dank.« »Ich möchte Shane Miller in den Zeugenstand rufen.« David wartete, bis er vereidigt war. »Was sind Sie von Beruf, Mr. Miller?« »Ich bin Abteilungsleiter bei der Global Computer Graphics Corporation.« »Wie lange sind Sie dort schon tätig?« »Etwa sieben Jahre.« »Und Ashley Patterson war ebenfalls dort angestellt?« »Ja.« »Und sie war Ihnen unterstellt?« »So ist es.« »Sie haben sie also recht gut gekannt?« »Das stimmt.« »Mr. Miller, Sie haben die Aussagen der Sachverständigen gehört, wonach die Symptome einer multiplen Persönlichkeitsstörung auf Paranoia, nervliche Überreizung oder Erschöpfung zurückzuführen seien. Haben Sie bei Miss Patterson jemals derartige Symptome bemerkt?« »Na ja, ich -« »Hat Ihnen Miss Patterson nicht mitgeteilt, daß sie das Gefühl habe, jemand stelle ihr nach?« »Doch, das hat sie.« »Und daß sie keine Ahnung hätte, wer es sei und warum jemand so etwas tun sollte?« »Das stimmt.« »Hat sie nicht einmal gesagt, daß jemand ihren Computer manipuliert und ihr eine Todesdrohung übermittelt hat?« »Ja.« »Und ist es schließlich so schlimm geworden, daß Sie sie zu dem Psychologen geschickt haben, der in Ihrer Firma beschäftigt ist, einem gewissen Dr. Speakman?« »Ja.« »Dann wies Ashley Patterson also die gewissen Symptome auf, die ich vorhin angesprochen habe?« »Das stimmt.« »Vielen Dank, Mr. Miller.« David wandte sich an Mickey Brennan. »Ihr Zeuge.« »Wie viele Mitarbeiter sind Ihnen unmittelbar unterstellt, Mr. Miller?« »Dreißig.« »Und Ashley Patterson ist die einzige, die Sie unter diesen dreißig Mitarbeitern jemals verstört erlebt haben?« »Na ja, nein .« »Aha?« »Irgendwann verliert jeder mal die Fassung.« »Meinen Sie damit, daß auch andere Mitarbeiter den Betriebspsychologen aufsuchen mußten?« »Oh, na klar. Die halten ihn ziemlich auf Trab.« Brennan schien beeindruckt. »Wirklich?« »Ja. Viele von ihnen haben Probleme. He, das sind alles nur Menschen.« »Keine weiteren Fragen.« »Die Verteidigung ist wieder am Zuge.« David trat neben den Zeugenstand. »Mr. Miller, Sie haben gesagt, daß einige Ihrer Untergebenen Probleme hätten. Um welche Probleme handelt es sich dabei?« »Na ja, die einen haben sich mit ihrem Freund oder ihrem Mann gestritten .« »Ja?« »Oder sie haben sich finanziell übernommen .« »Ja?« »Oder ihre Kinder haben sie genervt .« »Es ging also, mit anderen Worten, um ganz gewöhnliche Alltagsnöte, gegen die keiner von uns gefeit ist?« »Ja.« »Aber niemand suchte Dr. Speakman auf, weil er glaubte, jemand stellte ihm nach oder drohte ihm mit dem Tod?« »Nein.« »Vielen Dank.« Danach zog sich das Gericht zur Mittagspause zurück. David war bedrückt, als er in seinen Wagen stieg und durch den Park fuhr. Der Prozeß lief nicht gut. Die Sachverständigen konnten sich nicht entscheiden, ob es eine MPS gab oder nicht. Wenn die sich schon nicht einig sind, dachte David, wie soll ich dann die Geschworenen überzeugen? Ich darf nicht zulassen, daß Ashley ein Leid geschieht. Er näherte sich Harold’s Cafe, einem unweit des Gerichtsgebäudes gelegenen Restaurant. Er parkte seinen Wagen und ging hinein. Die Bedienung lächelte ihn an. »Guten Tag, Mr. Singer.« Er war berühmt. Berüchtigt? »Hier lang, bitte.« Er folgte ihr zu einer Sitznische und nahm Platz. Die Bedienung reichte ihm die Speisekarte, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und entfernte sich mit aufreizendem Hüftschwung. Der Lohn des Ruhms, dachte David spöttisch. Eigentlich war er gar nicht hungrig, aber er konnte Sandras Stimme förmlich hören: »Du mußt etwas essen, damit du bei Kräften bleibst.« In der Nische nebenan saßen zwei Männer und zwei Frauen. »Die ist viel schlimmer als Lizzie Borden«, sagte einer der Männer. »Borden hat nur zwei Menschen umgebracht.« »Und sie hat sie nicht kastriert«, fügte der andere hinzu. »Was meinst du, was sie kriegt?« »Soll das ein Witz sein? Sie wird zum Tode verurteilt.« »Zu schade, daß man die Blutjungfer nicht dreimal zum Tode verurteilen kann.« Die Stimme des Volkes, dachte David überrascht. Er hatte das dumpfe Gefühl, daß er an den anderen Tischen mehr oder weniger das gleiche zu hören bekäme. Brennan hatte sie als mordgierige Bestie hingestellt, sie zum Monster abgestempelt. Er hatte Jesse Quillers Worte im Ohr. Und mit diesem Eindruck werden sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen, wenn du sie nicht aufrufst und ihnen das Gegenteil beweist. Ich muß das Risiko eingehen, dachte David. Die Geschworenen müssen sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß Ashley die Wahrheit sagt. Die Bedienung kam an seinen Tisch. »Sind Sie soweit, Mr. Singer?« »Ich hab’s mir anders überlegt«, erwiderte David. »Ich bin nicht hungrig.« Er spürte die finsteren Blicke, die man ihm hinterherwarf, als er aufstand und das Restaurant verließ. Hoffentlich ist keiner bewaffnet, dachte David. 20 David kehrte zum Gerichtsgebäude zurück und suchte Ashley in ihrer Zelle auf. Sie saß auf der kleinen Pritsche und starrte zu Boden. »Ashley.« Sie hob den Kopf und blickte voller Verzweiflung auf. David setzte sich zu ihr. »Wir müssen etwas bereden.« Sie betrachtete ihn schweigend. »Man hat allerlei schreckliche Sachen über Sie gesagt - und kein Wort davon ist wahr. Aber die Geschworenen wissen das nicht. Die kennen Sie nicht. Wir müssen ihnen zeigen, wie Sie in Wirklichkeit sind.« Ashley sah ihn an und fragte matt: »Wie bin ich denn in Wirklichkeit?« »Sie sind ein anständiger Mensch, der an einer Krankheit leidet. Die Geschworenen werden das begreifen.« »Was soll ich dazu tun?« »Ich möchte, daß Sie in den Zeugenstand treten und aussagen.« Sie starrte ihn erschrocken an. »Ich - das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann doch gar nichts dazu sagen.« »Überlassen Sie das mir. Sie brauchen nur meine Fragen zu beantworten.« Eine Wärterin kam. »Das Gericht tritt wieder zusammen.« David stand auf und drückte Ashley die Hand. »Es wird schon klappen. Warten Sie’s ab.« »Alles aufstehen. Das Gericht tritt zusammen. Unter dem Vorsitz der ehrenwerten Richterin Williams wird über die Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ashley Patterson verhandelt.« Richterin Williams nahm Platz. »Darf ich vortreten?« sagte David. »Sie dürfen.« Mickey Brennan begab sich ebenfalls zum Richterpodium. »Worum geht es, Mr. Singer?« »Ich möchte eine Zeugin aufrufen, die ich bislang nicht benannt habe.« »Für die Benennung neuer Zeugen ist es reichlich spät«, versetzte Brennan. »Ich möchte Ashley Patterson in den Zeugenstand rufen.« »Ich weiß nicht -«, begann Richterin Williams. »Die Staatsanwaltschaft hat keine Einwände, Euer Ehren«, warf Mickey Brennan rasch ein. Richterin Williams schaute die beiden Anwälte ein. »Na schön. Sie dürfen Ihre Zeugin aufrufen, Mr. Singer.« »Vielen Dank, Euer Ehren.« Er ging zu Ashley und bot ihr die Hand. »Ashley .« Sie saß da, von panischer Angst ergriffen. »Es muß sein.« Das Herz schlug ihr bis zum Halse, als sie aufstand und sich langsam zum Zeugenstand begab. »Ich habe insgeheim darum gebetet, daß er sie aufruft«, flüsterte Mickey Brennan Eleanor Tucker zu. Eleanor nickte. »Damit ist es gelaufen.« Ashley Patterson wurde vom Gerichtsdiener vereidigt. »Schwören Sie feierlich, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?« »Ich schwöre es.« Sie brachte nur ein Flüstern zustande. Dann nahm Ashley auf dem Zeugenstuhl Platz. David ging zu ihr. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist«, sagte er mit sanfter Stimme. »Man hat Sie schrecklicher Straftaten bezichtigt, die Sie nicht begangen haben. Mir geht es lediglich darum, daß die Geschworenen die Wahrheit erfahren. Können Sie sich auch nur im geringsten daran erinnern, eines dieser Verbrechen begangen zu haben?« Ashley schüttelte den Kopf. »Nein.« David warf einen kurzen Blick zu den Geschworenen und fuhr dann fort. »Haben Sie Dennis Tibble gekannt?« »Ja. Wir haben beide bei der Global Computer Graphics Corporation gearbeitet.« »Hatten Sie irgendeinen Grund, Dennis Tibble zu töten?« »Nein.« Sie brachte kaum ein Wort heraus. »Ich - ich bin mit ihm nach Hause gegangen, weil er mich um einen Rat gebeten hatte. Das war das letztemal, daß ich ihn gesehen habe.« »Haben Sie Richard Melton gekannt?« »Nein ...« »Ein Künstler. Er wurde in San Francisco ermordet. Die Polizei fand Ihre Fingerabdrücke am Tatort und stellte Spuren sicher, die laut DNS-Analyse von Ihnen stammen.« Ashley schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich - ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe ihn nicht gekannt!« »Kannten Sie Deputy Sam Blake?« »Ja. Er wollte mir beistehen. Ich habe ihn nicht umgebracht!« »Sind Sie sich bewußt, daß in Ihnen zwei weitere Persönlichkeiten oder Alter egos stecken, Ashley?« »Ja.« Sie klang abgespannt. »Wann haben Sie davon erfahren?« »Kurz vor dem Prozeß. Dr. Salem hat es mir mitgeteilt. Ich wollte es nicht glauben. Ich - ich mag es immer noch nicht glauben. Es - es ist so gräßlich.« »Sie hatten vorher keine Ahnung von diesen anderen Persönlichkeiten?« »Nein.« »Haben Sie schon einmal von einer Toni Prescott oder Alette Peters gehört?« »Nein!« »Glauben Sie jetzt, daß die beiden in Ihnen stecken?« »Ja ... Ich muß es ja glauben. Sie müssen all die - diese schrecklichen Sachen begangen haben .« »Sie können sich also nicht daran erinnern, jemals einen Richard Melton kennengelernt zu haben, und Sie hatten nicht das geringste Motiv, Dennis Tibble zu ermorden, geschweige denn Deputy Sam Blake, der nur zu Ihrem Schutz bei Ihnen geblieben war?« »So ist es.« Sie ließ den Blick über den vollbesetzten Zuschauerraum schweifen und spürte, wie die Panik zurückkehrte. »Eine letzte Frage«, sagte David. »Sind Sie jemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?« »Noch nie.« David ergriff ihre Hand. »Das war’s vorerst.« Er wandte sich an Mickey Brennan. »Ihre Zeugin.« Brennan strahlte über das ganze Gesicht, als er sich erhob. »Nun, Miss Patterson, endlich können wir uns mit Ihnen allen unterhalten. Hatten Sie jemals mit Dennis Tibble Geschlechtsverkehr?« »Nein.« »Sind Sie mit Richard Melton geschlechtlich verkehrt?« »Nein.« »Hatten Sie jemals Geschlechtsverkehr mit Deputy Sam Blake?« »Nein.« »Höchst interessant.« Brennan warf den Geschworenen einen kurzen Blick zu. »Man hat nämlich an den Leichen aller drei Männer Spuren von Vaginalsekret sichergestellt. Und aufgrund der DNS-Analyse kann das nur von Ihnen stammen.« »Darüber ... darüber weiß ich nichts.« »Vielleicht will man Ihnen etwas anhängen. Vielleicht hat sich ja irgendein Feind Ihrer Körpersäfte bemächtigt und -« »Einspruch! Das ist reine Polemik.« »Abgelehnt.« »- und sie auf die drei verstümmelten Leichen praktiziert. Haben Sie irgendwelche Feinde, denen Sie so etwas zutrauen würden?« »Ich ... weiß nicht.« »Das FBI hat die Fingerabdrücke überprüft, die man an sämtlichen Tatorten sichergestellt hat. Und es wird Sie sicher überraschen, wenn -« »Einspruch.« »Stattgegeben. Hüten Sie sich, Mr. Brennan.« »Ja, Euer Ehren.« Zufrieden nahm David wieder Platz. Ashley war schier außer sich. »Die anderen müssen -« »Die Fingerabdrücke, die man an den Tatorten sichergestellt hat, stammen von Ihnen, von niemandem sonst.« Ashley saß schweigend da. Brennan ging zum Tisch der Staatsanwaltschaft, ergriff ein in Cellophan gewickeltes Schlachtermesser und hielt es hoch. »Erkennen Sie das?« »Es - es könnte ... eins von -« »Eins von Ihren Messern sein? Ganz recht. Ich habe es bereits als Beweismittel vorgelegt. Die Blutflecken, die daran haften, stammen von Deputy Sam Blake. Außerdem befinden sich Ihre Fingerabdrücke an der Mordwaffe.« Ashley schüttelte nur immer wieder verständnislos den Kopf. »Ich habe noch nie einen Fall erlebt, bei dem so eindeutig feststand, daß es sich um kaltblütigen Mord handelte, und noch nie eine so schwache Verteidigung. Sich hinter zwei nicht vorhandenen Persönlichkeiten zu verschanzen, die auf reiner Einbildung beruhen, ist der Gipfel -« David war bereits aufgesprungen. »Einspruch.« »Stattgegeben. Ich habe Sie gewarnt, Mr. Brennan.« »Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren.« Brennan fuhr fort: »Ich glaube, die Geschworenen würden gern die anderen Persönlichkeiten kennenlernen, von denen ständig die Rede ist. Sie sind doch Ashley Patterson, stimmt’s?« »Ja .« »Na schön. Dann möchte ich jetzt mit Toni Prescott sprechen.« »Ich . das geht nicht .« Brennan schaute sie überrascht an. »Das geht nicht? Wirklich nicht? Nun denn, was ist mit Alette Peters?« Ashley schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich . ich habe darauf keinen Einfluß.« »Miss Patterson, ich versuche Ihnen doch nur zu helfen«, sagte Brennan. »Ich möchte den Geschworenen klarmachen, daß es Ihre anderen Persönlichkeiten waren, die drei unschuldige Männer ermordet und verstümmelt haben. Zeigen Sie uns, daß es so ist!« »Ich ... ich kann es nicht.« Sie schluchzte laut auf. »Sie können es nicht, weil es sie nicht gibt. Sie verschanzen sich hinter Phantasiegebilden. Sie und niemand anders sitzt hier im Zeugenstand, und nur Sie sind verantwortlich für diese Straftaten. Diese anderen Persönlichkeiten gibt es nicht, Sie hingegen sehr wohl, und ich will Ihnen mal sagen, was es sonst noch gibt - eindeutige, unwiderlegbare Beweise dafür, daß Sie diese drei Männer kaltblütig ermordet und entmannt haben.« Er wandte sich an Richterin Williams. »Euer Ehren, die Staatsanwaltschaft hat nichts mehr vorzubringen.« David wandte sich an die Geschworenen. Sie starrten allesamt auf Ashley, und in ihren Mienen spiegelte sich Abscheu. Richterin Williams wandte sich an ihn. »Mr. Singer?« David stand auf. »Euer Ehren, ich bitte um die Erlaubnis, die Angeklagte hypnotisieren zu lassen, damit -« »Mr. Singer«, versetzte Richterin Williams unwirsch, »ich habe Sie darauf hingewiesen, daß ich kein Affentheater dulde. In meinem Gerichtssaal wird niemand hypnotisiert. Die Antwort lautet nein.« »Sie müssen es zulassen«, versetzte David wutentbrannt. »Sie haben keine Ahnung, wie wichtig -« »Das reicht, Mr. Singer.« Sie klang eiskalt. »Ich werde Sie ein weiteres Mal wegen Mißachtung des Gerichts belangen. Wollen Sie die Zeugin noch einmal befragen oder nicht?« David kochte innerlich vor Wut. »Ja, Euer Ehren.« Er begab sich zum Zeugenstand. »Ashley, Sie wissen doch, daß Sie unter Eid stehen?« »Ja.« Sie atmete tief durch und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen. »Und Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit gesagt?« »Ja.« »Wissen Sie, daß Sie geistig, seelisch und auch körperlich von zwei anderen Persönlichkeiten beherrscht werden?« »Ja.« »Von Toni und Alette?« »Ja.« »Sie haben diese schrecklichen Morde nicht begangen?« »Nein.« »Aber eine von den beiden ist es gewesen, ohne daß Sie etwas dafür können.« Eleanor Tucker warf Brennan einen fragenden Blick zu, doch der lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Der schaufelt sich sein eigenes Grab«, flüsterte er. »Helen« - David stockte und wurde kreidebleich, als er sich seines Ausrutschers bewußt wurde -, »ich meine, Ashley . ich möchte, daß Toni sich meldet.« Ashley schaute David an und schüttelte hilflos den Kopf. »Ich - ich kann nicht«, flüsterte sie. »Doch, Sie können es. Toni hört uns genau zu. Sie amüsiert sich, und warum auch nicht? Sie hat drei Morde begangen und ist trotz allem fein heraus.« Er hob die Stimme. »Sie sind sehr schlau, Toni. Kommen Sie heraus und stellen Sie sich. Niemand kann Ihnen etwas anhaben. Man kann Sie nicht bestrafen, weil Ashley unschuldig ist und man sie bestrafen müßte, um Sie zu treffen.« Aller Augen waren auf David gerichtet. Ashley saß da wie erstarrt. David trat neben sie. »Toni, Toni, hören Sie mich? Melden Sie sich endlich, Toni. Auf der Stelle!« Er wartete einen Moment lang. Nichts tat sich. Er hob die Stimme. »Toni! Alette! Kommen Sie raus. Wir wissen alle, daß Sie da drin sind.« Im Gerichtssaal war kein Laut zu vernehmen. David verlor die Selbstbeherrschung. »Kommt raus«, brüllte er. »Zeigt euch endlich . Verdammt noch mal! Los! Auf der Stelle!« Ashley brach in Tränen aus. »Treten Sie vor, Mr. Singer«, sagte Richterin Williams wutentbrannt. Langsam begab sich David zum Richterpodium. »Haben Sie Ihrer Zeugin nun genug zugesetzt, Mr. Singer? Ich werde der Anwaltskammer von Ihrem Verhalten berichten. Sie sind eine Schande für Ihren ganzen Berufsstand, und ich werde den Antrag stellen, daß man Ihnen die Zulassung entzieht.« David fiel dazu nichts mehr ein. »Wollen Sie weitere Zeugen aufrufen?« David schüttelte den Kopf. »Nein, Euer Ehren.« Es war vorbei. Er hatte verloren. Ashley würde sterben. »Die Beweisaufnahme von Seiten der Verteidigung ist abgeschlossen.« Joseph Kincaid saß in der hintersten Reihe des Zuschauerraums und verfolgte das Geschehen mit grimmiger Miene. Schließlich wandte er sich an Harvey Udell. »Werden Sie ihn los.« Kincaid stand auf und ging. Udell hielt David kurz an, als dieser den Gerichtssaal verlassen wollte. »David .« »Hallo, Harvey.« »Schade, daß die Sache so ausgegangen ist.« »Sie ist nicht -« »Mr. Kincaid bedauert die Entwicklung sehr, aber er ist der Meinung, daß es besser wäre, wenn Sie nicht in die Kanzlei zurückkehren würden. Viel Glück.« Sobald David den Gerichtssaal verließ, wurde er von Fernsehkameras und Reportern umringt, die lauthals auf ihn einschrien. »Haben Sie eine Erklärung abzugeben, Mr. Singer ...?« »Wir haben gehört, daß Richterin Williams dafür sorgen will, daß man Ihnen die Zulassung entzieht .« »Richterin Williams hat verfügt, daß Sie wegen Mißachtung des Gerichts in Gewahrsam genommen werden sollen. Glauben Sie, daß ...?« »Unsere Beobachter gehen davon aus, daß Sie den Prozeß verloren haben. Planen Sie, in die Berufung ...?« »Die Rechtsexperten unseres Senders sind der Meinung, daß man Ihre Mandantin zum Tode verurteilen wird .« »Haben Sie schon irgendwelche Zukunftspläne ...?« David stieg wortlos in seinen Wagen und fuhr weg. 21 Immer wieder spielte er die Szenen mit neuem Verlauf in Gedanken durch. Ich habe die Morgennachrichten gesehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie betroffen ich bin. Ja. Es war ein ganz schöner Schlag. Sie müssen mir helfen, David. Selbstverständlich. Ich bin zu allem bereit. Ich möchte, daß Sie Ashley vertreten. Das kann ich nicht. Ich bin kein Strafverteidiger. Aber ich kann Ihnen einen hervorragenden Anwalt empfehlen, Jesse Quiller. Das ist ausgezeichnet. Besten Dank, David ... Sie können sich wohl nicht gedulden, junger Mann? Sollten Sie nicht erst um fünf bei mir vorsprechen? Nun, ich habe gute Nachrichten für Sie. Wir ernennen Sie zum Gesellschafter. Sie wollten mich sprechen? Ja, Euer Ehren. Ich habe erfahren, daß der Prozeß derzeit im Internet das Gesprächsthema Nummer eins ist, und dort hat man die Angeklagte bereits abgeurteilt. Dadurch könnte der Verteidigung ein schwerer Nachteil entstehen. Daher stelle ich den Antrag, den Prozeß aufgrund eines Verfahrensfehlers einzustellen. Meiner Meinung nach ist dieser Antrag durchaus begründet, Mr. Singer. Ich werde ihm stattgeben . Lauter müßige Spekulationen, die nichts als einen bitteren Nachgeschmack hinterließen . Am nächsten Morgen trat das Gericht wieder zusammen. »Ist die Staatsanwaltschaft bereit, das Schlußplädoyer zu halten?« Brennan stand auf. »Ja, Euer Ehren.« Er ging zur Geschworenenbank und schaute die Geschworenen einen nach dem anderen an. »Sie sind hier und heute in der Lage, Geschichte zu schreiben. Wenn Sie glauben, daß die Angeklagte tatsächlich mehrere verschiedene Persönlichkeiten verkörpert und nicht verantwortlich für ihre Taten ist, für die schrecklichen Straftaten, die sie begangen hat, dann drücken Sie damit aus, daß jeder einen Mord begehen und ungeschoren davonkommen kann, indem er einfach behauptet, daß er es nicht gewesen sei, daß irgendein geheimnisvolles Alter ego es getan hat. Man kann also rauben, schänden, morden, aber ist man deswegen schuldig? Nein. >Ich war’s nicht. Mein Alter ego war es.< Ken und Joe oder Suzy, oder wie immer sie auch heißen mögen. Nun, ich halte Sie für zu intelligent, als daß Sie auf derlei Phantastereien hereinfallen. Die Tatsachen sind auf den Fotos festgehalten, die Sie gesehen haben. Diese Menschen wurden nicht von irgendwelchen Alter egos ermordet. Sie wurden vorsätzlich, grausam und mit Bedacht ermordet, und zwar von der Angeklagten, die dort am Tisch sitzt. Von Ashley Patterson. Meine Damen und Herren Geschworenen, was die Verteidigung in diesem Verfahren versucht hat, ist keineswegs neu. In der Strafsache Mann gegen Teller befand das Gericht, daß eine eindeutig festgestellte MPS nicht per se zu einem Freispruch führen müsse. In der Strafsache Vereinigte Staaten gegen Whirley behauptete eine Krankenschwester, die einen Säugling ermordet hatte, sie leide an MPS. Das Gericht sprach sie schuldig. Wissen Sie, ich habe beinahe Mitleid mit der Angeklagten. Immerhin muß die arme Frau mit all diesen Leuten leben. Sicherlich möchte keiner von uns, daß ein Haufen verrückter Fremder in ihm herumwuselt, nicht wahr? Fremde, die einfach hergehen und Männer ermorden und kastrieren. Ich jedenfalls hätte Angst.« Er drehte sich um und blickte zu Ashley. »Die Angeklagte wirkt aber nicht ängstlich, oder? Jedenfalls nicht so ängstlich, daß sie nicht in der Lage wäre, ein hübsches Kleid anzuziehen, sich ordentlich zu frisieren und zu schminken. Sie wirkt ganz und gar nicht ängstlich. Sie glaubt nämlich, daß Sie ihr die Geschichte abnehmen und sie davonkommen lassen. Niemand kann beweisen, ob es diese sogenannte multiple Persönlichkeitsstörung gibt, daher müssen wir uns selbst ein Urteil darüber bilden. Die Verteidigung behauptet, daß diese anderen Charaktere gelegentlich durchbrechen und das Kommando übernehmen. Wollen wir doch mal sehen - da wäre erstens Toni, geboren in England. Dann Alette, in Italien geboren. Sie sind ein und dieselbe Person. Sie sind nur in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeitpunkten geboren. Irritiert Sie das? Mich ganz bestimmt. Ich habe der Angeklagten die Gelegenheit geboten, uns ihre anderen Persönlichkeiten vorzuführen, aber sie ist nicht darauf eingegangen. Warum wohl? Möglicherweise deshalb, weil es sie nicht gibt ...? Wird MPS in Kalifornien von Gesetz wegen als Geisteskrankheit anerkannt? Nein. In Colorado? Nein. In Mississippi? Nein. Vielmehr ist festzustellen, daß kein Staat MPS von Gesetzes wegen als Grund für verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit anerkennt. Und warum nicht? Weil es keine Rechtfertigung für eine Straftat darstellt. Meine Damen und Herren, es ist lediglich ein Vorwand, um sich der gerechten Strafe zu entziehen ... Die Verteidigung will Ihnen einreden, daß in der Angeklagten noch zwei Leute stecken, so daß niemand die Verantwortung für die Straftaten trägt. Doch in diesem Gerichtssaal sitzt nur eine Angeklagte - Ashley Patterson. Wir haben eindeutig nachgewiesen, daß sie eine Mörderin ist. Sie aber behauptet, sie habe die Taten nicht begangen. Jemand anders sei das gewesen, jemand, der sich ihres Körpers bedient habe, um unschuldige Menschen zu töten - ihre Alter egos. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir alle Alter egos hätten, die all das tun, was wir uns insgeheim wünschen, aber nicht tun dürfen, weil es die Gesellschaft nicht duldet? Vielleicht aber auch nicht. Möchten Sie in einer Welt leben, in der Menschen andere umbringen und hinterher sagen können: >Ihr könnt mir nichts anhaben, weil es mein Alter ego war< und >Ihr könnt mein Alter ego nicht bestrafen, weil es sich dabei in Wirklichkeit um mich handeltIch glaube nicht, daß es so etwas wie eine multiple Persönlichkeitsstörung gibt.< Lauter Idioten. Ich hab’ noch nie soviel Dann veränderte sich Ashleys Miene erneut. Sie schien in sich zusammenzusinken, wirkte mit einemmal schüchtern. Alette meldete sich mit ihrem italienischen Akzent zu Wort. »Mr. Singer, ich weiß, daß Sie vor Gericht Ihr Bestes gegeben haben. Ich wollte Ihnen ja beistehen, aber Toni hat mich nicht gelassen.« Richterin Williams starrte mit ausdrucksloser Miene auf die Leinwand. Wieder änderten sich die Mimik und der Tonfall. »Natürlich hab’ ich dich nicht gelassen«, versetzte Toni. »Toni, was glauben Sie, wie es mit Ihnen weitergeht, wenn Ashley zum Tode verurteilt wird?« sagte David. »Die wird nicht zum Tode verurteilt. Immerhin hat sie zwei der Männer, die sie umgebracht hat, überhaupt nicht gekannt. Kapiert?« »Aber Alette kannte sie«, entgegnete David. »Sie haben die Morde begangen, Alette. Sie haben sich mit diesen Männern eingelassen, und anschließend haben Sie sie erstochen und entmannt .« »Du raffst wohl überhaupt nichts«, versetzte Toni. »Alette hätte so was doch nie und nimmer fertiggebracht. Ich war’s. Und jeder von denen hat es verdient. Die waren alle nur auf Sex aus.« Sie atmete schwer. »Aber ich hab’ es ihnen heimgezahlt. Und keiner kann mir auch nur das geringste nachweisen. Weil nämlich die kleine Unschuld vom Lande den Kopf hinhält. Und dann kommen wir alle in eine nette, gemütliche Heilanstalt, wo es -« Im Hintergrund ertönte ein lautes Klicken. Toni fuhr herum. »Was war das?« »Gar nichts«, erwiderte David rasch. »Das war bloß -« Toni stand auf und stürmte auf die Kamera zu, bis ihr Gesicht die ganze Leinwand ausfüllte. Sie stieß gegen etwas, und die Szene kippte. Plötzlich geriet der chinesische Paravent ins Bild. In der Mitte war ein kleines Loch herausgeschnitten. »Verdammt, du hast da hinten eine Kamera aufgestellt«, kreischte Toni. Sie drehte sich zu David um. »Du Dreckskerl, du hast wohl gedacht, du kannst mich austricksen?« Toni ergriff den Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag, und stürzte sich auf David. »Ich bring’ dich um«, schrie sie. »Ich bring’ dich um.« David versuchte sie festzuhalten, aber er kam nicht gegen sie an. Der Brieföffner bohrte sich in seine Hand. Toni riß den Arm hoch und wollte erneut zustechen, worauf der Wärter zu ihr rannte und sie zu ergreifen versuchte. Toni stieß ihn zu Boden. Die Tür ging auf, und ein Wachmann in Uniform kam hereingerannt. Als er sah, was da vor sich ging, stürzte er sich auf Toni. Sie trat ihm in den Unterleib, und er ging zu Boden. Zwei weitere Wachmänner kamen hinzu, und erst mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Toni, die die ganze Zeit über brüllte und auf sie einschrie, auf den Stuhl zu drücken und festzuhalten. Blut tropfte aus Davids Wunde. Er sagte zu Dr. Salem: »Um Himmels willen, wecken Sie sie auf!« »Ashley!« sagte Dr. Salem, »Ashley - hören Sie mir zu. Sie werden jetzt wieder zu sich kommen. Toni ist weg. Sie können ruhig wieder zu sich kommen, Ashley. Ich zähle jetzt bis drei.« Sie sahen gespannt zu, wie Ashley wieder ruhig und gelöst wurde. »Können Sie mich hören?« »Ja.« Es war Ashleys Stimme, aber sie klang, als käme sie aus weiter Ferne. »Wenn ich bis drei gezählt habe, werden Sie aufwachen. Eins ... zwei ... drei ... Wie fühlen Sie sich?« Sie schlug die Augen auf. »Ich bin so müde. Habe ich irgendwas gesagt?« Die Leinwand in Richterin Williams Dienstzimmer wurde dunkel. David ging zur Tür und schaltete das Licht ein. »Nun denn!« sagte Brennan. »Was für ein Auftritt. Wenn es einen Oscar für die beste -« Richterin Williams wandte sich ihm zu. »Halten Sie den Mund.« Brennan schaute sie schockiert an. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann wandte sich Richterin Williams an David. »Herr Rechtsanwalt.« »Ja?« Sie zögerte kurz. »Ich möchte mich entschuldigen.« »Beide Parteien«, sagte Richterin Williams, als sie im Gerichtssaal Platz genommen hatte, »sind übereingekommen, sich der Meinung des Psychiaters anzuschließen, der die Angeklagte bereits untersucht hat, Dr. Salem. Das Gericht beschließt, daß die Angeklagte aufgrund einer Geisteskrankheit nicht schuldig ist. Sie wird in einer Anstalt untergebracht, wo man sie behandeln kann. Die Sitzung ist geschlossen.« Erschöpft und ausgelaugt stand David auf. Es ist vorbei, dachte er. Endlich ist es vorbei. Jetzt konnten er und Sarah sich wieder ihrem Leben widmen. Er blickte zu Richterin Williams. »Wir bekommen ein Kind«, sagte er glücklich. »Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen«, sagte Dr. Salem zu David. »Ich weiß nicht, ob es möglich ist, aber ich glaube, es würde Ashley sehr helfen, wenn Sie es einrichten könnten.« »Worum geht es?« »Im Connecticut Psychiatrie Hospital drüben an der Ostküste hat man mehr MPS-Fälle behandelt als in jeder anderen Anstalt im ganzen Land. Dr. Otto Lewison, ein Freund von mir, ist der Leiter. Wenn Sie vor Gericht durchsetzen könnten, daß man Ashley dorthin bringt, wäre das meiner Meinung nach sehr gut.« »Danke«, sagte David. »Ich will sehen, was ich tun kann.« »Ich - ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Dr. Steven Patterson zu David. David lächelte. »Keine Ursache. Eine Hand wäscht die andere. Wissen Sie noch?« »Sie haben Ihre Sache hervorragend gemacht. Eine Zeitlang hatte ich Angst -« »Ich auch.« »Aber die Gerechtigkeit hat gesiegt. Meine Tochter wird wieder geheilt werden.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte David. »Dr. Salem hat übrigens eine psychiatrische Klinik in Connecticut vorgeschlagen. Die Ärzte dort haben Erfahrung im Umgang mit MPS.« Dr. Patterson schwieg einen Moment. »Wissen Sie, Ashley hat das alles nicht verdient. Sie ist so ein wunderbarer Mensch.« »Ganz meine Meinung. Ich rede mit Richterin Williams und sehe zu, daß man sie verlegt.« Richterin Williams saß in ihrem Dienstzimmer. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Singer?« »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Sie lächelte. »Ich hoffe, ich kann ihn erfüllen. Worum geht es?« David erklärte der Richterin, was Dr. Salem ihm mitgeteilt hatte. »Nun ja, das ist eine ziemlich ungewöhnliche Bitte. Hier bei uns in Kalifornien gibt es ebenfalls einige ausgezeichnete psychiatrische Anstalten.« »Na gut«, sagte David. »Vielen Dank, Euer Ehren.« Enttäuscht wandte er sich zum Gehen. »Ich habe nicht nein gesagt, Mr. Singer.« David blieb stehen. »Es ist ein ungewöhnliches Ersuchen, aber schließlich handelt es sich auch um einen ungewöhnlichen Fall.« David wartete. »Ich glaube, ich kann veranlassen, daß man sie verlegt.« »Vielen Dank, Euer Ehren. Ich weiß das zu schätzen.« Man hat mich zum Tode verurteilt, dachte Ashley unterdessen in ihrer Zelle. Zu einem langsamen Tod in einer Anstalt voller Irrer. Es wäre gnädiger gewesen, wenn man mich gleich getötet hätte. Sie dachte an die langen, trostlosen Jahre, die vor ihr lagen, und begann zu weinen. Die Zellentür wurde aufgeschlossen, und ihr Vater kam herein. Er stand einen Moment lang da und schaute sie mit schmerzerfüllter Miene an. »Mein Schatz ...« Er setzte sich ihr gegenüber. »Du wirst leben«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mehr leben.« »So was darfst du nicht sagen. Du leidest an einer Krankheit, aber sie läßt sich heilen. Und das wird auch geschehen. Wenn es dir wieder bessergeht, kannst du bei mir wohnen, und ich werde für dich sorgen. Egal, was geschieht, wir werden immer füreinander dasein. Das kann uns keiner nehmen.« Ashley saß wortlos da. »Ich weiß, wie dir im Augenblick zumute ist, aber das wird sich ändern. Mein Mädchen wird wieder zu mir nach Hause kommen, und zwar gesund.« Er erhob sich langsam. »Ich muß leider zurück nach San Francisco.« Er wartete darauf, daß Ashley etwas sagte. Sie schwieg. »David hat mit mir gesprochen. Er glaubt, daß man dich in einer der besten psychiatrischen Kliniken der Welt unterbringen wird. Ich komme dann vorbei und besuche dich. Möchtest du das?« Sie nickte teilnahmslos. »Ja.« »Na schön, mein Schatz.« Er küßte sie auf die Wange und schloß sie in die Arme. »Ich werde dafür sorgen, daß alles Menschenmögliche für dich getan wird. Ich möchte mein kleines Mädchen wiederhaben.« Ashley blickte ihrem Vater hinterher. Wieso kann ich nicht auf der Stelle sterben? dachte sie. Wieso läßt man mich nicht sterben? Eine Stunde später kam David sie besuchen. »Tja, wir haben es geschafft«, sagte er. Er musterte sie besorgt. »Ist alles in Ordnung?« »Ich möchte nicht in eine Irrenanstalt. Ich will sterben. Ich halte so ein Leben nicht aus. Helfen Sie mir, David. Bitte helfen Sie mir.« »Ashley, man wird Ihnen dort helfen. Was bisher war, zählt nicht mehr. Sie haben ein neues Leben vor sich. Der Alptraum wird bald vorüber sein.« Er ergriff ihre Hand. »Schauen Sie -Sie haben mir bislang vertraut. Vertrauen Sie mir weiter. Sie werden wieder ein völlig normales Leben führen können.« Sie saß schweigend da. »Sprechen Sie mir nach. >Ich glaube Ihnen, David.c« Sie atmete tief durch. »Ich - ich glaube Ihnen, David.« Er grinste. »Braves Mädchen. Damit ist schon ein erster Anfang gemacht.« Die Presse überschlug sich förmlich, sobald der Richterspruch bekannt wurde. Über Nacht war David ein Held. Er hatte einen aussichtslosen Fall angenommen und den Prozeß gewonnen. Er rief Sandra an. »Schatz, ich -« »Ich weiß, Liebster. Ich weiß Bescheid. Ich hab’s gerade im Fernsehen gesehen. Es ist einfach wunderbar! Ich bin ja so stolz auf dich.« »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß es vorüber ist. Ich komme heute abend zurück. Ich kann es kaum abwarten -« »David ...?« »Ja?« »David . oooh .« »Ja? Was ist los, mein Schatz?« ». oooh . unser Baby kommt .« »Warte auf mich!« rief David. Jeffrey Singer wog knapp acht Pfund, und er war das schönste Baby, das David je gesehen hatte. »Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte Sandra. »Das stimmt, nicht wahr?« David strahlte. »Ich bin so froh, daß sich noch alles zum Guten gewendet hat«, sagte Sandra. David seufzte. »Eine Zeitlang war ich mir da gar nicht so sicher.« »Ich habe nie an dir gezweifelt.« David schloß sie in die Arme. »Ich komme wieder, mein Schatz. Ich muß nur kurz meine Sachen aus der Kanzlei holen.« In der Kanzlei Kincaid, Turner, Rose & Ripley wurde David mit aller Herzlichkeit empfangen. »Glückwünsche, David .« »Gute Arbeit .« »Denen hast du es aber gezeigt .« David ging in sein Büro. Holly war nicht mehr da. David fing an, seinen Schreibtisch auszuräumen. »David -« David drehte sich um. Joseph Kincaid stand in der Tür. »Was machen Sie da?« fragte er und trat ein. »Ich räume mein Büro. Ich wurde entlassen.« Kincaid lächelte. »Entlassen? Selbstverständlich nicht. Nein, nein, nein. Da muß ein Mißverständnis vorliegen.« Er strahlte ihn an. »Wir ernennen Sie zum Gesellschafter, mein Junge. Genauer gesagt, wir haben bereits für heute nachmittag um drei eine Pressekonferenz mit Ihnen anberaumt.« David schaute ihn an. »Tatsächlich?« Kincaid nickte. »Hundertprozentig.« »Dann sollten Sie sie lieber absagen«, erwiderte David. »Ich habe nämlich beschlossen, mich wieder auf Strafrecht zu verlegen. Jesse Quiller hat mir angeboten, als Sozius in seine Kanzlei einzutreten. Wenn man sich auf dem Gebiet betätigt, weiß man wenigstens, wer die wirklichen Verbrecher sind. Und Sie, mein guter Joey, können Ihren Gesellschaftervertrag nehmen und ihn sich sonstwohin schieben.« Er nahm seine Siebensachen und verließ die Kanzlei. Jesse Quiller schaute sich in dem Penthaus um. »Das ist ja große Klasse«, sagte er. »Steht euch gut zu Gesicht.« »Danke«, sagte Sandra. Sie hörte einen Laut aus dem Kinderzimmer. »Ich schau’ lieber mal nach Jeffrey.« Und schon eilte sie nach nebenan. Jesse Quiller blieb vor einem wunderschönen Bilderrahmen aus Sterlingsilber stehen, in dem bereits das erste Foto von Jeffrey steckte. »Der ist ja hinreißend. Wo kommt der denn her?« »Richterin Williams hat ihn geschickt.« »Ich freue mich, daß du wieder bei mir bist«, sagte Jesse. »Ich mich auch, Jesse.« »Vermutlich willst du erst eine Weile ausspannen. Ruh dich ein bißchen .« »Ja. Sandra und ich wollten mit Jeffrey rauf nach Oregon fahren und meine Eltern besuchen -« »Heute morgen ist übrigens ein interessanter Fall bei uns gelandet, David. Eine Frau wird beschuldigt, ihre zwei Kinder ermordet zu haben. Ich halte sie für unschuldig. Leider hab’ ich droben in Washington einen anderen Fall laufen, aber ich dachte, du könntest vielleicht mal mit ihr reden und zusehen, was du davon hältst.« DRITTES BUCH 22 Das Connecticut Psychiatric Hospital, knapp fünfundzwanzig Kilometer außerhalb von Westport gelegen, war ursprünglich der Landsitz eines reichen Holländers namens Wim Boeker gewesen, der hier, auf einem gut und gerne zwanzig Hektar großen Stück Land, im Jahre 1910 ein riesiges Herrenhaus errichtet hatte. Auf dem Grundstück befanden sich zudem eine Werkstatt, Stallungen und ein Swimmingpool. Im Jahr 1925 hatte der Staat das Anwesen gekauft und das Herrenhaus zu einer psychiatrischen Anstalt für insgesamt einhundert Patienten umgebaut. Das Gelände war von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben, am Tor stand ein Wachmann, und sämtliche Fenster waren vergittert. Zudem hatte man in einem Teil des Hauses einen festungsartigen Sicherheitstrakt für die gemeingefährlichen Insassen eingerichtet. Im Büro des Chefs der psychiatrischen Klinik fand gerade eine Besprechung statt. Dr. Otto Lewison, Dr. Gilbert Keller und Dr. Craig Poster redeten über eine Patientin, die demnächst eintreffen sollte. Gilbert Keller war um die Vierzig, mittelgroß, blond, mit strahlenden grauen Augen. Er war ein angesehener Fachmann für multiple Persönlichkeitsstörungen. Otto Lewison, der Leiter des Connecticut Psychiatric Hospitals, war um die Siebzig, ein schmucker, gepflegter kleiner Mann mit Vollbart und einem Kneifer auf der Nase. Dr. Poster, der seit Jahren mit Dr. Keller zusammenarbeitete, verfaßte gerade ein Buch über multiple Persönlichkeitsstörungen. Sie waren in Ashley Pattersons Akte vertieft. »Die Gute hat sich ganz schön rangehalten«, sagte Otto Le-wison. »Erst achtundzwanzig, und schon fünf Männer ermordet.« Er warf einen weiteren Blick in die Unterlagen. »Außerdem hat sie versucht, ihren Anwalt umzubringen.« »Der reinste Traum«, versetzte Gilbert Keller trocken. »Wir verwahren sie im Sicherheitstrakt A«, sagte Otto Lewi-son. »Jedenfalls so lange, bis wir uns ein Urteil über sie gebildet haben.« »Wann soll sie eintreffen?« fragte Dr. Keller. Dr. Lewisons Sekretärin meldete sich über die Gegensprechanlage. »Dr. Lewison, Ashley Patterson wird soeben eingeliefert. Soll ich sie in Ihr Büro bringen lassen?« »Ja, bitte.« Lewison blickte auf. »Ist Ihre Frage damit beantwortet?« Die Überführung war der reinste Alptraum gewesen. Als der Prozeß vorüber war, hatte man Ashley wieder in ihre Zelle gebracht und sie dort drei Tage lang festgehalten. Unterdessen liefen die Vorbereitungen für ihre Überstellung an die Ostküste auf Hochtouren. Sie war mit einem Häftlingsbus zum Flughafen von Oakland gebracht worden, wo ein Flugzeug bereitstand. Es war eine eigens für Häftlingstransporte umgebaute DC-6 in Diensten des U.S. Marshals’ Service. An Bord befanden sich insgesamt vierundzwanzig Häftlinge, alle in Handschellen und Fußeisen. Man legte Ashley die Handschellen an, und sobald sie sich hingesetzt hatte, wurden ihre Füße am Boden angekettet. Wieso tut man mir so was an? Ich bin keine gemeine Verbrecherin. Ich bin eine ganz normale Frau. Doch eine innere Stimme sagte: Die fünf unschuldige Menschen ermordet hat. Die Häftlinge, die mit ihr im Flugzeug saßen, waren abgebrühte Kriminelle, Männer, die wegen Mordes, Vergewaltigung, bewaffneten Raubüberfalls und diverser anderer Straftaten verurteilt worden waren und zu den besten Hochsicherheitsgefängnissen im ganzen Land gebracht wurden. Ashley war die einzige Frau an Bord. Einer der Sträflinge schaute sie an und grinste breit. »He, Süße. Komm doch mal rüber und munter mich ein bißchen auf.« »Ruhe da«, rief ein Wärter. »Hey! Hast du denn keinen Funken Gefühl im Leib! Die Braut hier kriegt’s die nächsten - wie lange hat man dich verknackt, Schätzchen?« »Juckt dir die Hummel, Süße?« sagte ein anderer Sträfling. »Wie wär’s, wenn ich einfach rüberrutsche und dir dein -?« »Moment mal!« warf ein Dritter ein. Er starrte Ashley an. »Das is’ doch die Braut, die fünf Macker umgebracht und kastriert hat.« Alle schauten Ashley an. Danach wurde sie nicht mehr belästigt. Die Maschine legte unterwegs zwei Zwischenlandungen ein, bei denen etliche Insassen weggebracht wurden und neue hinzukamen. Es war ein langer Flug, unterwegs gerieten sie in heftige Turbulenzen, und als sie endlich auf dem La Guardia Airport in New York landeten, war Ashley luftkrank. Zwei Polizisten in Uniform nahmen sie, kaum daß die Maschine ausgerollt war, auf dem Vorfeld in Empfang. Sie schlossen ihre Fußfesseln auf, brachten sie zu einem Polizeibus und legten sie erneut in Eisen. Etwas derart Demütigendes war ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht widerfahren. Daß sie selbst sich völlig normal vorkam, machte die Sache nur noch schlimmer. Meinten die etwa, sie wollte flüchten und wieder jemanden umbringen? Das war doch vorbei, ausgestanden. Wußten die das etwa nicht? Sie war fest davon überzeugt, daß so etwas nie mehr vorkommen würde. Sie wollte hier nur noch raus. Egal wohin. Irgendwann döste sie auf der langen, eintönigen Fahrt nach Connecticut ein. Eine schroffe Polizistenstimme weckte sie auf. »Wir sind da.« Sie standen an der Pforte des Connecticut Psychiatric Hospitals. Als Ashley in Dr. Lewisons Büro gebracht wurde, begrüßte dieser sie: »Herzlich willkommen in unserer Klinik, Miss Patterson.« Ashley stand schweigend und mit fahlem Gesicht da. Dr. Lewison stellte sie einander vor und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Nehmen Sie bitte Platz.« Er warf dem Aufseher einen kurzen Blick zu. »Nehmen Sie ihr die Handschellen und die Fußeisen ab.« Die Fesseln wurden aufgeschlossen, und Ashley nahm Platz. »Ich weiß, daß das sehr schwierig für Sie sein muß«, sagte Dr. Foster. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um es Ihnen so leicht wie möglich zu machen. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, daß Sie dieses Haus eines Tages geheilt verlassen können.« Ashley gab zum erstenmal einen Ton von sich. »Wie - wie lange dauert das?« »Das läßt sich so früh noch nicht sagen«, erwiderte Otto Lewison. »Vielleicht fünf bis sechs Jahre, falls Sie geheilt werden können.« Jedes einzelne Wort traf Ashley wie ein Blitzschlag. Vielleichtfünf bis sechs Jahre, falls Sie geheilt werden können ... »Wir werden eine sanfte Therapie anwenden. Sie wird aus einer Reihe von Sitzungen mit Dr. Keller bestehen, der mehrere Therapiemethoden anwenden wird - Hypnose, Gruppentherapie, Maltherapie. Vor allem aber, und das ist wichtig, müssen Sie immer daran denken, daß wir auf Ihrer Seite stehen.« Gilbert Keller musterte ihr Gesicht. »Wir haben uns vorgenommen, Ihnen zu helfen, und wir möchten, daß auch Sie uns dabei helfen.« Dazu gab es nichts mehr zu sagen. Otto Lewison nickte dem Aufseher zu, worauf dieser zu Ashley ging und sie am Arm nahm. »Man wird Sie jetzt in Ihre Unterkunft bringen«, sagte Craig Poster. »Wir reden später wieder miteinander.« Als Ashley das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Otto Lewison an Gilbert Keller. »Was halten Sie davon?« »Tja, einen Vorteil hat die Sache. Wir haben es nur mit zwei anderen Persönlichkeiten zu tun.« Keller dachte nach. »Wieviel hatten wir bei dem bisher schlimmsten Fall?« »Insgesamt neunzig - bei der Beltrand.« Ashley hatte nicht gewußt, was sie erwartete, aber irgendwie hatte sie sich einen düsteren, trostlosen Kerker vorgestellt. Das Connecticut Psychiatric Hospital hingegen wirkte eher wie ein gemütlicher Club - allerdings mit vergitterten Fenstern. Als der Pfleger Ashley durch die langen, hellen Korridore geleitete, sah sie zahlreiche Insassen, die sich offenbar frei bewegen konnten. Es waren Menschen jeden Alters, und alle wirkten völlig normal. Wieso sind die hier? Einige lächelten sie an und wünschten ihr einen guten Morgen, doch Ashley war zu verwirrt, als daß sie hätte antworten können. Alles kam ihr so unwirklich vor. Sie war in einer Irrenanstalt. Bin ich irre? Dann kamen sie zu einer schweren Stahltür, die einen Teil des Gebäudes abriegelte. Dort wartete ein weiterer Pfleger. Er drückte auf einen roten Knopf, worauf die mächtige Tür aufging. »Das ist Ashley Patterson.« »Guten Morgen, Miss Patterson«, sagte der andere Pfleger. Sie taten so, als wäre das alles ganz normal. Aber nichts ist mehr normal, dachte Ashley. Die ganze Welt ist zusammengebrochen. »Hier entlang, Miss Patterson.« Der Pfleger brachte sie zu einer weiteren Tür und öffnete sie. Ashley trat ein und blickte sich um. Sie befand sich nicht etwa in einer Zelle, sondern in einem freundlichen, mittelgroßen Zimmer mit pastellblauen Wänden, einer kleinen Couch und einem bequem aussehenden Bett. »Hier werden Sie wohnen. In ein paar Minuten bringt man Ihnen Ihre Sachen.« Ashley blickte dem Pfleger nach, als er wegging und die Tür schloß. Hier werden Sie wohnen. Sie spürte, wie sie Platzangst bekam. Was ist, wenn ich nicht hier wohnen möchte? Was ist, wenn ich raus will? Sie ging zur Tür. Sie war verschlossen. Ashley setzte sich auf die Couch und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie versuchte sich auf etwas Angenehmes zu konzentrieren. Wir werden versuchen, Sie zu heilen. Wir werden versuchen, Sie zu heilen. Wir werden Sie heilen. 23 Dr. Gilbert Keller war für Ashleys Therapie zuständig. Sein Spezialgebiet war die Behandlung multipler Persönlichkeitsstörungen, und obwohl es gelegentlich Fehlschläge gegeben hatte, konnte er eine hohe Erfolgsquote vorweisen. Bei derartigen Fällen gab es keine raschen Fortschritte. Zunächst mußte er das Vertrauen des Patienten gewinnen, damit er sich in seiner Gegenwart wohl fühlte, dann nach und nach die anderen Persönlichkeiten herauslocken, so daß sie miteinander Kontakt aufnehmen und verstehen konnten, weshalb sie überhaupt da waren, und schließlich einsahen, weshalb sie nicht mehr benötigt wurden. Das war der Augenblick der Heilung, der Moment, in dem die verschiedenen Persönlichkeitsebenen wieder zu einer Einheit verschmolzen. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, dachte Dr. Keller. Am nächsten Morgen ließ Dr. Keller Ashley in sein Büro bringen. »Guten Morgen, Ashley.« »Guten Morgen, Dr. Keller.« »Ich möchte, daß Sie mich Gilbert nennen. Wir werden gute Freunde werden. Wie fühlen Sie sich?« Sie schaute ihn an. »Man hat mir gesagt, daß ich fünf Männer ermordet habe. Wie soll ich mich da wohl fühlen?« »Können Sie sich an irgendeinen Mord erinnern?« »Nein.« »Ich habe das Protokoll der Gerichtsverhandlung gelesen, Ashley. Sie haben niemanden ermordet. Das war eine Ihrer anderen Persönlichkeiten. Wir werden uns mit Ihren anderen Persönlichkeiten vertraut machen, und im Laufe der Zeit, und mit Ihrer Hilfe, werden wir dafür sorgen, daß sie verschwinden.« »Ich - ich hoffe, Sie können -« »Ich kann. Ich bin dazu da, Ihnen zu helfen, und genau das habe ich auch vor. Ihr Unterbewußtsein hat diese anderen Persönlichkeiten geschaffen, um Sie vor unerträglichem Leid zu schützen. Wir müssen herausfinden, was dieses Leid verursacht hat. Dazu muß ich erfahren, wann diese anderen Persönlichkeiten entstanden sind und warum.« »Wie - wie wollen Sie das schaffen?« »Wir werden miteinander reden. Dabei wird Ihnen allerlei einfallen. Von Zeit zu Zeit werden wir auch Hypnose oder Natriumamytal anwenden. Sie sind doch bereits hypnotisiert worden, nicht wahr?« »Ja.« »Niemand wird Sie drängen. Wir werden uns viel Zeit lassen. Und wenn wir fertig sind«, fügte er beruhigend hinzu, »werden Sie wieder gesund werden.« Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang. Hinterher war Ashley viel ruhiger und gelöster. Ich glaube, er schafft es wirklich, dachte sie, als sie wieder in ihrem Zimmer war. Und sie sprach ein kurzes Gebet. Dr. Keller besprach sich mit Otto Lewison. »Wir haben uns heute morgen miteinander unterhalten«, sagte er. »Ashley sieht ein, daß sie krank ist, das wird uns sicherlich zugute kommen. Und sie ist bereit, sich helfen zu lassen.« »Das ist schon mal ein Anfang. Halten Sie mich auf dem laufenden.« »Ganz bestimmt, Otto.« Dr. Keller freute sich auf die Herausforderung, die ihm bevorstand. Ashley Patterson strahlte etwas Besonderes aus. Er war fest entschlossen, ihr zu helfen. Sie unterhielten sich jeden Tag miteinander, bis Dr. Keller eine Woche nach Ashleys Einlieferung sagte: »Ich möchte, daß Sie es sich bequem machen und sich entspannen. Ich werde Sie jetzt hypnotisieren.« Er ging auf sie zu. »Nein! Warten Sie!« Überrascht schaute er sie an. »Was ist los?« Zig schreckliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Er wollte ihre anderen Persönlichkeiten herauslocken. Bei der bloßen Vorstellung packte sie das blanke Entsetzen. »Bitte«, sagte sie. »Ich - ich möchte ihnen nicht begegnen.« »Das werden Sie auch nicht«, beruhigte sie Dr. Keller. »Noch nicht.« Sie schluckte. »Na schön.« »Sind Sie bereit?« Sie nickte. »Ja.« »Gut. Dann fangen wir an.« Es dauerte fünfzehn Minuten. Als sie unter Hypnose war, warf Gilbert Keller einen Blick auf das Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch lag. Toni Prescott und Alette Peters. Der Zeitpunkt für das Umschalten war gekommen, das Wechseln von einer dominanten Persönlichkeitsebene zur anderen. Er blickte auf Ashley, die mit geschlossenen Augen im Sessel saß, dann beugte er sich vor. »Guten Morgen, Toni. Können Sie mich hören?« Er sah, wie sich Ashleys Miene veränderte, als sie unter den Einfluß einer völlig anderen Persönlichkeit geriet. Ihr Gesicht wirkte mit einemmal lebhafter. Sie stimmte ein Lied an. »Will ich in mein Stüblein gehen, will mein Müslein essen, steht ein bucklicht Männlein da, hat’s schon selbst gegessen ...« »Das war sehr hübsch, Toni. Ich bin Gilbert Keller.« »Ich weiß, wer du bist«, entgegnete Toni. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie eine wunderbare Gesangsstimme haben?« »Pfeif drauf.« »Ich meine es ernst. Haben Sie mal Gesangsunterricht genommen? Ich wette, ja.« »Nein, hab’ ich nicht. Ich hätte schon gewollt, aber meine ...« - Um Himmels willen, hör auf mit dem schrecklichen Lärm! Wer hat dir bloß gesagt, daß du singen kannst? - »Ist ja egal.« »Toni, ich möchte Ihnen helfen.« »Nein, willst du nicht, Doktorchen. Du willst mit mir bumsen.« »Wie kommen Sie denn darauf, Toni?« »Ihr verdammten Macker wollt doch immer nur das eine. Besten Dank.« »Toni .? Toni ...?« Schweigen. Gilbert Keller musterte Ashleys Gesicht. Sie wirkte heiter und friedlich. Dr. Keller beugte sich vor. »Alette?« Ashleys Miene veränderte sich nicht. »Alette ...?« Keine Reaktion. »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Alette.« Ashley regte sich, wurde unruhig. »Kommen Sie, Alette.« Ashley holte tief Luft, und dann stieß sie plötzlich einen Schwall italienischer Worte aus. »C’e qualcuno che parla Italiano?« »Alette -« »Non so dove mi travo.« »Alette, hören Sie mir zu. Sie sind hier in Sicherheit. Ich möchte, daß Sie sich entspannen.« »Mi sento stanca ... Ich bin müde.« »Sie haben Schreckliches durchgemacht, aber all das haben Sie jetzt hinter sich. Fortan werden Sie in Frieden leben. Wissen Sie, wo Sie sich befinden?« Seine Stimme war weiß. »Si. In einer Art Anstalt für Leute, die pazzo sind.« Deswegen bist du ja hier, Doktor. Du bist der Verrückte. »In einer Anstalt, in der man Sie heilen wird. Alette, wenn Sie die Augen schließen und sich das Haus hier vorstellen, was fällt Ihnen dann ein?« »Hogarth. Er hat Irrenanstalten gemalt, schreckliche Szenen.« Vermutlich bist du so ungebildet, daß du noch nie etwas von ihm gehört hast. »Ich möchte nicht, daß Sie dieses Haus als Ort des Schrek-kens empfinden. Erzählen Sie mir etwas von sich, Alette. Wozu haben Sie Lust? Möchten Sie irgend etwas tun, solange Sie hier sind?« »Ich male gern.« »Dann werde ich Ihnen Farben besorgen.« »Nein!« »Warum nicht?« »Ich will nicht.« Was soll denn das sein, Kind? Das sieht ja aus wie ein einziger scheußlicher Farbklecks. Laß mich in Ruhe. »Alette?« Gilbert Keller sah, wie sich Ashleys Miene erneut veränderte. Alette war weg. Dr. Keller weckte Ashley auf. Sie schlug die Augen auf und blinzelte. »Haben Sie schon angefangen?« »Wir sind fertig.« »Wie ist es gelaufen?« »Toni und Alette haben mit mir gesprochen. Für den Anfang ist das schon mal gut, Ashley.« Sie erhielt einen Brief von David Singer. Liebe Ashley, ich wollte mich nur kurz melden und Ihnen mitteilen, daß ich an Sie denke und hoffe, daß Ihre Behandlung Fortschritte macht. Genaugenommen denke ich sogar oft an Sie. Ich habe das Gefühl, als wären wir zusammen im Krieg gewesen. Es war ein harter Kampf, aber wir haben gewonnen. Und ich habe gute Nachrichten für Sie. Man hat mir versichert, daß die Anklagen wegen Mordes, die in Bedford und Quebec gegen Sie anhängig sind, fallengelassen werden. Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich irgend etwas für Sie tun kann. Mit den besten Wünschen David Am nächsten Morgen sprach Gilbert Keller unter Hypnose mit Toni. »Was gibt’s denn jetzt schon wieder, Doktorchen?« »Ich möchte nur ein bißchen mit Ihnen plaudern. Ich würde Ihnen gern helfen.« »Ich brauche keine Hilfe, verdammt noch mal. Mir geht’s prima.« »Tja, aber ich brauche Ihre Hilfe, Toni. Ich möchte Sie etwas fragen. Was halten Sie von Ashley?« »Von der verklemmten Zicke? Bring mich bloß nicht auf die Palme.« »Mögen Sie sie etwa nicht?« »Überhaupt nicht.« »Was mögen Sie denn nicht an ihr?« Es dauerte einen Moment. »Sie versucht ständig, jedem den Spaß zu verderben. Wenn ich nicht ab und zu eingreifen würde, würden wir uns langweilen. Zu Tode langweilen. Sie geht nicht gern auf Partys, sie verreist nicht, sie unternimmt nichts, was Spaß macht.« »Aber Sie schon?« »Na klar. Darum dreht sich doch das ganze Leben, stimmt’s, mein Guter?« »Sie sind in London geboren, nicht wahr, Toni? Möchten Sie mir etwas darüber erzählen?« »Ich sag dir nur eins. Ich wünschte, ich wäre jetzt dort.« Stille. »Toni ...? Toni ...?« Sie war weg. »Ich möchte mit Alette sprechen«, sagte Dr. Keller zu Ashley. Er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. »Alette«, sagte er leise und beugte sich vor. »Si.« »Haben Sie mein Gespräch mit Toni gehört?« »Ja.« »Kennen Sie und Toni einander?« »Ja.« Selbstverständlich, du Dummkopf. »Aber Ashley kennt keine von Ihnen beiden?« »Nein.« »Mögen Sie Ashley?« »Sie ist ganz in Ordnung.« Was sollen diese dämlichen Fragen? »Warum sprechen Sie nicht mit ihr?« »Weil Toni es nicht will.« »Schreibt Ihnen Toni immer vor, wie Sie sich verhalten sollen?« »Toni ist meine Freundin.« Das geht dich gar nichts an. »Ich möchte auch Ihr Freund sein, Alette. Erzählen Sie mir etwas von sich. Wo sind Sie geboren?« »Ich bin in Rom geboren.« »Hat Ihnen Rom gefallen?« Gilbert Keller sah, wie sich Ashleys Miene erneut veränderte. Dann fing sie an zu weinen. Warum? Dr. Keller redete besänftigend auf sie ein. »Ist schon gut. Ich werde Sie jetzt aufwecken, Ashley ...« Sie schlug die Augen auf. »Ich habe mit Toni und Alette gesprochen. Sie sind Freundinnen. Ich möchte, daß ihr euch alle miteinander anfreundet.« Ashley war beim Mittagessen, als ein Pfleger in ihr Zimmer ging und ein Gemälde am Boden stehen sah, eine Landschaft. Er betrachtete es einen Moment lang und brachte es dann in Dr. Kellers Büro. In Dr. Lewisons Büro fand eine Besprechung statt. »Wie läuft es, Gilbert?« »Ich habe mit den beiden anderen Persönlichkeiten gesprochen«, sagte Dr. Keller nachdenklich. »Toni ist die Dominante. Sie stammt aus England, will sich aber nicht weiter dazu äußern. Die andere, Alette, ist in Rom geboren, und auch sie will nicht darüber reden. Folglich werde ich mich genau darauf konzentrieren. Denn da rühren die Traumata womöglich her. Toni ist die aggressivere. Alette ist eher sensibel und reserviert. Sie interessiert sich für Malerei, hat aber Angst, selbst zu malen. Ich muß den Grund dafür herausfinden.« »Ihrer Meinung nach wird Ashley also von Toni beherrscht?« »Ja. Toni ergreift die Initiative. Ashley wußte nichts von ihrer Existenz, auch nicht von Alettes. Aber Toni und Alette kennen einander. Es ist interessant. Toni hat eine hinreißende Stimme, und Alette kann malen.« Er hielt das Bild hoch, das ihm der Pfleger gebracht hatte. »Ich glaube, ihre künstlerische Begabung könnte der Schlüssel sein, mit dem wir zu ihnen durchdringen können.« Einmal pro Woche bekam Ashley einen Brief von ihrem Vater. Hinterher saß sie immer reglos in ihrem Zimmer und wollte mit niemandem reden. »Sie stellen ihre einzige Verbindung mit zu Hause dar«, sagte Dr. Keller zu Otto Lewison. »Ich glaube, sie verstärken bei ihr den Wunsch, wieder herauszukommen und ein normales Leben zu führen. Wir sind auf jede noch so geringe Hilfe angewiesen .« Allmählich gewöhnte sich Ashley an ihre Umgebung. Die Patienten durften sich anscheinend frei bewegen, auch wenn auf den Korridoren und an allen Türen Aufpasser standen und das Tor an der Zufahrt zum Grundstück stets verschlossen war. Im Haus gab es einen Aufenthaltsraum, in dem die Insassen beisammensitzen und fernsehen konnten, eine Turnhalle, in der sie sich fit hielten, und einen Speisesaal. Die Leute hier gehörten allen möglichen Nationalitäten an: Japaner, Chinesen, Franzosen, Amerikaner . Man war darum bemüht, den Anschein zu erwecken, daß es sich um eine ganz gewöhnliche Klinik handelte, doch sobald sich Ashley in ihr Zimmer begab, wurden sämtliche Türen hinter ihr abgeschlossen. »Das ist keine Klinik«, beschwerte sich Toni bei Alette. »Das ist ein elender Knast.« »Aber Dr. Keller meint, er könnte Ashley heilen. Dann kommen wir doch hier raus.« »Sei doch nicht so dämlich, Alette. Blickst du das denn nicht? Ashley kann nur geheilt werden, wenn sie uns los wird, wenn wir verschwinden. Was nichts anderes heißt, als daß wir sterben müssen, damit sie geheilt wird. Na, und das werde ich nicht zulassen.« »Was hast du vor?« »Ich werde eine Möglichkeit finden, wie wir von hier wegkommen.« 24 Am nächsten Morgen wurde Ashley von einem Pfleger auf ihr Zimmer zurückgebracht. »Irgendwie kommen Sie mir heute verändert vor«, sagte er. »Ehrlich, Bill?« »Ja. Fast wie ein anderer Mensch.« »Das muß an dir liegen, Bill«, versetzte Toni schmeichelnd. »Was meinen Sie damit?« »Daß mir in deiner Gegenwart immer ganz anders wird.« Sie faßte ihn am Arm und schaute ihm in die Augen. »Ein wunderbares Gefühl.« »Ach, kommen Sie.« »Ich mein’s ernst. Du bist ein scharfer Typ. Weißt du das?« »Nein.« »Tja, ist aber so. Bist du verheiratet, Bill?« »Ich war’s mal.« »Die Frau hat sie nicht alle, wenn sie jemand wie dich ziehen läßt. Seit wann arbeitest du schon hier, Bill?« »Seit fünf Jahren.« »Ganz schön lange. Möchte man da nicht manchmal einfach alles hinschmeißen und abhauen?« »Ab und zu, klar.« Toni senkte die Stimme. »Weißt du, mir fehlt eigentlich gar nichts. Ich geb’ ja zu, daß ich eine kleine Störung hatte, als ich hierhergekommen bin, aber jetzt bin ich geheilt. Ich will auch weg. Ich wette, du kannst mir dabei helfen. Wir könnten zum Beispiel alle beide abhauen. Wär bestimmt ein Riesenspaß.« Er musterte sie einen Moment lang. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« »Doch, doch. Schau, das ist ganz einfach. Du mußt mich nur eines Nachts rauslassen, wenn alle andern schon schlafen, und dann nichts wie weg.« Sie schaute ihm in die Augen. »Du wirst es nicht bereuen«, gurrte sie. Er nickte. »Ich muß darüber nachdenken.« »Mach das«, versetzte Toni zuversichtlich. »Wir kommen hier raus«, sagte Toni zu Alette, sobald sie wieder im Zimmer waren. Am Morgen darauf wurde Ashley in Dr. Kellers Büro geleitet. »Guten Morgen, Ashley.« »Guten Morgen, Gilbert.« »Heute morgen wollen wir es mal mit Natriumamytal versuchen. Hat man Ihnen das schon einmal gegeben?« »Nein.« »Nun, Sie werden feststellen, daß man dadurch sehr gelöst wird.« Ashley nickte. »Na schön. Ich bin bereit.« Fünf Minuten später redete Dr. Keller mit Toni. »Guten Morgen, Toni.« »Hi, Doktorchen.« »Fühlen Sie sich hier wohl, Toni?« »Komisch, daß Sie mich danach fragen. Ehrlich gesagt, ge-fällt’s mir hier immer besser. Ich fühle mich wie zu Hause.« »Und warum wollten Sie dann ausbrechen?« Tonis Stimme wurde eine Idee schroffer. »Was?« »Bill sagt, Sie hätten ihn darum gebeten, Ihnen zur Flucht zu verhelfen.« »Der Dreckskerl«, fauchte sie. Sie sprang auf, stürmte zum Schreibtisch, ergriff einen Briefbeschwerer und warf ihn nach Dr. Kellers Kopf. Er duckte sich. »Ich bring’ dich um, und ihn auch.« Dr. Keller packte sie. »Toni -« Er sah, wie sich Ashleys Gesichtsausdruck veränderte. Toni war weg. Er stellte fest, daß ihm das Herz bis zum Halse schlug. »Ashley!« Ashley schlug die Augen auf. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie sich verwirrt um und sagte dann: »Ist alles in Ordnung?« »Toni hat mich angegriffen. Sie war wütend, weil ich erfahren habe, daß sie flüchten wollte.« »Ich - ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte das Gefühl, daß irgendwas Schlimmes passiert.« »Schon gut. Ich möchte Sie, Toni und Alette miteinander bekannt machen.« »Nein!« »Warum nicht?« »Ich habe Angst davor. Ich - ich will sie nicht kennenlernen. Verstehen Sie das denn nicht? Eigentlich gibt es sie doch gar nicht. Ich bilde mir sie nur ein.« »Früher oder später werden Sie sich mit ihnen auseinandersetzen müssen, Ashley. Sie müssen sich kennenlernen. Nur so können wir Sie heilen.« Ashley stand auf. »Ich möchte jetzt in mein Zimmer.« Ashley schaute dem Pfleger hinterher, der sie zurückgebracht hatte. Sie war zutiefst verzweifelt. Hier komme ich nie mehr raus, dachte sie. Die lügen mich alle an. Die können mich nicht heilen. Sie mochte sich einfach nicht damit abfinden, daß da diese anderen Persönlichkeiten waren, die in ihr hausten . Ihretwegen waren Menschen ermordet und Familien zerstört worden. Wieso ausgerechnet ich, lieber Gott? Sie fing an zu weinen. Was habe ich dir denn getan? Sie setzte sich auf das Bett. So kann das nicht weitergehen. Ich muß einen Schlußstrich ziehen. Und zwar gleich. Sie stand auf und ging auf der Suche nach einem scharfen Gegenstand in ihrem Zimmer auf und ab. Sie fand nichts. Bei der Ausstattung des Zimmers hatte man wohlweislich darauf geachtet, daß es keinerlei gefährliche Gegenstände gab, mit denen sich die Patienten verletzen konnten. Verzweifelt blickte sie sich um. Dann sah sie die Farben, die Leinwand und die Pinsel. Die Pinselstiele waren aus Holz. Ashley nahm einen, brach ihn durch und betrachtete die scharfen, ausgesplitterten Zacken. Langsam drückte sie ihn auf ihr Handgelenk und stieß dann mit aller Kraft zu in die Pulsader, bis das Blut herausschoß. Anschließend setzte sie den Pinselstiel an ihrem anderen Handgelenk an und wiederholte das Ganze. Sie stand da und sah zu, wie sich ihr Blut auf den Teppichboden ergoß. Sie fröstelte, ließ sich zu Boden sinken und rollte sich ein wie ein Embryo im Mutterleib. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Dr. Gilbert Keller war außer sich, als er davon erfuhr. Er suchte Ashley in der Krankenstation auf. Sie trug dicke Verbände an beiden Handgelenken. Er sah sie da liegen und betrachtete sie. Dazu darf es nie wieder kommen, dachte er. »Wir hätten Sie beinahe verloren«, sagte er. »Da hätte ich aber ziemlich dumm dagestanden.« Ashley rang sich ein Lächeln ab. »Tut mir leid. Aber mir kam alles so - so aussichtslos vor.« »Da täuschen Sie sich«, versicherte ihr Dr. Keller. »Möchten Sie, daß man Ihnen hilft, Ashley?« »Ja.« »Dann müssen Sie an mich glauben. Sie müssen mitarbeiten. Allein schaffe ich das nicht. Was meinen Sie dazu?« Sie schwieg eine ganze Weile. »Was muß ich dazu tun?« »Zunächst müssen Sie mir versprechen, daß Sie sich niemals etwas zuleide tun werden.« »Na schön. Ich verspreche es.« »Ich möchte, daß mir auch Toni und Alette das versprechen. Daher werde ich Sie jetzt unter Hypnose setzen.« Ein paar Minuten später sprach Dr. Keller mit Toni. »Diese selbstsüchtige Zicke hat versucht, uns umzubringen. Sie denkt nur an sich. Siehst du das nicht ein?« »Toni -« »Also, ich laß mir das jedenfalls nicht bieten. Ich -« »Würden Sie einen Moment still sein und mir zuhören?« »Ich höre.« »Sie müssen mir versprechen, daß Sie Ashley nichts zuleide tun.« »Wieso sollte ich so was versprechen?« »Das will ich Ihnen sagen: Weil Sie ein Teil von ihr sind. Sie sind eine Ausgeburt ihres Leids. Ich weiß noch nicht, was Sie durchmachen mußten, Toni, aber ich weiß, daß es etwas ganz Schreckliches gewesen sein muß. Aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß auch sie das durchlitten hat und daß Alette aus demselben Grund geboren wurde wie Sie. Ihr drei habt viel gemein. Ihr solltet euch lieber gegenseitig helfen, statt euch gegenseitig zu bekämpfen. Geben Sie mir Ihr Wort darauf?« Keine Reaktion. »Toni?« »Von mir aus«, versetzte sie unwillig. »Vielen Dank. Möchten Sie jetzt mit mir über England sprechen?« »Nein.« »Alette. Sind Sie das?« »Ja.« Was denkst du denn, du Blödmann? »Ich möchte, daß Sie mir das gleiche versprechen wie Toni. Daß Sie Ashley niemals etwas zuleide tun werden.« Dir geht’s wohl bloß um sie, was? Ashley, Ashley, Ashley. Und was ist mit uns? »Alette?« »Ja. Ich verspreche es.« Die Monate verstrichen, ohne daß auch nur der geringste Fortschritt zu erkennen war. Dr. Keller saß an seinem Schreibtisch, ging seine Aufzeichnungen durch, ließ all die Sitzungen Revue passieren und versuchte herauszufinden, woran es liegen mochte. Er betreute ein halbes Dutzend weiterer Patienten, mußte aber feststellen, daß ihn keiner so sehr beschäftigte wie Ashley. Da war diese unglaubliche Kluft in ihrem Wesen -einerseits unschuldig und verletzlich, andererseits von finsteren Mächten besessen, die jederzeit die Oberhand gewinnen konnten. Jedesmal wenn er mit Ashley sprach, überkam ihn ein geradezu übermächtiges Bedürfnis, sie zu beschützen. Als wäre sie meine Tochter, dachte er. Ach, was soll der Quatsch? Ich bin dabei, mich in sie zu verlieben. Dr. Keller sprach bei Otto Lewison vor. »Ich habe ein Problem, Otto.« »Ich dachte, das wäre unseren Patienten vorbehalten.« »Es geht auch um eine unserer Patientinnen. Ashley Patterson.« »Aha?« »Ich habe festgestellt, daß ich - daß ich mich zu ihr hingezogen fühle.« »Eine Gegenübertragung etwa?« »Ja.« »Das könnte für Sie beide sehr gefährlich werden, Gilbert.« »Ich weiß.« »Nun, solange Sie sich dessen bewußt sind ... Seien Sie vorsichtig.« »Das habe ich vor.« November: Heute morgen habe ich Ashley ein Tagebuch gegeben. »Ich möchte, daß Sie, Toni und Alette das führen, Ashley. Sie können es in Ihrem Zimmer aufbewahren. Wenn Ihnen irgend etwas einfällt, was Sie lieber schriftlich festhalten wollen, statt mit mir darüber zu reden, dann notieren Sie es einfach.« »In Ordnung, Gilbert.« Einen Monat später notierte Dr. Keller in sein Tagebuch: Dezember: Die Behandlung ist an einem toten Punkt angelangt. Toni und Alette weigern sich, über die Vergangenheit zu sprechen. Außerdem wird es zusehends schwieriger, Ashley dazu zu überreden, daß sie sich einer Hypnose unterzieht. März: Das Tagebuch ist immer noch leer. Ich bin mir nicht sicher, wer mehr Widerstand leistet, Ashley oder Toni. Wenn ich Ashley hypnotisiere, kommen Toni und Alette für kurze Zeit zum Vorschein. Sie weigern sich beharrlich, über die Vergangenheit zu sprechen. Juni: Ich spreche regelmäßig mit Ashley, aber ich habe das Gefühl, daß es keinerlei Fortschritt zu verzeichnen gibt. Das Tagebuch ist nach wie vor unberührt. Ich habe Alette eine Staffelei und Farben besorgt. Ich erhoffe mir einen Durchbruch, wenn sie anfängt zu malen. Juli: Irgend etwas ist geschehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein Anzeichen für einen Fortschritt ist. Alette hat ein wunderschönes Bild vom Klinikgelände gemalt. Sie schien sich zu freuen, als ich sie dazu beglückwünschte. An diesem Abend war das Bild zerfetzt. Dr. Keller und Otto Lewison tranken zusammen Kaffee. »Ich glaube, ich versuche es einmal mit Gruppentherapie«, sagte Dr. Keller. »Alles andere scheint nicht anzusprechen.« »Wie viele andere Patienten wollen Sie hinzuziehen?« »Allenfalls ein halbes Dutzend. Ich möchte, daß sie allmählich mit anderen Menschen interagiert. Derzeit lebt sie in ihrer eigenen Welt. Ich möchte sie da herausholen.« Dr. Keller führte Ashley in das kleine Sitzungszimmer, in dem bereits eine Handvoll anderer Leute saßen. »Ich möchte Sie mit ein paar Freunden bekannt machen«, sagte Dr. Keller. Er führte Ashley herum und stellte sie vor, doch sie war zu sehr mit sich beschäftigt, um auf die Namen zu achten. Die Namen verschwammen alle miteinander. Da war die Fette, der Knochige, die Kahle, der Lahme, die Chinesin und der Sanftmütige. Alle wirkten ausgesprochen freundlich. »Setz dich«, sagte die Kahle. »Möchtest du einen Kaffee?« Ashley nahm Platz. »Vielen Dank.« »Wir haben schon von dir gehört«, sagte der Sanftmütige. »Du hast allerhand durchgemacht.« Ashley nickte. »Ich glaube, wir haben alle eine Menge durchgemacht«, sagte der Knochige. »Aber man hat uns geholfen. Diese Klinik hier wirkt wahre Wunder.« »Hier arbeiten die besten Ärzte, die es gibt«, sagte die Chinesin. Sie wirken alle so normal, dachte Ashley. Dr. Keller saß an der Stirnseite und moderierte die Unterhaltung. Nach einer Dreiviertelstunde stand er auf. »Ich glaube, das reicht vorerst, Ashley.« Ashley erhob sich. »Es war nett, Sie alle kennenzulernen.« Der Lahme trat zu ihr und flüsterte: »Trink hier kein Wasser. Es ist vergiftet. Die wollen uns umbringen und weiter das Geld vom Staat kassieren.« Ashley schluckte. »Danke. Ich - ich werde daran denken.« »Woran leiden sie?« fragte Ashley, als sie mit Dr. Keller den Korridor entlangging. »An Paranoia, Schizophrenie, MPS, Zwangsneurosen. Aber sie haben teilweise bemerkenswerte Fortschritte gemacht, seit sie hier sind, Ashley. Möchten Sie regelmäßig mit ihnen plaudern?« »Nein.« Dr. Keller kam in Otto Lewisons Büro. »Ich komme nicht mehr weiter«, bekannte er. »Die Gruppentherapie hat nichts gebracht, und bei den Hypnosesitzungen kommt überhaupt nichts mehr heraus. Ich möchte etwas anderes versuchen.« »Und zwar?« »Wenn Sie es erlauben, würde ich Ashley gern zum Essen ausführen.« »Das halte ich für keine gute Idee, Gilbert. Es könnte gefährlich werden. Sie hat bereits -« »Ich weiß. Aber im Augenblick sieht sie in mir den Feind. Ich möchte, daß sie mich als Freund betrachtet.« »Ihr Alter ego, diese Toni, wollte Sie schon einmal töten. Was ist, wenn sie es wieder versucht?« »Damit kann ich umgehen.« Dr. Lewison dachte darüber nach. »Na schön. Soll Sie jemand begleiten?« »Nein. Ich komme allein zurecht, Otto.« »Wann wollen Sie damit anfangen?« »Heute abend.« »Sie möchten mich zum Essen ausführen?« »Ja. Ich glaube, es wird Ihnen guttun, wenn Sie mal eine Weile von hier wegkommen, Ashley. Was sagen Sie dazu?« »Ja.« Ashley war überrascht, wie aufgeregt sie beim bloßen Gedanken daran war, daß sie mit Dr. Keller zum Essen ausgehen sollte. Es macht bestimmt Spaß, mal einen Abend lang von hier wegzukommen, dachte sie. Doch sie wußte, daß es um mehr ging. Die Vorstellung, daß sie mit Gilbert Keller verabredet war, versetzte sie geradezu in Hochstimmung. Sie aßen in einem acht Kilometer entfernten japanischen Restaurant namens Otani Gardens zu Abend. Dr. Keller wußte, daß er ein Risiko einging. Jeden Moment konnte Toni oder Alette die Oberhand gewinnen. Man hatte ihn gewarnt. Für mich ist es wichtiger, daß Ashley Vertrauen zu mir gewinnt, damit ich ihr helfen kann. »Es ist schon komisch, Gilbert«, sagte Ashley, als sie sich in dem gut besuchten Restaurant umblickte. »Was?« »Die Menschen hier wirken überhaupt nicht anders als die Leute in der Klinik.« »Im Grunde genommen sind sie auch nicht anders, Ashley. Ich bin davon überzeugt, daß auch sie alle ihre Probleme haben. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Menschen in der Klinik nicht so gut damit zurechtkommen. Daher müssen wir ihnen dabei helfen.« »Ich wußte nicht, daß ich irgendwelche Probleme hatte, bis -na ja, Sie wissen schon.« »Wissen Sie auch, warum, Ashley? Weil Sie sie verdrängt haben. Ihnen ist irgend etwas Schreckliches widerfahren, das Sie nicht ertragen konnten, und daher haben Sie unterbewußt einen Schutzwall errichtet und sich vor dem Bösen abgeschottet. Bis zu einem gewissen Grad tun das viele Menschen.« Er wechselte bewußt das Thema. »Wie ist der Fisch?« »Köstlich, vielen Dank.« Fortan gingen Ashley und Dr. Keller einmal pro Woche zum Essen aus. Mittags speisten sie zumeist in einem ausgezeichneten kleinen italienischen Restaurant namens Banducci’s und abends entweder in The Palm, bei Eveleene’s oder im Gumbo Pot. Weder Toni noch Alette traten in Erscheinung. Eines Abends führte Dr. Keller Ashley in einen kleinen Nachtklub aus, in dem eine großartige Band zum Tanz aufspielte. »Unterhalten Sie sich?« fragte er. »Sehr sogar. Vielen Dank.« Sie blickte ihn an. »Sie sind ganz anders als andere Doktoren.« »Können die etwa nicht tanzen?« »Sie wissen genau, was ich meine.« Er hielt sie eng umfaßt, und beide empfanden ein tiefes Bedürfnis füreinander. Das könnte für Sie beide sehr gefährlich werden, Gilbert ... 25 »Ich weiß genau, was für krumme Touren du fährst, Doktor-chen. Du willst Ashley weismachen, daß du ihr Freund bist.« »Aber das bin ich doch, Toni, und Ihrer auch.« »Nein, bist du nicht. Sie findest du toll, aber ich bin für dich bloß Luft.« »Da irren Sie sich. Ich achte Sie und Alette ebensosehr wie Ashley. Ihr seid für mich alle gleich wichtig.« »Ist das wahr?« »Ja. Toni, als ich Ihnen sagte, daß Sie eine wunderbare Stimme hätten, habe ich das ernst gemeint. Spielen Sie ein Instrument?« »Klavier.« »Ich könnte dafür sorgen, daß Sie das Klavier im Aufenthaltsraum benutzen dürfen. Hätten Sie Lust dazu, ein bißchen darauf zu spielen und zu singen?« »Könnte schön sein.« Es klang so, als könnte sie es kaum erwarten. Dr. Keller lächelte. »Dann kümmere ich mich darum. Es wird Ihnen zur Verfügung gestellt.« »Danke.« Dr. Keller sorgte dafür, daß Toni jeden Nachmittag eine Stunde lang ungestört im Aufenthaltsraum musizieren konnte. Zunächst nur hinter verschlossenen Türen, doch als die anderen Insassen das Klavierspiel und den Gesang hörten, öffneten sie die Tür, um zu lauschen. Und nach kurzer Zeit spielte sie vor vollem Haus. Dr. Keller ging gemeinsam mit Dr. Lewison seine Aufzeichnungen durch. »Was ist mit der anderen?« sagte Dr. Lewison. »Dieser Alette?« »Ich habe ihr vorgeschlagen, daß sie jeden Nachmittag im Garten ein bißchen malen darf. Unter Aufsicht natürlich. Ich glaube, da könnte etwas dabei herauskommen.« Doch Alette weigerte sich. »Warum rühren Sie die Farben, die ich Ihnen gegeben habe, nicht an?« fragte Dr. Keller Alette bei einer der Hypnosesitzungen. »Das ist doch ein Jammer. Sie sind so begabt.« Woher willst du das denn wissen? »Haben Sie etwa keine Lust dazu?« »Doch.« »Warum tun Sie’s dann nicht?« »Weil ich es nicht kann.« Geh mir nicht auf den Geist. »Wer hat denn das gesagt?« »Meine - meine Mutter.« »Über Ihre Mutter haben wir noch gar nicht geredet. Möchten Sie mir etwas darüber erzählen?« »Da gibt’s nichts zu erzählen.« »Sie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, nicht wahr?« Sie schwieg eine ganze Weile. »Ja. Sie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.« Tags darauf fing Alette an zu malen. Sie hatte sichtlich Spaß daran, draußen im Garten an ihrer Staffelei zu sitzen. Wenn sie malte, war sie so in sich versunken, daß sie alles um sich herum vergaß. Manchmal gesellten sich einige andere Insassen zu ihr und sahen ihr zu. Sie nahm nur ihre Klangfarben wahr. »Deine Bilder gehören in eine Galerie.« Schwarz. »Du bist ja richtig gut.« Gelb. »Wo hast du das gelernt?« Schwarz. »Kannst du irgendwann mal ein Bild von mir malen?« Orange. »Ich wünschte, ich könnte so was auch.« Schwarz. Es fiel ihr immer schwer, sich loszureißen, wenn die Zeit vorüber war und sie wieder in das große Haus zurückkehren mußte. »Ich möchte Ihnen jemand vorstellen, Ashley. Das ist Lisa Garrett.« Sie war um die Fünfzig, ziemlich klein und wirkte wie eine Geistererscheinung. »Lisa darf heute nach Hause.« Die Frau strahlte sie an. »Ist das nicht wunderbar? Und das habe ich nur Dr. Keller zu verdanken.« Gilbert Keller schaute Ashley an. »Lisa hat ebenfalls an MPS gelitten. Sie hatte dreißig andere Persönlichkeiten.« »Ganz recht, meine Liebe. Und sie sind alle weg.« »Sie ist die dritte MPS-Patientin«, sagte Dr. Keller mit Nachdruck, »die uns dieses Jahr verläßt.« Und Ashley faßte neue Hoffnung. »Dr. Keller ist sehr verständnisvoll«, sagte Alette. »Er mag uns anscheinend.« »Du bist vielleicht dämlich«, meinte Toni abfällig. »Kapierst du denn nicht, was der vorhat? Ich hab’s dir doch schon mal gesagt. Der tut nur so, als ob er uns mag, damit wir nach seiner Pfeife tanzen. Und weißt du, was er vorhat? Er will uns alle drei zusammenbringen, Süße, damit er Ashley davon überzeugen kann, daß sie uns nicht braucht. Und weißt du, was dann passiert? Wir beide sterben. Willst du dich darauf etwa einlassen? Ich jedenfalls nicht.« »Na ja, nein«, sagte Alette zögernd. »Dann hör mir mal gut zu. Wir tun so, als ob wir mitspielen. Der gute Doktor soll ruhig glauben, daß wir ihm helfen wollen. Wir führen ihn an der Nase rum. Wir haben’s nicht eilig. Aber eines Tages, das versprech’ ich dir, kommen wir hier raus.« »Ganz wie du meinst, Toni.« »Gut. Dann wollen wir doch mal zusehen, daß sich das olle Doktorchen richtig klasse vorkommt.« Sie erhielt einen Brief von David, dem ein Foto von einem etwa zweijährigen Jungen beigelegt war. Liebe Ashley, Ich hoffe, daß Sie sich einigermaßen wohl fühlen und Ihr Heilungsprozeß allmählich voranschreitet. Bei uns läuft alles bestens. Ich bin schwer beschäftigt, aber die Arbeit macht Spaß. Ich lege Ihnen ein Foto von Jeffrey bei. Wenn er so weiterwächst, ist er verheiratet, ehe wir uns versehen. Ansonsten gibt es nichts Neues zu berichten. Wir denken nach wie vor an Sie. Sandra läßt Ihnen beste Grüße und Wünsche bestellen. Auch von mir alles Gute. David Ashley betrachtete das Foto. Ein bezaubernder kleiner Junge, dachte sie. Hoffentlich hat er ein glückliches Leben. Ashley ging zum Mittagessen in den Speisesaal. Als sie zurückkehrte, lag das Foto in tausend Fetzen zerrissen am Boden. 15. Juni, 13.30 Uhr: Patientin: Ashley Patterson. Einzeltherapie unter Anwendung von Natriumamytal. Alter ego: Alette Peters. »Erzählen Sie mir von Rom, Alette.« »Es ist die schönste Stadt auf der ganzen Welt. Dort gibt’s lauter tolle Museen. Ich bin in allen gewesen.« Was verstehst du denn schon von Museen? »Und deshalb wollten Sie Malerin werden?« »Ja.« Was denn sonst? Feuerwehrmann vielleicht? »Haben Sie Kunst studiert?« »Nein, ging nicht.« Laß mich doch in Frieden. »Warum nicht? Weil Ihre Mutter es nicht wollte?« »O nein. Ich habe bloß festgestellt, daß ich nicht das nötige Talent hatte.« Toni - schaff ihn mir vom Leibe! »Hatten Sie damals irgendein traumatisches Erlebnis? Können Sie sich erinnern, ob seinerzeit irgend etwas Schreckliches vorgefallen ist?« »Nein, ich war sehr glücklich.« Toni! 15. August, 9.00 Uhr: Patientin: Ashley Patterson. Hypnotherapeutische Sitzung mit Alter ego Toni Prescott. »Wollen wir uns über London unterhalten, Toni?« »Ja. Mir hat’s dort unheimlich gut gefallen. London ist einfach weltoffen. Da ist jede Menge geboten.« »Hatten Sie in London irgendwelche unangenehmen Erlebnisse?« »Unangenehm? Nein. Ich hab’ mich in London pudelwohl gefühlt.« »Und Ihres Wissens nach ist Ihnen dort auch nichts Unangenehmes widerfahren?« »Selbstverständlich nicht.« Und jetzt sieh zu, was du damit anfängst, du Pfeife. Mit jeder Sitzung fielen Ashley mehr Erinnerungen ein. Als sie eines Abends zu Bett ging, träumte sie, sie sei wieder bei Global Computer Graphics. Shane Miller beglückwünschte sie zu einem gelungenen Werk. Wir kamen ohne dich nicht zurecht, Ashley. Dich werden wir nie mehr fortlassen. Dann saß sie in einer Zelle, und wieder stand Shane Miller vor ihr. Mir ist dabei gar nicht wohl zumute, aber unter diesen Umständen sieht sich die Firma leider gezwungen, dich zu entlassen. Wir können es uns einfach nicht leisten, in so eine Sache hineingezogen zu werden. Das verstehst du doch, nicht? Es ist nicht persönlich gemeint. Als Ashley am nächsten Morgen aufwachte, war ihr Kissen naßgeweint. Alette war nach diesen Sitzungen immer zutiefst niedergeschlagen. Ihr wurde dabei bewußt, wie sehr sie sich nach Rom sehnte und wie glücklich sie gewesen war, als sie Richard Melton kennengelernt hatte. Wir hätten so gut zueinander gepaßt, dachte sie. Aber das ist vorbei. Längst vorbei. Toni konnte die Therapiestunden nicht ausstehen, weil dabei zu viele schlimme Erinnerungen wieder hochkamen. Sie hatte Ashley und Alette doch nur beschützen wollen. Aber dankte ihr das jemand? Nein. Sie wurde hinter Schloß und Riegel gehalten wie eine ganz gemeine Kriminelle. Aber ich komme hier raus, schwor sich Toni. Irgendwie komm’ ich hier raus. Die Tage und Wochen vergingen, und ein neues Jahr brach an, ohne daß sich auch nur der geringste Erfolg einstellte. Dr. Keller war mit seinem Latein am Ende. »Ich habe Ihren letzten Bericht gelesen«, sagte Dr. Lewison zu Gilbert Keller. »Meinen Sie, es handelt sich tatsächlich um eine Gedächtnislücke, oder machen sie uns nur etwas vor?« »Sie machen uns etwas vor, Otto. Es ist, als wüßten sie, was ich vorhabe, und wollten es verhindern. Ich glaube, Ashley möchte wirklich, daß man ihr hilft, aber die anderen lassen es nicht zu. Unter Hypnose kann man für gewöhnlich zu ihnen durchdringen, aber Toni ist eine sehr starke Persönlichkeit. Sie beherrscht alle anderen, und sie ist gefährlich.« »Gefährlich?« »Ja. Stellen Sie sich doch einmal vor, wieviel Haß jemand empfinden muß, der fünf Männer ermordet und kastriert.« Bis Jahresende stellte sich keine Besserung ein. Bei anderen Patienten konnte Dr. Keller Erfolge verzeichnen, doch Ashley, die ihm am meisten am Herzen lag, machte keinerlei Fortschritte. Dr. Keller hatte das Gefühl, daß Toni sich einen Spaß daraus machte, mit ihm zu spielen. Sie war fest entschlossen, ihm den Erfolg zu verwehren. Und dann, als niemand damit rechnete, gab es den Durchbruch. Es begann mit einem Brief von Dr. Patterson. 5. Juni Liebe Ashley, ich habe geschäftlich in New York zu tun und würde gern vorbeikommen und Dich besuchen. Ich werde Dr. Lewison anrufen, und wenn er nichts dagegen hat, kannst Du um den 25. des Monats mit meinem Besuch rechnen. In Liebe Vater Drei Wochen später traf Dr. Patterson in Begleitung einer attraktiven, dunkelhaarigen Frau Anfang Vierzig und ihrer dreijährigen Tochter Katrina ein. Sie wurden in Dr. Lewisons Büro geführt. Er erhob sich, als sie eintraten. »Dr. Patterson, freut mich, Sie kennenzulernen.« »Besten Dank. Das sind Victoria Aniston und ihre Tochter Katrina.« »Wie geht es Ihnen, Miss Aniston? Katrina.« »Ich habe sie mitgebracht, damit sie Ashley kennenlernen.« »Wunderbar. Sie ist im Augenblick bei Dr. Keller, aber sie müßten bald fertig sein.« »Wie macht sich Ashley?« sagte Dr. Patterson. Otto Lewison zögerte einen Moment. »Könnte ich Sie ein paar Minuten allein sprechen?« »Selbstverständlich.« Dr. Patterson wandte sich an Miss Aniston und Katrina. »Soweit ich gesehen habe, ist da draußen ein herrlicher Garten. Ihr könnt ja da draußen warten, und ich komme mit Ashley nach.« Victoria Aniston lächelte. »Gut.« Sie blickte zu Otto Lewison. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Doktor.« »Vielen Dank, Miss Aniston.« Dr. Patterson wartete, bis die beiden weg waren. Dann wandte er sich an Otto Lewison. »Gibt es Komplikationen?« »Ich will ganz offen sein, Dr. Patterson. Wir kommen nicht so gut voran, wie wir gehofft hatten. Ashley sagt, sie möchte, daß man ihr hilft, aber sie trägt nichts dazu bei. Genauer gesagt, sie wehrt sich gegen die Behandlung.« Dr. Patterson musterte ihn verdutzt. »Das ist nichts Ungewöhnliches. In einem gewissen Stadium haben MPS-Patienten Angst davor, sich mit ihren anderen Persönlichkeiten auseinanderzusetzen. Es erschreckt sie. Allein der Gedanke daran, daß es in ihrem Bewußtsein noch andere Charaktere gibt, die jederzeit das Heft in die Hand nehmen können - nun ja, Sie können sich sicher vorstellen, wie verheerend sich das auswirken kann.« Dr. Patterson nickte. »Natürlich.« »In Ashleys Fall bereitet uns noch etwas anderes Kopfzerbrechen. Der Ursprung eines derartigen Leidens läßt sich so gut wie immer auf einen sexuellen Mißbrauch zurückführen, der dem Patienten in jungen Jahren widerfahren ist. In Ashleys Unterlagen ist aber nichts dergleichen vermerkt, so daß wir keine Ahnung haben, wie und weshalb es zu der traumatischen Erfahrung kam.« Dr. Patterson saß einen Moment lang schweigend da. »Da kann ich Ihnen weiterhelfen«, versetzte er dann gepreßt. Er atmete tief durch. »Ich mache mir deswegen schwere Vorwürfe.« Otto Lewison betrachtete ihn gespannt. »Es geschah, als Ashley sechs war. Ich mußte nach England, aber meine Frau konnte nicht mitkommen. Ich habe Ashley mitgenommen. Meine Frau hatte dort einen älteren Cousin namens John. Mir war das seinerzeit nicht klar, aber John war ... psychisch gestört. Eines Tages mußte ich einen Vortrag halten, und John bot mir an, daß er auf sie aufpassen wollte. Als ich an diesem Abend zurückkehrte, war er weg. Ashley war völlig aufgelöst. Es dauerte eine Weile, bis ich sie wieder beruhigen konnte. Danach wollte sie niemanden an sich heranlassen, wurde ängstlich und verschlossen. Eine Woche später wurde John wegen Unzucht mit Kindern festgenommen.« Dr. Pattersons Miene war schmerzerfüllt. »Ich habe mir das nie verziehen. Danach habe ich Ashley nie mehr mit jemandem allein gelassen.« Lange Zeit herrschte Schweigen. Schließlich sagt Otto Lewi-son: »Das tut mir schrecklich leid. Aber ich glaube, Sie haben uns den Ansatzpunkt geliefert, den wir gesucht haben, Dr. Patterson. Jetzt kann Dr. Keller gezielt zu Werke gehen.« »Für mich war diese Erfahrung so schmerzlich, daß ich bisher nicht einmal darüber sprechen konnte.« »Das kann ich verstehen.« Otto Lewison schaute auf seine Uhr. »Ashley wird noch eine Weile brauchen. Sie können ja unterdessen mit Miss Aniston draußen im Garten warten. Ich schicke Ashley hinaus, wenn sie soweit ist.« Dr. Patterson erhob sich. »Besten Dank. Das mache ich.« Otto Lewison blickte ihm hinterher. Er konnte es kaum abwarten, Dr. Keller davon zu berichten, was er soeben erfahren hatte. Victoria Aniston und Katrina erwarteten ihn. »Hast du Ashley gesehen?« fragte Victoria Aniston. »Sie wird in ein paar Minuten herausgeschickt«, erwiderte Dr. Patterson. Er blickte sich auf dem weitläufigen Gelände um. »Es ist zauberhaft hier, nicht wahr?« Katrina rannte zu ihm. »Noch mal Flieger spielen.« Er lächelte. »Von mir aus.« Er hob sie hoch, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf. »Höher!« »Moment. Und los geht’s.« Er warf sie erneut hoch, fing sie auf, und sie kreischte dabei vor Vergnügen. »Noch mal!« Dr. Patterson stand mit dem Rücken zum Haus, so daß er nicht sah, wie Ashley und Dr. Keller herauskamen. »Höher!« kreischte Katrina. Ashley blieb wie erstarrt in der Tür stehen. Sie sah, wie ihr Vater mit dem kleinen Mädchen spielte, und mit einemmal kam es ihr vor, als ob die Welt in tausend Stücke zerbarst. Danach lief alles wie in Zeitlupe ab. Da waren Bilder, Bilder von einem kleinen Mädchen, das in die Luft geworfen wurde ... Höher, Papa! »Moment. Und los geht’s.« Jemand sagte: »Das wird dir gefallen ...« Dann legte sich ein Mann neben sie ins Bett. Das kleine Mädchen schrie: »Hör auf. Nein. Bitte nicht.« Der Mann war in Dunkelheit gehüllt. Er drückte sie nach unten, und er streichelte sie. »Ist das nicht schön?« Und plötzlich schwand die Dunkelheit, und Ashley konnte das Gesicht des Mannes erkennen. Es war ihr Vater. Als Ashley ihn jetzt im Garten mit dem kleinen Mädchen spielen sah, riß sie den Mund auf und schrie und konnte nicht mehr damit aufhören. Dr. Patterson, Victoria Aniston und Katrina drehten sich erschrocken um. »Tut mir schrecklich leid«, sagte Dr. Keller rasch. »Heute ist ein schlechter Tag. Könnten Sie ein andermal wiederkommen?« Und er trug Ashley ins Haus. Man hatte sie in einen der Notfallräume gebracht. »Ihr Puls ist ungewöhnlich hoch«, sagte Dr. Keller. »Sie befindet sich in einem Dämmerzustand.« Er trat neben sie und sagte: »Ashley, Sie haben nichts zu befürchten. Sie sind hier in Sicherheit. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun. Achten Sie einfach auf meine Stimme und entspannen Sie sich ... entspannen Sie sich ... entspannen Sie sich ...« Es dauerte eine halbe Stunde. »Ashley, erzählen Sie mir, was vorgefallen ist. Worüber haben Sie sich so aufgeregt?« »Vater und das kleine Mädchen .« »Was ist mit ihnen?« Die Antwort kam von Toni. »Sie verkraftet es nicht. Sie hat Angst, daß er mit der Kleinen das gleiche macht wie mit ihr.« Dr. Keller starrte sie einen Moment lang an. »Was - was hat er mit ihr gemacht?« Es geschah in London. Sie war im Bett. Er setzte sich zu ihr und sagte: »Ich werde dich glücklich machen, mein Schatz.« Zunächst kitzelte er sie, und sie mußte lachen. Dann zog er ihr den Schlafanzug aus und spielte an ihr herum, »fühlt sich das nicht gut an?« Ashley fing an zu schreien: »Hör auf. Laß das.« Doch er hörte nicht auf. Er hielt sie fest und machte immer weiter. »War es das erstemal, daß so etwas vorgekommen ist, Toni?« »Ja.« »Wie alt war Ashley?« »Sie war sechs.« »Und damals wurden Sie geboren.« »Ja. Ashley war so verstört. Sie konnte es nicht verkraften.« »Was ist danach geschehen?« »Vater kam jede Nacht und stieg zu ihr ins Bett.« Die Worte sprudelten förmlich aus ihr heraus. »Sie konnte ihn nicht daran hindern. Als sie wieder nach Hause kamen, erzählte Ashley ihrer Mutter, was vorgefallen war, und Mutter nannte sie ein verlogenes Luder. Ashley hatte Angst, schlafen zu gehen, weil sie wußte, daß Papa in ihr Zimmer kommen würde. Sie mußte ihn immer anfassen und an ihm rumspielen. Und er sagte zu ihr: >Verrate niemandem was davon, sonst hab’ ich dich nicht mehr lieb.< Sie konnte es niemandem erzählen. Mama und Papa haben sich ständig angebrüllt, und Ashley dachte, sie wäre daran schuld. Sie wußte, das sie etwas Unrechtes getan hatte, aber sie wußte nicht was. Mama haßte sie.« »Wie lange ging das?« fragte Dr. Keller. »Als ich acht war .« Toni stockte. »Fahren Sie fort, Toni.« Ashleys Miene veränderte sich, und dann meldete sich Alette zu Wort. »Wir sind nach Roma gezogen«, sagte sie, »wo er am Policlinico Umberto Primo einen Forschungsauftrag bekam.« »Und dort wurden dann Sie geboren?« »Ja. Ashley konnte es eines Nachts nicht mehr aushalten, und da bin ich ihr zu Hilfe gekommen.« »Was war geschehen, Alette?« »Papa kam in ihr Zimmer, als sie geschlafen hat. Er war nackt, und er kroch in ihr Bett und drang gewaltsam in sie ein. Sie versuchte ihn daran zu hindern, konnte es aber nicht. Sie hat ihn angebettelt, es nie wieder zu tun, aber er kam jede Nacht zu ihr. Und immer hat er gesagt: >So zeigt man als Mann einer Frau, daß man sie liebt. Du bist meine Frau, und ich liebe dich. Aber du darfst niemandem etwas davon verraten. < Und Ashley konnte es keinem erzählen.« Ashley schluchzte leise vor sich hin. Ihr Gesicht war tränen-überströmt. Gilbert Keller mußte sich beherrschen, damit er sie nicht in die Arme schloß, sie festhielt, ihr erklärte, daß er sie liebte und daß alles gut werden würde. Doch das war natürlich unmöglich. Ich bin ihr Therapeut. Als Dr. Keller in Dr. Lewisons Büro zurückkehrte, waren Dr. Patterson, Victoria Aniston und Katrina bereits gegangen. »Nun, darauf haben wir die ganze Zeit gewartet«, erklärte er Otto Lewison. »Endlich haben wir einen Durchbruch erreicht. Ich weiß jetzt, wann und weshalb Toni und Alette entstanden sind. Ab jetzt dürfte sich ein deutlicher Umschwung abzeichnen.« Dr. Keller hatte recht. Es tat sich etwas. 26 Die hypnotherapeutische Sitzung hatte begonnen. »Ashley, erzählen Sie mir etwas von Jim Cleary«, sagte Dr. Keller, als Ashley soweit war. »Ich habe Jim geliebt. Wir wollten gemeinsam davonlaufen und heiraten.« »Ja ...?« »Auf der Abschlußfeier hat Jim mich gefragt, ob ich Lust hätte, mit zu ihm zu kommen, und ich . ich habe nein gesagt. Als er mich nach Hause brachte, hat Vater auf uns gewartet. Er war wütend. Er hat zu Jim gesagt, er soll verschwinden und sich nie wieder blicken lassen.« »Was ist dann passiert?« »Ich habe beschlossen, zu Jim zu gehen. Ich habe eine Reisetasche gepackt und wollte zu ihm gehen.« Sie zögerte. »Unterwegs habe ich es mir anders überlegt und bin wieder nach Hause gegangen. Ich -« Ashleys Miene veränderte sich. Sie wurde sichtlich gelöster und fläzte im Sessel. Dann meldete sich Toni zu Wort. »Den Teufel hat sie getan. Sie ist sehr wohl zu ihm nach Hause gegangen, Doktorchen.« Als sie zu Jim Clearys Haus kam, war alles dunkel. »Meine Eltern sind übers Wochende weggefahren.« Ashley klingelte. Jim Cleary öffnete die Tür. Er war im Schlafanzug. »Ashley.« Er grinste sie strahlend an. »Du bist also doch gekommen.« Er zog sie hinein. »Ich bin hergekommen, weil ich -« »Mir ist egal, warum du gekommen bist. Hauptsache, du bist hier.« Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Etwas zu trinken?« »Nein. Einen Schluck Wasser vielleicht.« Plötzlich war ihr bang ums Herz. »Klar. Komm rein.« Er nahm sie an der Hand und führte sie in die Küche. Er goß ihr ein Glas Wasser ein und betrachtete sie, während sie trank. »Du wirkst nervös.« »Ich - das bin ich auch.« »Du brauchst nicht nervös zu sein. Meine Eltern kommen auf keinen Fall zurück. Komm, wir gehen nach oben.« »Jim, das sollten wir lieber sein lassen.« Er trat hinter sie, griff nach ihren Brüsten. Sie drehte sich um. »Jim ...« Sie spürte seine Lippen auf ihrem Mund, und dann drängte er sie gegen die Arbeitsplatte. »Ich werde dich glücklich machen, mein Schatz.« Sie hörte ihren Vater sagen: »Ich werde dich glücklich machen, mein Schatz.« Sie erstarrte. Sie spürte, wie er sie auszog und in sie eindrang, als sie nackt dastand, und schrie innerlich auf. Und dann verfiel sie in wilde Raserei. Sie sah das Schlachtermesser, das in einem Holzblock steckte. Sie ergriff es und stach schreiend auf seine Brust ein. »Hör auf, Vater . Hör auf . Hör auf . Hör auf .« Sie blickte zu Jim hinab, der blutüberströmt am Boden lag. »Du Tier«, schrie sie. »Das wirst du niemand mehr antun.« Und sie bückte sich und stieß ihm das Messer in die Hoden. Um halb sechs Uhr morgens ging Ashley zum Bahnhof und wartete auf Jim. Er ließ sich nicht blicken. Allmählich bekam sie es mit der Angst zu tun. Was konnte nur dazwischengekommen sein? Ashley hörte von fern den Zug pfeifen und schaute auf ihre Uhr. Eine Minute vor sieben. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie stand auf und blickte sich hektisch um. Irgendwas Schreckliches muß ihm zugestoßen sein. Ein paar Minuten später stand Ashley da und sah zu, wie all ihre Träume zerstoben, als der Zug abfuhr. Sie wartete noch eine halbe Stunde und ging dann langsam nach Hause. Mittags saß Ashley mit ihrem Vater in einem Flugzeug nach London . Die Sitzung war zu Ende. ». vier . fünf«, zählte Dr. Keller. »Sie werden jetzt wieder aufwachen.« Ashley schlug die Augen auf. »Was ist passiert?« »Toni hat mir erzählt, wie sie Jim Cleary umgebracht hat. Er ist über sie hergefallen.« Ashley wurde kreidebleich. »Ich möchte jetzt auf mein Zimmer.« Dr. Keller berichtete Otto Lewison von der jüngsten Entwicklung. »Allmählich kommen wir wirklich voran, Otto. Bislang hatte jede von ihnen Angst davor, den ersten Schritt zu tun. Daher diese Blockade. Aber sie werden jetzt gelöster. Die Richtung, die wir eingeschlagen haben, stimmt, aber Ashley sperrt sich nach wie vor dagegen, sich der Wahrheit zu stellen.« »Sie hatte keine Ahnung, wie es zu diesen Morden kam?« sagte Dr. Lewison. »Nicht die geringste. Ihr Bewußtsein war völlig ausgeschaltet. Toni hat alles gesteuert.« Zwei Tage später. »Sitzen Sie bequem, Ashley?« »Ja.« Ihre Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne. »Ich möchte mit Ihnen über Dennis Tibble sprechen. War er ein Freund von Ihnen?« »Dennis und ich haben bei der gleichen Firma gearbeitet. Aber Freunde waren wir eigentlich nicht.« »Im Polizeibericht steht, daß man Ihre Fingerabdrücke in seiner Wohnung gefunden hat.« »Das stimmt. Ich bin hingegangen, weil er von mir einen Rat wollte.« »Und wie ging es weiter?« »Wir haben ein paar Minuten miteinander geredet, und er hat mir ein Glas Wein gegeben, das mit irgendeiner Droge versetzt war.« »Und woran können Sie sich danach erinnern?« »Ich - ich bin in Chicago aufgewacht.« Ashleys Miene veränderte sich. Im nächsten Moment ergriff Toni das Wort. »Willst du wissen, wie es wirklich gewesen war .« »Erzählen Sie es mir, Toni.« Dennis Tibble nahm die Weinflasche und sagte: »Machen wir’s uns gemütlich.« Er wollte sie ins Schlafzimmer führen. »Dennis - ich möchte nicht -« Und dann waren sie im Schlafzimmer, und er zog sie aus. »Ich weiß genau, was du möchtest, Kleines. Du möchtest mit mir vögeln. Deswegen bist du doch hergekommen.« Sie versuchte sich loszureißen. »Hör auf, Dennis.« »Erst wenn ich dir ’s besorgt habe, denn deswegen bist du doch hier. Das wird dir gefallen, Kleines.« Er stieß sie aufs Bett, hielt sie fest und schob ihr die Hand zwischen die Beine. Es war die Stimme ihres Vaters. »Das wird dir gefallen, Kleines.« Und dann drang er in sie ein, immer wieder, und sie schrie innerlich auf. »Nein, Vater. Hör auf!« Und dann packte sie eine unsägliche Wut. Sie sah die Weinflasche. Sie griff danach, zerschlug sie an der Nachttischkante und rammte ihm die spitzen Zacken in den Rücken. Er schrie und bäumte sich auf, doch sie hielt ihn fest und stieß ihm den abgebrochenen Flaschenhals in den Leib. Sie sah zu, wie er zu Boden rollte. »Hör auf«, wimmerte er. »Versprichst du, daß du so was nie wieder machst? Tja, gehen wir lieber auf Nummer Sicher.« Sie packte die zerbrochene Flasche und nahm sich seinen Unterleib vor. Dr. Keller schwieg einen Moment. »Was haben Sie danach getan, Toni?« »Ich wollte lieber abhauen, bevor die Polizei anrückt. Ich muß zugeben, daß ich ziemlich aufgekratzt war. Ich wollte raus aus diesem langweiligen Leben, das Ashley geführt hat, und weil ich in Chicago einen Freund hatte, hab’ ich beschlossen, einfach dorthin zu fahren. Leider war er nicht daheim, deshalb hab’ ich einen kleinen Einkaufsbummel gemacht, ein paar Bars aufgesucht und mich prächtig amüsiert.« »Was ist danach geschehen?« »Ich hab’ mir ein Hotel gesucht und bin eingeschlafen.« Sie zuckte die Achseln. »Danach war Ashley wieder am Zug.« Langsam kam sie zu sich, und sie wußte sofort, daß irgend etwas scheußlich schiefgegangen war. Sie kam sich völlig benebelt vor, so als wäre sie unter Drogen gesetzt worden. Ashley blickte sich um und bekam es mit der Angst zu tun. Sie lag splitternackt in einem fremden Bett, in einem billigen Hotelzimmer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Sie richtete sich auf und bekam prompt hämmernde Kopfschmerzen. Sie stand auf, ging in das kleine Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Sie ließ das heiße Wasser über sich strömen und versuchte all den Schmutz wegzuspülen, der an ihr haftete. Und wenn er sie geschwängert hatte? Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr übel. Ashley stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und ging zum Kleiderschrank. In dem Schrank hing nur ein Minirock aus schwarzem Leder, dazu ein hautenges, nuttig wirkendes Oberteil und ein Paar hohe Stöckelschuhe. Sie ekelte sich vor diesem Zeug, doch etwas anderes hatte sie nicht. Sie zog sich rasch an und betrachtete sich kurz im Spiegel. Sie sah aus wie eine Prostituierte. »Vater, ich -« »Was ist los?« »Ich bin in Chicago und -« »Was machst du denn in Chicago?« »Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Ich brauche ein Flugticket nach San Jose. Ich habe kein Geld dabei. Kannst du mir helfen?« »Selbstverständlich. Warte einen Moment. Um zehn Uhr vierzig geht eine Maschine der American Airlines ab O ’Hare. Flugnummer 407. Am Abfertigungsschalter liegt ein Ticket für dich bereit.« »Alette, hören Sie mich? Alette.« »Schon da, Dr. Keller.« »Ich möchte mit Ihnen über Richard Melton sprechen. Sie waren doch mit ihm befreundet, nicht wahr?« »Ja. Er war sehr . simpatico. Ich war in ihn verliebt.« »War er auch in Sie verliebt?« »Ja, ich glaube schon. Er war Künstler. Wir sind zusammen in die Museen gegangen und haben uns all die wunderbaren Bilder angesehen. Wenn ich mit Richard zusammen war, bin ich mir so . so lebendig vorgekommen. Ich glaube, wir hätten eines Tages geheiratet, wenn ihn nicht jemand umgebracht hätte.« »Erzählen Sie mir von Ihrem letzten Beisammensein.« »Als wir aus dem Museum kamen, sagte Richard: >Mein Wohnungsgenosse ist heute abend auf einer Party. Wollen wir nicht zu mir gehen? Ich möchte Ihnen ein paar Bilder zeigen.<« »Noch nicht, Richard.« »Ganz wie Sie wollen. Sehen wir uns nächstes Wochenende wieder?« »Ja.« »Anschließend bin ich weggefahren«, sagte Alette. »Und das war das letzte Mal, daß ich -« Dr. Keller sah, wie ihr Gesicht auf einmal lebhafter wurde. »Das bildet sie sich ein«, sagte Toni. »Aber so war es nicht.« »Wie war es denn?« fragte Dr. Keller. Sie kam mit zu seiner Wohnung in der Fell Street. Sie war klein, aber wunderschön, vor allem durch Richards Bilder. »Dadurch wird das Zimmer richtig lebendig, Richard.« »Vielen Dank, Alette.« Er nahm sie in die Arme. »Ich möchte mit dir schlafen. Du bist so schön.« Du bist so schön, sagte ihr Vater. Und sie erstarrte. Weil sie wußte, daß jetzt etwas Schreckliches geschehen würde. Sie lag nackt auf dem Bett, und spürte wieder den nur zu vertrauten Schmerz, als er in sie eindrang, sie entzweiriß. »Nein!« schrie sie. »Hör auf, Vater! Hör auf!« Und dann überkam sie wiederum eine aberwitzige Raserei. Sie wußte nicht mehr, woher sie das Messer hatte, doch sie stach immer wieder auf ihn ein und brüllte ihn an: »Ich habe gesagt, du sollst aufhören! Hör auf!« Ashley wand sich schreiend im Sessel. »Ist ja gut, Ashley«, sagte Dr. Keller. »Sie sind in Sicherheit. Wenn ich bis fünf gezählt habe, werden Sie aufwachen.« Ashley kam zu sich. Sie zitterte am ganzen Körper. »Ist alles in Ordnung?« »Toni hat mir von Richard Melton erzählt. Er wollte mit Ihnen schlafen. Sie dachten, es wäre Ihr Vater, und deshalb -« Sie schlug die Hände über die Ohren. »Ich will es nicht mehr hören!« Dr. Keller suchte Otto Lewison auf. »Ich glaube, wir haben endlich den Durchbruch geschafft. Für Ashley ist das sehr schmerzlich, aber wir sind fast durch. Wir müssen nur noch zwei Mordfälle rekonstruieren.« »Und dann?« »Dann werde ich Ashley, Toni und Alette miteinander bekannt machen.« 27 »Toni? Toni, hören Sie mich?« Dr. Keller sah, wie sich Ash-leys Gesichtsausdruck veränderte. »Ich höre dich, Doktorchen.« »Wir sollten uns über Jean Claude Parent unterhalten.« »Mir hätte von vornherein klar sein müssen, daß der viel zu gut war, um echt zu sein.« »Was soll das heißen?« »Am Anfang ist er mir vorgekommen wie ein richtiger Gentleman. Er ist jeden Tag mit mir ausgegangen, und es hat einen Riesenspaß gemacht. Ich dachte, er wäre anders als die andern. Aber er wollte auch bloß Sex.« »Aha.« »Er hat mir einen herrlichen Ring geschenkt, und vermutlich dachte er, damit hätte er mich am Wickel. Ich bin mit ihm nach Hause gegangen.« Es war ein wunderschönes Haus, einstöckig, aus roten Ziegeln gebaut, mit lauter Antiquitäten eingerichtet. »Das ist ja hinreißend.« »Ich möchte dir noch etwas Besonderes zeigen. Oben, im Schlafzimmer.« Und wie ohnmächtig ließ sie sich nach oben führen. Dann waren sie im Schlafzimmer, und er nahm sie in die Arme und flüsterte: »Zieh dich aus.« »Ich will nicht -« »Doch, du willst. Wir wollen es alle beide.« Er zog sie rasch aus, bettete sie hin und legte sich auf sie. »Nein«, stöhnte sie. »Bitte nicht, Vater!« Doch er kümmerte sich nicht darum. Immer wieder stieß er in sie hinein, bis er plötzlich aufkeuchte und liegenblieb. »Du bist wunderbar«, sagte er. Und dann brach der Haß wieder aus ihr heraus. Sie schnappte sich den scharfen Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag, und stieß ihn in seine Brust, holte aus und stach zu, immer wieder. »So was tust du keiner mehr an.« Sie nahm sich seinen Unterleib vor. Hinterher duschte sie in aller Ruhe, zog sich an und begab sich in ihr Hotel. »Ashley ...« Ashleys Gesicht veränderte sich. »Wachen Sie auf.« Ashley kam langsam zu sich. Sie schaute Dr. Keller an und sagte: »Schon wieder Toni?« »Ja. Sie hat Jean Claude über das Internet kennengelernt. Als Sie in Quebec waren, Ashley, ist Ihnen da mitunter das Zeitgefühl abhanden gekommen? Könnte es sein, daß manchmal etliche Stunden oder gar Tage vergangen waren, ohne daß Sie wußten, was Sie in dieser Zeit getan haben?« Sie nickte nachdenklich. »Ja. Das - das ist öfter passiert.« »Genau da hat Toni sich durchgesetzt.« »Und dann hat sie - dann hat sie auch -?« »Ja.« Die nächsten paar Monate verliefen mehr oder weniger ereignislos. Nachmittags hörte Dr. Keller zu, wenn Toni Klavier spielte und sang, oder er ging in den Garten und schaute Alette beim Malen über die Schulter. Über einen Mordfall mußten sie noch sprechen, aber er wollte, daß Ashley so gelöst wie möglich war, bevor er damit anfing. Fünf Jahre waren jetzt vergangen, seit sie in die Klinik gekommen war. Sie ist beinahe geheilt, dachte Dr. Keller. An einem Montag morgen ließ er Ashley zu sich kommen. Sie war blaß im Gesicht, als sie in sein Büro kam, so als wüßte sie, was ihr bevorstand. »Guten Morgen, Ashley.« »Guten Morgen, Gilbert.« »Wie fühlen Sie sich?« »Ich bin ein bißchen nervös. Das ist der letzte Fall, nicht?« »Ja. Sprechen wir über Deputy Sam Blake. Weshalb ist er in Ihrer Wohnung gewesen?« »Ich hatte ihn gebeten, zu mir zu kommen. Jemand hatte auf meinen Badezimmerspiegel geschrieben: DU WIRST STERBEN. Ich wußte nicht, was ich machen soll. Ich dachte, jemand will mich umbringen. Ich habe bei der Polizei angerufen, und Deputy Blake kam vorbei. Er war sehr verständnisvoll.« »Haben Sie ihn gebeten, bei Ihnen zu bleiben?« »Ja. Ich hatte Angst davor, allein zu sein. Er hat sich bereit erklärt, über Nacht dazubleiben. Und am nächsten Morgen wollte er dafür sorgen, daß ich rund um die Uhr bewacht werde. Ich wollte auf der Couch schlafen und habe ihm angeboten, in meinem Schlafzimmer zu übernachten. Aber er wollte sich lieber auf der Couch hinlegen. Ich weiß noch, daß er die Fenster überprüft und sich davon überzeugt hat, daß sie verschlossen waren, und daß er den Schlüssel in der Wohnungstür zweimal umgedreht hat. Seine Waffe lag auf dem Tisch neben der Couch. Dann habe ich gute Nacht gesagt, bin ins Schlafzimmer gegangen und habe die Tür geschlossen.« »Und was ist dann geschehen?« »Ich - ich weiß nur, daß ich aufgewacht bin, weil unten in der Gasse jemand geschrien hat. Dann kam der Sheriff und hat mir berichtet, daß man Deputy Blake tot aufgefunden hatte.« Sie stockte. Ihr Gesicht war bleich. »Na schön. Ich werde Sie jetzt hypnotisieren. Entspannen Sie sich einfach. Schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich ...« Es dauerte zehn Minuten. »Toni ...«, sagte Dr. Keller. »Schon da. Du willst wissen, was tatsächlich passiert ist, was? Ashley war einfach blöde, als sie ihn aufgefordert hat, über Nacht bei ihr zu bleiben. Ich hätte ihr gleich sagen können, was der macht.« Er hörte einen Schrei, der offenbar aus dem Schlafzimmer kam, fuhr von der Couch hoch und griff nach seiner Waffe. Raschen Schrittes ging er zur Schlafzimmertür und lauschte. Alles still. Er hatte es sich nur eingebildet. Als er sich umdrehte und weggehen wollte, hörte er es wieder. Er stieß die Tür auf und hob die Waffe. Ashley lag nackt auf dem Bett und schlief. Außer ihr war niemand im Zimmer. Sie stöhnte leise vor sich hin. Er trat neben das Bett. Sie sah hinreißend aus, wie sie dalag, eingerollt wie ein Fötus. Wieder stöhnte sie, gefangen in einem schrecklichen Alptraum. Er wollte sie nur trösten, sie in die Arme nehmen und festhalten. Er legte sich neben sie und zog sie sanft an sich, und dann spürte er die Hitze, die ihr Leib ausstrahlte, und wurde erregt. Sie wachte auf, als sie seine Stimme hörte. »Ist ja schon gut. Sie sind in Sicherheit.« Und dann war sein Mund über ihr, und er schob ihre Beine auseinander und drang in sie ein. Und sie schrie auf: »Nein, Vater!« Doch er bewegte sich immer schneller, wie von einem Ur-trieb gepackt, und da überkam sie unbändiger Rachedurst. Sie ergriff das Messer, das in der Schublade ihres Nachtkästchens lag, und hieb auf ihn ein. »Was haben Sie getan, nachdem Sie ihn getötet hatten?« »Ich habe ihn in die Bettlaken gewickelt, zum Fahrstuhl gezerrt und durch die Tiefgarage zu der Gasse hinter dem Haus geschleift.« ». und dann«, erklärte Dr. Keller Ashley, »hat Toni die Leiche in die Bettlaken gewickelt, zum Fahrstuhl gezerrt und durch die Tiefgarage zu der Gasse hinter dem Haus geschleift.« Ashley saß mit totenblasser Miene da. »Sie ist eine - ich bin eine Bestie.« »Nein, Ashley«, versetzte Gilbert Keller. »Sie müssen immer bedenken, daß Toni eine Ausgeburt Ihrer Qualen ist, jemand, der Sie beschützt. Das gleiche gilt für Alette. Es wird Zeit, daß wir die Sache zu einem Abschluß bringen. Ich möchte Sie mit ihnen bekannt machen. Das ist der nächste Schritt auf dem Weg zu Ihrer Genesung.« Ashley hatte die Augen zusammengekniffen. »Na schön. Wann wollen - wann wollen wir damit anfangen?« »Morgen früh.« Ashley war unter Hypnose. Dr. Keller fing mit Toni an. »Toni, ich möchte, daß Sie und Alette mit Ashley sprechen.« »Glaubst du ehrlich, daß sie mit uns klarkommt?« »Ich glaube schon.« »Na schön, Doktorchen. Wenn du meinst.« »Alette, sind Sie bereit, Ashley kennenzulernen?« »Wenn Toni einverstanden ist.« »Klar doch, Alette. Wird ja auch Zeit.« Dr. Keller atmete tief durch. »Ashley«, sagte er dann, »ich möchte, daß Sie Toni begrüßen.« Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann kam ein zaghaftes »Hallo, Toni .« »Hallo.« »Ashley, sagen Sie hallo zu Alette.« »Hallo, Alette ...« »Hallo, Ashley ...« Dr. Keller seufzte erleichtert auf. »Ich möchte, daß ihr euch miteinander bekannt macht. Ihr habt die gleichen Traumata erlitten. Dadurch seid ihr voneinander getrennt worden. Doch es gibt keinen Grund mehr für diese Trennung. Ihr werdet wieder eins werden, eine gesunde Person. Es ist ein weiter Weg, aber ihr habt bereits einen Teil hinter euch. Ich versichere euch, das Schwierigste ist vorüber.« Von da an kamen sie mit der Behandlung rasch voran. Ashley und ihre beiden anderen Persönlichkeiten unterhielten sich jeden Tag miteinander. »Ich mußte dich doch beschützen«, erklärte Toni. »Ich nehme an, ich habe diese Männer umgebracht, weil ich jedesmal Vater vor mir gesehen habe und was er dir angetan hat.« »Ich wollte dich auch beschützen«, sagte Alette. »Ich - ich weiß das zu schätzen. Ich bin euch beiden dankbar.« Ashley wandte sich an Dr. Keller. »Eigentlich bin das nur ich, nicht wahr?« meinte sie trocken. »Ich führe Selbstgespräche.« »Sie sprechen mit zwei anderen Wesen, die ein Teil Ihrer Persönlichkeit sind«, stellte er behutsam richtig. »Es wird Zeit, daß ihr drei zueinanderfindet und wieder eine Einheit werdet.« Ashley blickte ihn an und lächelte. »Ich bin bereit.« An diesem Nachmittag suchte Dr. Keller Otto Lewison auf. »Die Berichte klingen ja sehr erfreulich, Gilbert«, sagte Dr. Lewison. Dr. Keller nickte. »Ashley hat bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Ich glaube, in ein paar Monaten können wir sie in ambulante Behandlung entlassen.« »Das ist ja hervorragend. Meinen Glückwunsch.« Ich werde sie vermissen, dachte Dr. Keller. Ich werde sie schrecklich vermissen. Als Ashley an diesem Nachmittag in den Aufenthaltsraum kam, fiel ihr Blick auf die Westport News, die jemand dort liegengelassen hatte. Auf der Titelseite befand sich ein Foto ihres Vaters zusammen mit Victoria Aniston und Katrina. Der Artikel darunter begann mit den Zeilen: »Dr. Steven Patterson und die aus einer alteingesessenen Familie stammende Victoria Aniston haben ihre bevorstehende Vermählung bekanntgegeben. Wie in diesem Zusammenhang zu erfahren war, wird Dr. Patterson demnächst am St. Johns Hospital in Manhattan tätig sein. Er und seine zukünftige Gemahlin haben ein Haus auf Long Island gekauft, in dem sie mit Miss Anistons dreijähriger Tochter aus erster Ehe .« Ashley konnte nicht mehr weiterlesen. Mit wutverzerrtem Gesicht blickte sie auf. »Ich bring’ den Dreckskerl um«, schrie Toni. »Ich bringe ihn um!« Sie war völlig außer sich. Sie mußten sie in eine Gummizelle bringen und ihr Hand- und Fußfesseln anlegen, damit sie sich nichts antun konnte. Doch die Pfleger, die sie füttern wollten, mußten dennoch aufpassen, daß sie ihr nicht zu nahe kamen. Sie hatte sich Ashley jetzt völlig unterworfen. »Dr. Salem möchte Sie am Telefon sprechen, Mr. Singer.« »Gut.« Verdutzt griff David nach dem Hörer. Wieso Dr. Salem ihn wohl anrief? Es war Jahre her, seit sie zum letztenmal miteinander zu tun hatten. »Royce.« »Guten Morgen, David. Ich habe eine interessante Neuigkeit für Sie. Es geht um Ashley Patterson.« David empfand plötzlich Unruhe. »Was ist mit ihr?« »Erinnern Sie sich, wie wir uns bemüht haben herauszubekommen, welches Trauma ihren Zustand verursachte, und nichts finden konnten?« David erinnerte sich nur zu gut daran. Schließlich war das eine der Schwächen ihrer Verteidigung gewesen. »Ja.« »Nun, ich habe gerade erfahren, was es war. Mein Freund Dr. Lewison, der Leiter des Conneticut Psychiatrie Hospital, hat mich angerufen. Das fehlende Puzzlestück heißt Dr. Steven Patterson. Er war es, der Ashley als Kind sexuell mißbraucht hat.« »Was?« fragte David ungläubig. »Dr. Lewison hat es soeben erfahren.« David saß da, während Dr. Salem weitersprach, doch in Gedanken war er ganz woanders. Er erinnerte sich an Dr. Pattersons Worte: »Sie sind der einzige, dem ich vertraue, David. Meine Tochter ist mein ein und alles. Sie müssen ihr das Leben retten ... Ich möchte, daß Sie Ashley verteidigen, und ich möchte nicht, daß jemand, anders hinzugezogen wird.« Nun war David auch klar, wieso Dr. Patterson darauf bestanden hatte, daß er Ashley allein vertrat. Der Arzt war sich sicher gewesen, daß David ihn decken würde, wenn er herausbekäme, was er getan hatte. Dr. Patterson hatte sich zwischen seiner Tochter und seinem Ruf entscheiden müssen, und er hatte seinen Ruf gewählt. So ein Mistkerl! »Danke, Royce.« »Laß mich hier raus, du Mistkerl«, schrie sie, als sie Dr. Keller sah. »Auf der Stelle.« »Wir lassen Sie wieder heraus«, sagte Dr. Keller besänftigend. »Aber erst müssen Sie sich beruhigen.« »Ich bin völlig ruhig«, brüllte Toni. »Laß mich raus!« Dr. Keller ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. »Toni«, sagte er, »als Sie das Foto von Ihrem Vater sahen, sagten Sie, Sie wollten ihm etwas zuleide tun und -« »Du lügst ja! Ich habe gesagt, ich bring’ ihn um.« »Es hat schon genug Tote gegeben. Sie wollen niemanden mehr erstechen.« »Ich will ihn ja gar nicht erstechen. Hast du schon mal was von Salzsäure gehört? Die frißt sich überall durch, auch durch die Haut. Wart’s mal ab, bis ich -« »An so etwas dürfen Sie gar nicht denken.« »Recht hast du. Feuer! Feuer ist viel besser. Dann muß er nicht warten, bis er in der Hölle schmort. Irgendwie krieg’ ich schon hin, daß ich nicht geschnappt werde, wenn -« »Toni, vergessen Sie es.« »Na schön. Ich kann mir ja noch was Besseres einfallen lassen.« Er musterte sie einen Moment lang verbittert. »Ich dachte, das hätten wir hinter uns. Warum sind Sie so wütend?« »Weißt du das denn nicht? Du bist doch angeblich so ein toller Doktor. Er heiratet eine Frau, die eine dreijährige Tochter hat. Was meinst du wohl, was er mit der Kleinen macht, mein hochgerühmtes Doktorchen? Ich sag’s dir. Das gleiche wie mit uns. Und das werde ich verhindern.« »Ich dachte, all diesen Haß wären wir los.« »Willst du mal wissen, was Haß ist?« Es goß in Strömen. Unentwegt pladderten die Regentropfen auf das Autodach. Sie blicke zu ihrer Mutter, die am Lenkrad saß und mit verkniffenen Augen nach vorn, auf die Straße schaute, und sie lächelte gut gelaunt und stimmte ein Lied an. »Will ich in mein Gärtlein gehn, will mein Zwiebel gießen -« Ihre Mutter drehte sich um und schrie: »Halt den Mund. Ich habe dir doch gesagt, daß ich das Lied nicht ausstehen kann. Du reizt mich bis aufs Blut, du kleine -« Danach lief alles wie in Zeitlupe ab. Die Kurve, die plötzlich vor ihnen auftauchte, der ausbrechende Wagen, der von der Straße abkam, auf den Baum zuraste. Sie wurde beim Aufprall aus dem Auto geschleudert. Sie war benommen, aber nicht weiter verletzt. Sie rappelte sich auf. Sie hörte die Schreie ihrer Mutter, die im Wagen eingeklemmt war. »Hol mich hier raus! Hilf mir! Hilf mir!« Und sie stand da und wartete, bis der Wagen in Flammen aufging. »Von wegen Haß. Willst du noch mehr hören?« »Wir müssen einen einstimmigen Beschluß fassen«, sagte Walter Manning. »Meine Tochter ist Künstlerin von Beruf, keine Hobbymalerin. Meine Tochter wollte uns damit einen Gefallen tun. Wir können ihr Bild nicht ablehnen.« Sie saß in ihrem Wagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Sie beobachtete, wie Walter Manning die Straße überqueren und zu der Garage gehen wollte, in der er immer sein Auto abstellte. Sie legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch. Im letzten Moment hörte er den aufheulenden Motor und drehte sich um. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, als ihn der Wagen erfaßte und zur Seite schleuderte. Danach fuhr sie einfach weiter, als ob nichts geschehen wäre. Es gab keinerlei Zeugen. Gott war auf ihrer Seite. »Das ist Haß, Doktorchen! Echter Haß!« Gilbert Keller hörte sich ihre Geschichte an. Er war entsetzt und völlig verstört über die kaltblütige Bosheit, die aus ihren Worten sprach. Er sagte alle weiteren Termine an diesem Tag ab. Er wollte von niemandem behelligt werden. Als Dr. Keller am nächsten Morgen in die Gummizelle kam, hatte er es mit Alette zu tun. »Weshalb tun Sie mir so was an, Dr. Keller?« fragte sie. »Lassen Sie mich hier raus.« »Gewiß doch«, versicherte ihr Dr. Keller. »Erzählen Sie mir etwas über Toni. Was hat sie Ihnen gesagt?« »Sie hat gesagt, daß wir zusehen müssen, wie wir von hier wegkommen, damit wir Vater umbringen können.« Toni schaltete sich ein. »Morgen, Doktorchen. Uns geht’s wieder bestens. Wieso läßt du uns nicht raus?« Dr. Keller sah sie an. In ihren Augen stand die blanke Mordlust. Dr. Otto Lewison seufzte. »Tut mir furchtbar leid, Gilbert. Zumal sich alles so gut angelassen hat.« »Derzeit komme ich überhaupt nicht an Ashley ran.« »Was vermutlich heißt, daß wir wieder von vorne anfangen können.« Dr. Keller dachte einen Moment lang nach. »Nicht unbedingt, Otto. Wir waren schon so weit, daß sich alle drei miteinander bekannt gemacht haben. Das war der entscheidende Schritt. Jetzt müssen wir sie wieder zusammenführen. Dazu wird mir schon noch etwas einfallen.« »Diese verdammte Zeitung -« »Eigentlich sollten wir froh sein, daß Toni den Artikel gelesen hat.« Otto Lewison schaute ihn verdutzt an. »Froh?« »Ja. Weil noch tief verwurzelte Haßgefühle in ihr stecken. Jetzt wissen wir darüber Bescheid und können dementsprechend daran arbeiten. Ich möchte etwas ausprobieren. Wenn es klappt, stehen wir gut da. Wenn nicht« - er stockte einen Moment, ehe er leise fortfuhr -, »dann muß Ashley wohl bis an ihr Lebensende in einer geschlossenen Anstalt verwahrt werden.« »Was haben Sie vor?« »Meiner Meinung nach sollte sie ihren Vater in nächster Zeit nicht zu Gesicht bekommen. Aber ich möchte, daß wir einen Ausschnittdienst engagieren, der uns sämtliche Artikel zukommen läßt, die über Dr. Patterson erscheinen.« Otto Lewison schaute ihn blinzelnd an. »Was bezwecken Sie damit?« »Ich möchte sie Toni vorlegen. Irgendwann muß sich ihr Haß doch selbst verzehren. Und auf die Art kann ich es überwachen und jederzeit eingreifen.« »Das könnte eine ganze Weile dauern, Gilbert.« »Mindestens ein Jahr, wenn nicht länger. Aber es ist die einzige Chance, die Ashley hat.« Fünf Tage später kam Ashley wieder zu sich. »Guten Morgen, Gilbert«, sagte sie, als Dr. Keller in die Gummizelle kam. »Tut mir leid, daß all das passiert ist.« »Ich bin froh darum, Ashley. Wir wollten doch offen sein, was unsere Gefühle angeht.« Er nickte einem Pfleger zu, der ihr daraufhin die Fesseln abnahm. Ashley stand auf und rieb sich die Handgelenke. »Angenehm war das nicht gerade«, sagte sie. Sie gingen hinaus auf den Korridor. »Toni ist ziemlich sauer.« »Ja, aber sie wird darüber hinwegkommen. Ich habe nämlich folgendes vor .« Jeden Monat erschienen drei, vier Artikel über Dr. Patterson. Einmal hieß es: »Allem Vernehmen nach steht eine große Hochzeitsfeier ins Haus, wenn Dr. Steven Patterson am kommenden Freitag Victoria Aniston heiratet. Zahlreiche Kollegen von Dr. Patterson werden sich einfinden, um an den Feierlichkeiten .« Toni geriet außer sich, als Dr. Keller ihr den Artikel zeigte. »Der wird seine Ehe nicht lange genießen.« »Wie kommen Sie darauf, Toni?« »Weil er bald tot ist.« »Wie bekannt wurde, hat Dr. Steven Patterson im St. Johns Hospital gekündigt. Er wird künftig Chefarzt für Herzchirurgie am Manhattan Methodist Hospital .« »Damit er die kleinen Mädchen dort vergewaltigen kann«, schrie Toni. »Dr. Steven Patterson wurde aufgrund seiner medizinischen Forschungen der Lasker-Preis zuerkannt. Die Verleihung findet anläßlich eines Empfangs im Weißen Haus statt .« »Der Dreckskerl gehört aufgehängt!« schrie Toni. Gilbert Keller sorgte dafür, daß Toni sämtliche Pressemitteilungen über ihren Vater zu lesen bekam. Und im Laufe der Zeit konnte sie immer besser damit umgehen. Tonis unbändiger Haß schien allmählich nachzulassen. Die grenzenlose Wut schlug mit der Zeit in bloßen Unmut um, und am Ende hatte sie sich resigniert damit abgefunden. Es war nur eine kurze Mitteilung im Immobilienteil der Zeitung. »Dr. Steven Patterson und seine frisch angetraute Gemahlin haben sich in Manhattan häuslich niedergelassen, doch sie wollen sich ein Häuschen in den Hamptons zulegen, in dem sie im Sommer gemeinsam mit ihrer Tochter Katrina den Urlaub verbringen können.« Toni schluchzte laut auf. »Wie kann er uns das bloß antun?« »Haben Sie das Gefühl, daß das kleine Mädchen Ihren Platz eingenommen hat, Toni?« »Ich weiß es nicht. Ich - ich bin ein bißchen durcheinander.« Ein weiteres Jahr verging. Ashley ging dreimal pro Woche zur Therapie. Alette saß fast jeden Nachmittag im Garten und malte, aber Toni wollte weder Klavier spielen noch singen. Kurz vor Weihnachten legte Dr. Keller Toni einen weiteren Zeitungsausschnitt vor. Auf dem Foto waren ihr Vater, Victoria und Katrina abgebildet. Darunter stand: »Die Pattersons feiern das Weihnachtsfest in ihrem Häuschen in den Hamptons.« »Wir haben Weihnachten immer zusammen gefeiert«, sagte Toni wehmütig. »Er hat mir immer wunderbare Sachen geschenkt.« Sie schaute Dr. Keller an. »Er war nicht nur schlecht. Bis auf - du weißt schon - war er ein guter Vater. Ich glaube, er hat mich wirklich geliebt.« Es war ein erster Hoffnungsschimmer. Eines Tages kam Dr. Keller am Aufenthaltsraum vorbei, als Toni gerade am Klavier saß und vor sich hin sang. Überrascht trat er ein und sah ihr zu. Sie ging völlig in der Musik auf. Am nächsten Tag sprach Dr. Keller Toni darauf an. »Ihr Vater ist nicht mehr der Jüngste. Was glauben Sie, wie Ihnen zumute wäre, wenn er stirbt?« »Ich - ich möchte nicht, daß er stirbt. Ich weiß, daß ich allerlei Unsinn erzählt habe, aber das hab’ ich doch bloß gesagt, weil ich so wütend war.« »Aber jetzt sind Sie nicht mehr wütend?« Sie dachte kurz nach. »Ich bin nicht wütend, ich bin verletzt. Ich glaube, Sie haben recht. Ich hatte das Gefühl, daß die Kleine unseren Platz eingenommen hat.« Sie blickte auf und schaute Dr. Keller an. »Ich war durcheinander. Aber mein Vater hat ein Recht darauf, sein eigenes Leben zu führen, und Ashley ebenso.« Dr. Keller lächelte. Damit wären wir wieder im Lot. Die drei unterhielten sich jetzt immer offener miteinander. »Ashley«, sagte Dr. Keller, »Sie haben Toni und Alette gebraucht, weil Sie den Schmerz nicht ertragen konnten. Was empfinden Sie nun für Ihren Vater?« Sie schwieg einen Moment. »Ich kann nie vergessen, was er mir angetan hat«, sagte sie dann langsam, »aber ich kann ihm vergeben. Ich möchte die Vergangenheit hinter mir lassen und mich ganz der Zukunft zuwenden.« »Dazu müssen wir Sie alle wieder zu einer Einheit zusammenfügen. Wie stehen Sie dazu, Alette?« »Wenn ich Ashley bin«, sagte Alette, »kann ich dann trotzdem noch malen?« »Natürlich können Sie das.« »Nun denn - von mir aus.« »Toni?« »Kann ich hinterher noch singen und Klavier spielen?« »Ja«, sagte er. »Na dann - wieso nicht?« »Ashley?« »Ich bin dazu bereit, daß wir eine Einheit werden. Ich - ich möchte ihnen danken, daß sie mir geholfen haben, als ich sie brauchte.« »War mir ein Vergnügen, Süße.« »Miniera, anche«, sagte Alette. Es war soweit. Jetzt kam der letzte Schritt: die Integration. »In Ordnung. Ich werde Sie jetzt hypnotisieren, Ashley. Ich möchte, daß Sie sich von Toni und Alette verabschieden.« Ashley atmete tief durch. »Leb wohl Toni. Leb wohl, Alette.« »Leb wohl, Ashley.« »Paß auf dich auf, Ashley.« Zehn Minuten später befand sich Ashley in tiefer Hypnose. »Ashley, Sie brauchen sich vor nichts mehr zu fürchten. Sie haben Ihr Leiden hinter sich. Sie brauchen niemanden mehr, der sie beschützt. Sie sind in der Lage, allein zurechtzukommen, ohne fremde Hilfe, und Sie brauchen sich nicht mehr gegen schlechte Erfahrungen abzuschotten. Was auch passiert, Sie können es verkraften. Pflichten Sie mir bei?« »Ja. Ich bin bereit, mich der Zukunft zu stellen.« »Gut. Toni?« Keine Antwort. »Toni?« Keine Antwort. »Alette?« Schweigen. »Alette?« Schweigen. »Sie sind weg, Ashley. Sie sind jetzt wieder eine Einheit. Damit sind Sie geheilt.« Er sah, wie Ashley aufstrahlte. »Wenn ich bis drei zähle, werden Sie aufwachen. Eins ... zwei . drei .« Ashley schlug die Augen auf und lächelte ihn glückselig an. »Es - es ist soweit, nicht?« Er nickte. »Ja.« Sie war begeistert. »Ich bin frei. Oh, ich danke Ihnen, Gilbert! Ich - ich habe das Gefühl, als ob ein schwarzer Schleier von mir genommen wäre.« Dr. Keller ergriff ihre Hand. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue. In den nächsten Monaten werden wir noch ein paar Untersuchungen vornehmen, aber wenn sie so verlaufen, wie ich glaube, nun, dann werden wir Sie nach Hause schicken. Ich werde dafür sorgen, daß Sie ambulant weiterbehandelt werden, wo immer Sie sich niederlassen wollen.« Ashley nickte. Sie war so aufgewühlt, daß sie kein einziges Wort hervorbrachte. 28 Im Laufe der nächsten Monate ließ Otto Lewison Ashley von drei Psychiatern untersuchen. Sie wandten sowohl Hypnothe-rapie als auch Natriumamytal an. »Hallo, Ashley, ich bin Dr. Montfort. Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen. Wie fühlen Sie sich?« »Ich fühle mich wunderbar, Doktor. Es ist, als hätte ich gerade eine lange Krankheit hinter mir.« »Halten Sie sich für einen schlechten Menschen?« »Nein. Ich weiß, daß einige schlimme Sachen passiert sind, aber ich glaube nicht, daß ich dafür verantwortlich bin.« »Hassen Sie jemanden?« »Nein.« »Was ist mit Ihrem Vater? Hassen Sie den?« »Ich habe ihn gehaßt. Aber jetzt nicht mehr. Ich glaube, er konnte sich nicht anders verhalten. Ich hoffe nur, daß es ihm jetzt gutgeht.« »Möchten Sie ihn wiedersehen?« »Ich glaube, das sollte ich lieber bleibenlassen. Er führt sein eigenes Leben. Und ich möchte ein neues Leben anfangen.« »Ashley?« »Ja.« »Ich bin Dr. Vaughn. Ich möchte ein bißchen mit Ihnen plaudern.« »Von mir aus.« »Erinnern Sie sich an Toni und Alette?« »Natürlich. Aber sie sind weg.« »Wie stehen Sie zu ihnen?« »Am Anfang war ich entsetzt, aber jetzt weiß ich, daß ich sie gebraucht habe. Ich bin ihnen dankbar.« »Schlafen Sie nachts gut?« »Ja, jetzt schon.« »Erzählen Sie mir, was Sie träumen.« »Früher hatte ich schreckliche Träume. Ständig hat mich irgend etwas verfolgt. Ich dachte, ich würde ermordet werden.« »Haben Sie diese Träume immer noch?« »Nein. Ich habe jetzt ganz friedliche Träume. Ich sehe leuchtende Farben und fröhliche Menschen. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich wäre im Skiurlaub und würde eine Abfahrt hinunterrasen. Es war wunderbar. Die Kälte macht mir überhaupt nichts mehr aus.« »Wie stehen Sie zu Ihrem Vater?« »Ich möchte, daß er glücklich ist. Genauso glücklich wie ich.« »Ashley.« »Ja.« »Ich bin Dr. Hoelterhoff.« »Wie geht es Ihnen, Doktor?« »Man hat mir nicht gesagt, was für eine Schönheit Sie sind. Halten Sie sich für schön?« »Ich glaube, ich bin ganz attraktiv .« »Ich habe gehört, daß Sie eine hinreißende Stimme haben. Glauben Sie das auch?« »Ich habe keine geschulte Stimme, aber ja -«, sie lachte -, »ich glaube schon, daß ich die richtigen Töne treffen kann.« »Und man hat mir gesagt, daß Sie malen. Sind Sie gut?« »Ja. Ich glaube, für eine Hobbymalerin bin ich ganz gut.« Er musterte sie nachdenklich. »Haben Sie irgendwelche Probleme, über die Sie sprechen möchten?« »Mir fällt nichts ein. Ich werde hier sehr gut behandelt.« »Wie ist Ihnen bei dem Gedanken zumute, daß Sie die Klinik verlassen und wieder hinaus in die Welt kommen?« »Ich habe viel darüber nachgedacht. Es macht mir ein bißchen angst, aber gleichzeitig ist es aufregend.« »Glauben Sie, Sie hätten draußen Angst?« »Nein. Ich möchte mir eine neue Existenz aufbauen. Ich kenne mich mit Computern aus. Bei der Firma, bei der ich gearbeitet habe, komme ich nicht mehr unter, aber ich bin davon überzeugt, daß ich bei einer anderen Firma Arbeit finde.« Dr. Hoelterhoff nickte. »Besten Dank, Ashley. Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen.« Dr. Montfort, Dr. Vaughn, Dr. Hoelterhoff und Dr. Keller waren in Otto Lewisons Büro versammelt. Er studierte gerade ihre Berichte. Als er fertig war, blickte er zu Dr. Keller auf und lächelte. »Meinen Glückwunsch«, sagte er. »Sämtliche Berichte sind positiv. Sie haben wunderbare Arbeit geleistet.« »Sie ist eine wunderbare Frau. Etwas ganz Besonderes, Otto. Ich bin froh, daß sie wieder ein normales Leben führen kann.« »Ist sie bereit, sich ambulant weiterbehandeln zu lassen, wenn sie von hier weg ist?« »Unbedingt.« Otto Lewison nickte. »Sehr gut. Dann werde ich die Entlassungspapiere in Auftrag geben.« Er wandte sich an die anderen Psychiater. »Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie haben uns sehr geholfen.« 29 Zwei Tage später wurde Ashley in Dr. Lewisons Büro gerufen. Neben dem Leiter der Klinik war auch Dr. Keller anwesend. Ashley war jetzt frei und wollte nach Cupertino zurückkehren, wo inzwischen alles Notwendige in die Wege geleitet worden war, damit sie weiterhin regelmäßig zur Therapie und zu Untersuchungen gehen konnte. »Nun, heute ist es soweit«, sagte Dr. Lewison. »Sind Sie aufgeregt?« »Ich bin aufgeregt«, erwiderte Ashley, »ich habe Angst, ich -ich weiß es nicht. Ich komme mir vor wie ein Vogel, der gerade freigelassen wurde. Ich habe das Gefühl, ich kann fliegen.« Ihr Gesicht glühte. »Ich freue mich, daß Sie uns verlassen, aber - Sie werden mir fehlen«, sagte Dr. Keller. Ashley nahm seine Hand. »Sie werden mir ebenfalls fehlen. Ich weiß nicht, wie ich - wie ich Ihnen jemals danken soll.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Sie haben mir mein Leben wiedergeschenkt.« Sie wandte sich an Dr. Lewison. »Sobald ich wieder in Kalifornien bin, besorge ich mir einen Job bei einer Computerfirma. Ich sage Ihnen Bescheid, wie es weitergeht und wie ich mit der ambulanten Therapie zurechtkomme. Ich möchte sichergehen, daß mir so etwas nicht noch mal passiert.« »Ich glaube, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, beruhigte sie Dr. Lewison. Als sie gegangen war, wandte sich Dr. Lewison an Gilbert Keller. »Das entschädigt einen doch für viele Fälle, bei denen uns kein Erfolg vergönnt war, nicht wahr, Gilbert?« Es war ein sonniger Junitag. Sie ging die Madison Avenue in New York entlang und betrachtete ihre Umgebung mit einem derart strahlenden Lächeln, daß sich die anderen Passanten nach ihr umdrehten. Noch nie war sie so glücklich gewesen. Sie dachte an das herrliche Leben, das vor ihr lag, und an all das, was sie zu tun gedachte. Es hätte ein schlimmes Ende mit mir nehmen können, dachte sie, aber jetzt war alles gut ausgegangen, genauso, wie sie es sich in ihren Gebeten immer gewünscht hatte. Sie ging in die Pennsylvania Station. Es war der belebteste Bahnhof von ganz Amerika, ein reizloses Labyrinth aus stickigen Räumen und endlosen Gängen, durch die sich die Menschenmassen drängten. Und jeder einzelne hat seine eigene Geschichte, dachte sie. Jeder will zu einem anderen Ziel, führt sein eigenes Leben, und jetzt werde auch ich mein eigenes Leben führen. Sie besorgte sich einen Fahrschein aus dem Automaten. Ihr Zug fuhr gerade ein. So ein Glück, dachte sie. Sie stieg ein und setzte sich ans Fenster. Sie war ziemlich aufgeregt, wenn sie nur daran dachte, was vor ihr lag. Mit einem leichten Ruck fuhr der Zug an und wurde dann allmählich schneller. Endlich bin ich auf dem Weg. Und als der Zug Kurs auf die Hamptons nahm, stimmte sie ein leises Lied an. »Will ich in mein Gärtlein gehn, will mein Zwieblein gießen, steht ein bucklicht Männlein da, fängt gleich an zu niesen ...« Nachwort. Anmerkungen des Autors Während der letzten zwanzig Jahre gab es Dutzende von Strafverfahren, in denen der oder die Angeklagte angab, mehrere Persönlichkeiten zu haben. Die Taten, derer man sie anklagte, umfaßten eine große Bandbreite und schlossen Mord, Entführung, Vergewaltigung und Brandstiftung ein. Die multiple Persönlichkeitsstörung (MPS), auch Dissoziative Identitätsstörung (DIS) genannt, ist unter Psychiatern ein strittiges Thema. Manche sind der Ansicht, daß es so etwas nicht gibt. Andererseits liegen zahlreiche Berichte von angesehenen Ärzten, Kliniken und Sozialdiensten vor, die Patienten behandelt haben, die an MPS leiden. In einigen Studien heißt es sogar, daß zwischen fünf und fünfzehn Prozent aller psychiatrischen Patienten davon betroffen sind. Anhand der vom Justizministerium veröffentlichten aktuellen Statistiken läßt sich feststellen, daß ungefähr ein Drittel aller sexuell mißbrauchten Jugendlichen Kinder unter sechs Jahren sind und daß eines von drei Mädchen vor Erreichen des achtzehnten Lebensjahres sexuell mißbraucht wird. In der Mehrzahl aller aktenkundigen Fälle handelt es sich um Inzest zwischen Vater und Tochter. Die Ergebnisse eines in drei Ländern durchgeführten Forschungsprojekts deuten darauf hin, daß etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung von MPS betroffen ist. Dissoziative Störungen werden häufig fehlinterpretiert, und anhand von Studien wurde nachgewiesen, daß Menschen bis zu sieben Jahre mit einer MPS gelebt haben, ehe die richtige Diagnose gestellt wurde. Zwei Drittel aller multiplen Persönlichkeitsstörungen sind übrigens heilbar.